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Achtes Kapitel

Die amtliche Untersuchung der Leiche wurde in feierlicher Stille vollzogen. Mr. Throgmorton war tot, und nichts konnte ihn wieder ins Leben zurückrufen. Dem Schiffer des Bootes wurde kein Tadel ausgesprochen, denn die Nordsee und deren Nebengewässer haben ihre Grillen und Launen, die kein Mensch vorhersehen kann, und die schon so manchem Meeresgast verhängnisvoll geworden sind.

Daß an der Identität des Mr. Throgmorton zu zweifeln sei, wurde nicht angenommen, da hierfür ja jeglicher Grund fehlte. Die Testamentsprüfung wurde einstweilen vertagt, dagegen fand sich der Polizeichef mit seiner Deputation und einem Dolmetscher bei Mr. Weston ein, um das bei dem Leichnam gefundene Geld zu registrieren. Es handelte sich um eine recht beträchtliche Summe, so daß diese Maßnahme der Behörde erforderlich war.

Nach einem kleinen Lunch im Hotel des Ortes zogen die Beamten davon, und Mr. Weston wurde es nunmehr freigestellt, seinen Freund zu begraben.

Die bei dem Verstorbenen gefundene Summe nahm der Polizeichef, nachdem er zweihundert Kronen für die Begräbniskosten an Weston ausgezahlt hatte, an sich; alles in allem belief sich die gefundene Summe auf zwölfhundert Kronen dänischen Geldes.

Mr. Weston in seiner völligen Unkenntnis konnte nichts andres tun als alle Anordnungen hinnehmen und höflich zu der Behörde sein.

Doch gleich nach dem Lunch eilte er zu Nielsen hinauf und klagte ihm seine Not.

»Sehen Sie, Mr. Nielsen,« begann er, »Throgmorton war unser Finanzmann. Das Geld gehörte eigentlich Mrs. Weston, aber da Throgmorton am besten von uns allen mit Geschäftssachen Bescheid wußte, überließen wir alle Geldangelegenheiten ihm. Wir haben nun außer dem Gelde für das Begräbnis nur einige dänische Banknoten bei uns. Was sollen wir nun machen?«

»Am besten wäre es, wenn Sie noch ein wenig warteten und die Sache beim Nachlaßgericht erwähnten. Dann wollen wir sehen, was der Amtsrichter sagen wird. Der beste Weg wäre der, Sie besorgten sich in England eine Legitimation, denn ich glaube nicht, daß der Beamte auf eigne Verantwortung handeln kann.«

Mr. Weston schüttelte den Kopf. »Das ist eine verzweifelte Sache sowohl für Mrs. Weston wie für mich. Mit dem Gelde, das wir haben, kommen wir nicht einmal bis nach Hause.«

Nielsen zog sein Portefeuille hervor. »Mr. Weston,« sagte er, »ich bin bereit, Ihnen das Nötige zu leihen. Ich vermag wohl zu begreifen, daß Sie in einer unangenehmen Klemme sitzen, und da ich Ihnen mein Wort gegeben habe, Ihnen zu helfen ...«

»Dies ginge aber zu weit,« unterbrach ihn Weston, »ich bin Ihnen ja ein völlig Fremder.«

»Nun, ich halte Sie für einen Gentleman, Mr. Weston, und Ihr Wort gilt mir genug. Nur der Form wegen möchte ich um eine Quittung über den Geldempfang bitten.«

Weston war augenscheinlich in Verlegenheit versetzt, doch da Nielsen seine Brieftasche beständig in der Hand hielt, schaute er mit einiger Scheu auf und fragte: »Würden fünfzig Pfund zu viel verlangt sein?«

›Ein schöner Batzen‹! dachte Nielsen, aber er verriet sich nicht. – »Keineswegs,« erwiderte er. »Ich verstehe wohl, daß Sie soviel brauchen – Sie haben eine Dame bei sich. Nur müssen Sie mir ein paar Tage Zeit lassen, da ich den Betrag nicht bei mir habe.

