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Neuntes Kapitel

»Nun, Nielsen,« sagte der Doktor spät des Abends, als sie ihre Zigarren rauchten, »haben Sie Ihre Position gehalten?«

»Beinahe,« antwortete Nielsen.

»Das will sagen, Sie haben sie nicht gehalten, sondern fallen lassen, während Ihre Gegnerin als Sieger hervorgegangen ist, nicht wahr?«

»Vielleicht,« sagte Nielsen, der es nicht ganz zugeben mochte, »jedenfalls war sie billiger als Mr. Weston. Auch warnte sie mich davor, ihm Geld zu borgen. Jawohl, und es schien ihre ehrliche Meinung zu sein. Sie will ihn ohne Zweifel loswerden, das ist klar.«

»Na, rücken Sie heraus mit dem ganzen Bericht,« sagte der Doktor kurz, und Nielsen erzählte, was sich begeben hatte.

»Hm, hm,« sagte der Doktor und lief murmelnd in seinem Zimmer auf und ab, »Unsinn haben Sie also noch nicht angerichtet, obwohl es klar ist, daß Sie schon ziemlich tief in die Augen dieser hübschen Lady geguckt haben. Na, das mag Ihr Recht sein – sie aber hat Ihnen nichts als Lügen erzählt, und das ist nicht ihr Recht, und Sie dürfen sich auch nicht narren lassen.«

Nielsen sagte nichts.

»Über ihren Vater und ihre Mutter, die tot sein sollen, will ich hinweggehen,« fuhr der Doktor fort. »Die gehen uns nichts an. Requiescant in pace! – Den Mr. Armstrong kennen wir; er ist ohne Zweifel ein Halunke. Nebenbei bemerkt, gratuliere ich Ihnen dazu, daß Sie Ihre Bekanntschaft mit ihm nicht verraten haben; es wäre echt dänisch-geistreich gewesen, wenn Sie etwa gerufen hätten: ›Heiliger Bimbam, den Mann kenne ich ja!‹ Sie haben wirklich ein schönes diplomatisches Talent, junger Mann. Und daß Sie vom Hause Cranbourne Grove 48 nichts wußten, war ebenfalls sehr gescheit von Ihnen. Allerdings haben Sie recht: sowie Mrs. Weston von Armstrong die Papiere erhält, weiß Sie natürlich Bescheid über uns.«

Nielsen unterbrach ihn: »Ich kann aber immer noch nicht einsehen, mit welchem Recht Sie sie beschuldigten, gelogen zu haben!«

Der Doktor lachte. »Ho, ho! Nun spricht das Opfer des Cupido! Legen Sie einmal bloß für einen Moment Ihre übergütigen Gefühle für diese Lady beiseite und überlegen Sie mit nüchterner Vernunft, was sie Ihnen eröffnet hat. Zunächst behauptet sie, daß Throgmorton ihr Bruder sei. Das bezweifle ich schon stark. Wenn Bruder und Schwester miteinander auf solchem Fuße stehen, dann leben sie nicht zusammen, sondern getrennt. Ich glaube, der sogenannte Mr. Throgmorton war Mr. Weston. Auf diesen Gedanken bin ich draußen bei Nybaek gekommen. Und der lange Englishman, den sie jetzt loswerden will, ist der Major. Das ist klar. Sie hat also gelogen, die Schlange, nicht wahr?«

»Das zu behaupten, haben Sie kein Recht,« war Nielsens Antwort. »Wir haben es uns doch zur Regel gemacht, bei unsern Schlüssen keine Sprünge zu machen, und das tun Sie jetzt.«

»Nein, mein Freund, durchaus nicht. Sie wollen bloß nicht sehen. Wenn der lange Mensch wirklich Mr. Weston wäre, dann würden die beiden entweder geschieden sein oder sie lebten richtig als Mann und Frau zusammen. Sie würde ihn dann auch nicht in Ihre Hände übergeben und allein davonlaufen, was doch ihre Absicht ist. Ich will nicht gerade behaupten, daß sie Ihnen Ihr Geld nicht zurückerstatten wird – obwohl Damen in dieser Hinsicht bekanntlich vergeßlich sein können – aber wiedersehen werden Sie sie auf keinen Fall. Das Haus gehört ihr tatsächlich; also geht sie schnurstracks zu Armstrong, dem Spitzbuben, und – entdeckt, daß Sie und ich ihre Mieter sind. Sofort ist sie von Argwohn erfüllt, verkauft schleunigst alles, was sie hat, und verschwindet in die Kolonieen! Weg ist sie und für uns nicht mehr zu haben! Inzwischen kommt Miß Derry hier angereist – allein natürlich, denn Mr. Armstrong ist viel zu schlau, sich hier herüberlocken zu lassen. Und dann sitzen wir mit dem Langen und Amy Nummer 1 alleine hier. Bloß die Katze fehlt noch, um die Gesellschaft komplett zu machen.«

Der Doktor setzte sich, nachdem er diese lange Rede gehalten, und qualmte wie ein Schornstein.