»Vielleicht kann ich auch mit weniger ...«

»Nein, nein, keineswegs,« beharrte Nielsen. »Mit weniger werden Sie nicht durchkommen können. Ich begreife es sehr gut. Doch werde ich Sie, um für alle Fälle gerüstet zu sein, um Ihre Vollmacht bitten müssen, Sie vor dem Nachlaßgericht zu vertreten. Wie ich verstehe, ist Mrs. Weston, Ihre Gemahlin, Alleinerbin. Die Summe wird daher Ihnen oder, wenn Sie keine Gütergemeinschaft mit ihr haben, ihr ausgezahlt werden. Alles, was Ihnen jetzt noch zu tun übrig bleibt, ist, eine Legitimation von England zu besorgen, und das kann wohl in wenigen Tagen geschehen sein.«

Dabei sah Nielsen Weston forschend an. Er war nicht recht zufrieden mit dem Ausgang der Sache, denn fünfzig Pfund sind über neunhundert Kronen, mithin eine beträchtliche Summe, die er in den Engländer steckte, ohne sie je wiederzusehen. Denn wenn er und der Doktor mit ihrer Hypothese recht hatten, dann würde Weston die Gelegenheit benutzen, schleunigst zu verschwinden, und an einem andern Ort seinen Aufenthalt nehmen. Außerdem galt es doch, ihn in Lökken festzuhalten, bis Miß Derry und Mr. Armstrong eingetroffen waren. Freilich, wenn diese beiden sich jetzt mit der Reise beeilten, dann konnte Nielsen gerade durch die in Aussicht stehende Summe den Engländer zu genügend langem Bleiben bewegen.

Weston schien jetzt einen Entschluß gefaßt zu haben. »Mr. Nielsen,« sagte er, »Sie wollen uns einen großen Dienst erweisen. Ich danke Ihnen dafür, aber ich muß doch erst mit Mrs. Weston darüber sprechen, Sie verstehen wohl ...«

»Natürlich,« sagte Nielsen, »natürlich!« und ihr Gespräch war beendet.

* * *

Als er und Doktor Koldby am Nachmittag längs den Dünen auf und nieder schritten, bemerkten sie Mrs. Weston, die ihnen entgegenkam.

»Da will ich mich lieber drücken,« sagte der Doktor. »Zweifellos beabsichtigt sie, mit Ihnen zu sprechen. Machen Sie nun ebenso viel Torheiten wie bisher und kommen Sie nachher zu mir.«

Damit wandte er sich um und marschierte gegen Nybaek ab.

Mrs. Weston ging auf Nielsen zu und grüßte ihn mit freundlicher, doch ernster Miene.

»Ihr Freund ging soeben weg – habe ich ihn vertrieben?«

»O nein, bewahre,« versetzte Nielsen, »er will nur einen Spaziergang nach Nybaek machen, wozu ich keine Lust verspüre, da ich mich etwas müde fühle.«

»Das trifft sich gut,« sagte sie. »Wollen wir uns setzen?«

Sie suchten die Strandkörbe von Doktor Madsen auf, die beide leer waren, und setzten sich hinein.

»Hier ist es wirklich herrlich,« rief Nielsen. »Sehen Sie, wie ruhig die See daliegt, während sie doch gestern ...«

Doch Mrs. Weston schien nicht geneigt, diesen Betrachtungen zu folgen.

»Ich möchte mit Ihnen über geschäftliche Sachen reden,« sagte sie. »Sie sind Rechtsanwalt und haben mir während der letzten Tage bereits großen Beistand geleistet, größeren, als Sie denken. Wollen Sie nun mein Rechtsvertreter sein?«

Nielsen verbeugte sich, und sie fuhr fort: »Ich sage ausdrücklich: mein Rechtsbeistand. Ich weiß, daß Sie mit Mr. Weston geredet haben, er hat mir von Ihrem freundlichen Anerbieten erzählt, und ich danke Ihnen dafür, sofern Sie dabei an mich gedacht haben. Mr. Throgmortons Tod hat mich allerdings in eine viel schwierigere Lage gebracht, als Sie vermuten können. Es mag seltsam erscheinen, daß ich mich in meiner Not an Sie wende, und Sie denken vielleicht, daß es doch viel natürlicher wäre, wenn ich ... aber genug davon. Wollen Sie also wirklich mein Rechtsbeistand sein?«

»Mit Vergnügen, Mrs. Weston. Nur bitte ich Sie, zu bedenken, daß ich ein Fremder bin und daß Sie mir, wenn ich Ihnen von rechtem Nutzen sein soll, voll vertrauen müssen. Ohne Ihr Vertrauen kann ich Ihre Interessen nicht wahrnehmen, und ich bin gewohnt, alles, was ich unternehme, auch ganz durchzuführen. Ich muß Sie also um volle Information bitten sowohl über Sie, wie über den Verstorbenen, über Mr. Weston, kurz über alles. Haben Sie das in Erwägung gezogen, Mrs. Weston?«

Mrs. Weston schlug ihre großen dunkeln Augen auf und blickte Nielsen mit traurigem Lächeln an. »Ich habe alles erwogen,« sagte sie.