Nielsen schien sich über ihn zu amüsieren. »Lieber Doktor,« sagte er, »es ist doch sonst nicht Ihre Art, so im Galopp vorwärtszustürmen. Wenn Mrs. Weston wirklich die Absichten hegte, die Sie ihr so ritterlicherweise beilegen, warum in aller Welt sollte sie sich dann die Mühe machen, mit mir zu reden, wie sie es doch getan hat?«

Der Doktor lachte sarkastisch. »Sagen Sie lieber: Ihnen ihr Vertrauen zu schenken! Das ist richtiger.«

Nielsen dachte einen Augenblick nach. »Meinen Sie etwa, sie habe mit mir nur gesprochen, um zu verhindern, daß ich diesem Tölpel die fünfzig Pfund gäbe?«

»Ungefähr so.« Der Doktor sah Nielsen von der Seite an und lachte gutmütig. »Es tut mir leid um Sie, mein Junge, aber das denke ich wirklich. Sie sollten sich nun für ihr Vertrauen revanchieren und sich ihr als Mieter des Hauses Cranbourne Grove 48 South Kensington London vorstellen; erklären Sie ihr dabei, daß Sie mit dem Hause ganz zufrieden seien, bloß mit dem Keller unter dem Speisezimmer, wo wir eine Katze gefunden hätten, nicht! Dann bemerken Sie nebenbei, daß Madame Sivertsen die Verpflegung der Katze übernommen hat, jedoch von dem stummen Kellerbewohner keine Ahnung besitzt. Mrs. Weston wird dann entweder nicht verstehen, was Sie meinen, und sich vielleicht vornehmen, selber in den Keller zu gucken, oder aber sie wird Sie sehr gut verstehen und dann wahrscheinlich vor Schreck einen kleinen Schwächeanfall bekommen. Sie können mich dann hereinrufen, wenn Sie ihr nicht zu helfen wissen. – Na, was sagen Sie nun?«

»Wenig klug erdacht, lieber Doktor! Im ersteren Fall nämlich riskierten wir, in Teufels Küche zu geraten, denn ...«

»Den ersteren Fall können wir ganz ruhig beiseite lassen. Sie weiß sicher über den stillen Kellerbewohner Bescheid. Ist sie unschuldig, so hat sie keinen Grund, seinen Namen zu verbergen. Ist sie dagegen mitschuldig ...«

Nielsen unterbrach ihn scharf.

»Glauben Sie denn wirklich, daß sie eine Mörderin sein könne?«

» Sie!! – Jawohl, sie! Nicht wahr, dick unterstrichen? Freilich in Ihren Augen ist sie ein Engel, einfach ein Engel. In meinen dagegen ist sie nichts als etwas Fragliches – ein X. – – Aber wissen Sie was? Begleiten Sie sie doch einfach nach London! Oder richtiger, schlagen Sie ihr das vor. Wenn sie Ihre Hilfe tatsächlich wünscht, dann wird sie es akzeptieren. Sagt sie dagegen nein, so wissen wir, woran wir mit ihr sind. Da haben Sie meine Ansicht.«

»Warum sagten Sie das nicht gleich, Doktor? Das ist wirklich etwas Gescheites.«

Der Doktor zuckte die Achseln. »Nur in Komödien und schlechten Romanen wird das Richtige zuerst gesagt. Im Leben ist es immer umgekehrt. Dieser Gedanke kam mir erst jetzt, während wir sprachen. Aber er ist in der Tat famos, nicht wahr?«

»Vortrefflich,« bestätigte Nielsen.