»Gut,« erwiderte er, »dann bin ich bereit.«

»Sie dürfen Mr. Weston die fünfzig Pfund nicht leihen,« sagte sie darauf in etwas erregtem, aber entschiedenem Tone. »Das könnte mir nur Verdruß bereiten, und Ihnen auch. Sie würden Ihr Geld niemals wieder zu sehen bekommen.«

»Ah!« bemerkte Nielsen.

Sie errötete. »Das klingt freilich seltsam, aber es ist wahr. Mr. Weston würde von hier abreisen und nimmer wiederkehren. Er ist kein schlechter Mensch, nein, er hat auch seine guten Seiten, viele sogar. Aber er ist ein schwacher Charakter – ein unheilbarer Schwächling.«

»Mr. Weston ist wirklich Ihr Gatte?« fragte Nielsen, den Atem anhaltend.

»Ja,« sagte sie, doch wandte sie die Augen fort, als Nielsen ihr ins Gesicht blickte.

Er glaubte ihr nicht, ließ sich jedoch nichts merken und fuhr fort: »Gut. Aber bevor ich auf Ihre erstaunliche Mitteilung eingehe, möchte ich gern wissen, ob zwischen Ihnen und Mr. Weston Gütergemeinschaft besteht?«

»Nein,« sagte sie, »das kleine Vermögen, das wir haben, gehört mir. Mr. Weston kann darüber nicht verfügen.«

»Und wer ist Ihr Anwalt in London?« – Er sagte unwillkürlich London.

»Mr. Sydney Armstrong – ein Agent in South Kensington – führt meine Geschäfte.«

»Ah,« sagte Nielsen, den dieses nicht überraschte, »dann ist es wohl das beste, wir telegraphieren ihm, daß Ihr Bruder gestorben ist.«

Mrs. Weston schüttelte den Kopf. »Wenn das alles wäre, dann brauchte ich Sie nicht, Mr. Nielsen.«

»Was soll ich denn sonst tun?«

»Sie müssen es einrichten, daß Mr. Weston hier festgehalten wird, und mir eine kleine Summe – viel weniger als fünfzig Pfund – leihen, damit ich nach Hause fahren kann.«

»Und dann?«

»Dann müssen Sie mich vor der hiesigen Behörde vertreten. Sowie ich zu Hause angekommen bin, sende ich Ihnen das Geld und die nötigen Papiere. Sind Sie einverstanden?«

»Natürlich,« sagte Nielsen. »Nur muß ich noch einiges über Ihr Verhältnis zu dem Verstorbenen sowie über Ihr Haus, von dem Sie sprachen, wissen. Es wäre doch wohl am natürlichsten, wenn Sie sich gleich an Mr. Armstrong wendeten. Da Sie das nicht tun, so müssen Sie schwerwiegende Gründe dafür haben, und diese Gründe muß ich kennen.«

»Dann trauen Sie mir nicht,« sagte sie bekümmert.

»O, gewiß, aber ich muß imstande sein, meine Stellung sowohl vor der Behörde als auch Mr. Armstrong gegenüber zu rechtfertigen. Wenn Sie Gründe haben, diesen Gentleman zu umgehen, so will ich dieselben natürlich achten, aber ich möchte sie auch gern wissen, denn wir Juristen, das heißt die ehrenwerten unter uns, bilden eine einzige große Brüderschaft und übervorteilen einander nicht.«

»Nun, wenn Sie es wissen wollen: ich habe kein Vertrauen zu Mr. Armstrong. Er war der Geschäftsmann meines Bruders, der große Fehler – leider nichts als Fehler an sich hatte. Und Mr. Armstrong ließ sich von meinem Bruder zu allem gebrauchen. Ich glaube ja nicht gerade, daß er ehrlos ist, aber Vertrauen zu ihm kann ich nicht gewinnen. Da haben Sie meinen Grund.«

»Aber Sie haben doch wohl Familienangehörige zu Hause?«

»Nein,« erwiderte sie, »mein Vater, der Arzt in den Kolonieen war, ist tot, und meine Mutter starb schon während meiner Kindheit. Ich habe keine Verwandten, weder in England noch sonstwo.«

Nielsen blickte sie voller Mitleid an. Ihre großen dunkeln Augen waren bittend auf ihn gerichtet; sie waren feucht. Doch dann gedachte Nielsen der Worte Koldbys – nein, er wollte sich nicht beirren lassen, unentwegt wollte er klarzulegen suchen, wie die Dinge standen.

»Sie sprachen vorhin von Ihrem Hause,« sagte er schonungslos, »oder verstand ich Sie nicht recht?«

Die Sonne war nunmehr ganz hinter den Horizont gesunken.

»Wollen wir ein wenig gehen?« fragte sie mit einer Bewegung, als empfinde sie Kälte.

Nielsen erhob sich bereitwilligst. In demselben Augenblick tauchte oben beim Dünenweg die lange Erscheinung des Engländers auf. Auch Mrs. Weston sah ihn.

»Kommen Sie diesen Weg,« sagte sie schnell, und sie wandten sich Nybaek zu. Nachdem sie eine kurze Strecke schweigend zurückgelegt hatten, wiederholte Nielsen seine Frage. »Sie sprachen von einem Hause ...«

»Ja,« erwiderte sie, »ich habe ein Haus in London, es ist augenblicklich wohl vermietet, aber es gehört mir. Mr. Armstrong sieht dort nach dem Rechten. Er verwaltete es schon für meinen – Bruder.«

Nielsen fand, daß sie beim Worte Bruder zögerte. Es fiel ihm auf, daß sie selten von ihrem Bruder sprach, und wenn sie es tat, so klangen ihre Worte kalt und scharf.

»In welcher Gegend liegt das Haus?« fragte Nielsen.

»In South Kensington. Aber Sie kennen London ja nicht, so hat es keinen Zweck, Ihnen die Straße zu nennen.«

Nielsen wußte natürlich, wo das Haus lag. Sie nannte es ihr Haus, Armstrong hatte es Major Johnsons Haus genannt. Wenn sie jetzt nach London ging, so bekam sie dort sogleich zu erfahren, wer die Mieter des Hauses waren, und dann – das fühlte Nielsen – war alles vorbei. Sein erster impulsiver Entschluß war daher, ihr zu berichten, daß er ihr Mieter sei – jedoch in diesem Augenblick erblickte er den Doktor, der ihnen entgegenkam.

»Mr. Nielsen,« fragte Mrs. Weston eilig, »haben Sie volles Vertrauen zu Ihrem Freunde?«

»Unbedingtes.«

»Erzählen Sie ihm alles und jedes?«

»In der Regel, ja.«

»Werden Sie ihm auch erzählen, worum ich Sie gebeten habe?«

»Wenn Sie nichts dagegen haben?«

Sie sann einen Augenblick nach. »Gut, erzählen Sie's ihm.«

Nielsen lächelte. »Was Sie mir bis jetzt anvertraut haben, Mrs. Weston, könnte ich ja ruhig jedem erzählen. Wir beide haben ja Augen, um Ihr Verhältnis zu Mr. Weston zu erkennen. Und daß Sie und Ihr Bruder nicht auf zärtlichem Fuße miteinander standen, haben wir auch bemerkt. O, Mrs. Weston, Ihr Vertrauen besitze ich ja keineswegs. Sie haben mir nur anvertraut, was ich schon wissen konnte. Doch werde ich dennoch tun, worum Sie mich baten. Morgen schon.«

»Und wenn Doktor Koldby Ihnen abrät?«

»Das wird er nicht tun. Er ist ein mitfühlender Mensch und bewundert Sie.«

Der Doktor trat zu ihnen heran. »Guten Abend,« sagte er.

Dann gingen sie alle zusammen zurück. Mr. Weston stand in der Tür des Hotels und folgte Nielsen mit den Augen. Später ging er zu ihm hinauf und sagte, er hoffe, daß Mrs. Weston mit ihm einer Meinung sein werde. Nielsen erwiderte, das hoffe er auch und er werde noch an diesem Abend wegen des Geldes schreiben. Da ging Mr. Weston wieder beruhigt in sein Zimmer.


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