»Na, dann sind wir ja wieder einmal einig. Bieten Sie also der Lady Ihre Begleitung an und gucken Sie dann tief in die schönen Augen hinein. Währenddessen werde ich das zweifelhafte Vergnügen haben, hier ein wachsames Auge auf Mr. Weston zu werfen. Ich lasse mich hängen, wenn das ein Spaß sein wird. Aber ich werde es dennoch gewissenhaft vollführen. Nur möchte ich noch gern wissen, wie Sie nun eigentlich zur Sache stehen – ich meine, zu unsrer Kriminalaffäre?«

»Wie vorher,« sagte Nielsen kurz.

»Um es offen zu bekennen: ich bin selbst außer stande, klar zu blicken.«

»Ich auch!« rief der Doktor. »Doch welches ist Ihre neueste Ansicht?«

Nielsen zündete sich eine frische Zigarette an und schritt, seine Gedanken sammelnd, auf und ab.

»Na, legen Sie los, Herr Rechtsanwalt,« rief der Doktor, der rittlings auf seinem Stuhl wie auf einem hohen Pferde saß.

Nielsen zögerte mit der Antwort. »Um die Wahrheit zu sagen, Doktor, ich glaube nicht, daß meine Hypothesen viel wert sind, doch da Sie sie durchaus hören wollen, so hören Sie: Also erstens: Mrs. Weston ist wirklich Mrs. Weston ...«

»Denn Sie glauben felsenfest an sie,« unterbrach ihn der Doktor.

»Ja! – Noch!« erwiderte Nielsen. »Der sogenannte Mr. Weston ist wahrscheinlich Major Johnson. Das vermuten Sie ja auch. Wer dagegen der Ermordete ist, weiß ich nicht. Ich glaube, Mr. Throgmorton, der Bruder der Mrs. Weston. Der ertrunkene Engländer schließlich ist, wie ich glaube, Mr. Weston.«

» All right,« rief der Doktor, »aber wie ist es nun mit der Amy Nummer 1, der Miß Derry? Meinen Sie denn, daß diese wirklich den langen hagern Idioten lieben und begehren könnte trotz all seiner Narrheiten und seiner verblendeten Schwärmerei für Mrs. Weston, die sich ihrerseits nicht das geringste aus ihm macht?«

»Kann ja möglich sein,« erwiderte Nielsen.

»Und wie ist's mit der Katze?« fragte der Doktor weiter.

»Ja,« sagte Nielsen lächelnd, »das Halsband, das ehemals die Katze der Amy Nummer 1 dekorierte, hat der treulose Major auf die Katze der Amy Nummer 2 übertragen – auf die Hauskatze von Cranbourne Grove. Amy Nummer 1 will nun weder auf das Halsband noch auf den Major verzichten; ersteres hat sie bereits wiedererlangt, den letzteren wird sie sich holen wollen.«

»Mit andern Worten: wir wissen jetzt die ganze Geschichte!« rief der Doktor lachend. »Bloß daß uns unklar ist, aus welchem Grunde man Throgmorton ermordet hat, und wer das getan haben soll. Glauben Sie nicht, daß es gescheiter wäre, anzunehmen, der Major habe, geblendet durch seine Liebe zu Mrs. Weston, deren Gatten umgebracht, und ihr schurkischer Bruder habe diese Gelegenheit benützt, die beiden in seine Gewalt zu bekommen?«

Nielsen machte eine ungeduldige Handbewegung. »Den Gedanken hatten wir schon früher, mein Freund. Fortschritte haben wir also nicht gemacht.«

»O, das meine ich doch. – Aber nun will ich schlafen gehen. Vielleicht kommt mir unter der Decke noch ein guter Gedanke. Das pflegt mitunter der Fall zu sein. – Es ist also abgemacht, daß Sie mit Mrs. Weston nach London gehen?«

»Wenn sie mich mithaben will, ja.«

»Und wenn sie nicht will?«

»Dann werde ich eine brutalere Taktik gegen sie zur Anwendung bringen.«

»Sie meinen, ihr alles erzählen, was Sie wissen?«

»Nicht alles, aber doch genug, um ihr zu zeigen, daß es uns Ernst ist.«

Der Doktor zuckte die Achseln. »Mein guter Nielsen, wir laufen beständig im Kreise herum. Zu guter Letzt werden wir es noch gewesen sein, die den uns völlig Unbekannten umgebracht haben, und man wird uns als Verbrecher einlochen. Ich wünschte das nicht!«

»Ich auch nicht,« meinte Nielsen lachend. »Gute Nacht!«

Und damit schieden sie.


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