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HoIger Nielsen war, wie wir schon sahen, ein Däne. Er hatte Jus studiert, war der Sohn eines Regierungsbeamten, zweiunddreißig Jahre alt und verfügte über beträchtliche Kenntnisse. Ursprünglich hatte er eine Stelle bei einem Ministerium bekleidet, diese aber wieder aufgeben müssen, weil eine gewisse Steifheit in seinem Rücken ihn hinderte, vor den Vorgesetzten in gehöriger Weise zu kriechen. Dann hatte er es als Rechtsanwalt versucht, aber auch diesen Beruf nicht für passend gefunden, da jetzt sein Rücken wieder den Klienten gegenüber zu steif gewesen war. Da hatte er sich denn auf das Kriminalfach geworfen und mit seinen radikalen Ideen seine ganze konservative Verwandtschaft entsetzt. Er war der einzige Sohn seiner Eltern, die beide schon tot waren und ihm ein beträchtliches Vermögen hinterlassen hatten. Er lebte nun von seinem Gelde und widmete sich ganz seinem Interessengebiet – der Kriminalogie. Und dieses Interesse hatte ihn schließlich veranlaßt, nach London zu gehen, in dessen engen Stadtvierteln er Verbrecherstudien zu treiben gedachte. Er schrieb ein großes Werk, »Verbrechen« betitelt; jedoch als starker und gesunder Mann verschmähte er es, gemächlich in seinem Stuhl zu sitzen und sein Wissen aus Büchern zu sammeln. Bücher mied er ganz; nur das Material, das das Leben selber bot, benutzte er zum Studium. Freilich nicht in der Weise, daß er in den sogenannten Verbrechervierteln umherstreifte und nach allem fragwürdigen Gesindel ausspähte – er war nicht nach London gekommen, um seinen Rock nach innen zu kehren und die traditionelle Reise nach Whitechapel mit zwei oder drei Kupferlingen in der Tasche mitzumachen. Nein, was er wollte, war, die Bevölkerung einer großen Stadt in ihren engen Vierteln zu beobachten und zu versuchen, die Bedingungen ihres täglichen Lebens kennen zu lernen; das sollte dann den Ausgangspunkt bilden, von dem aus er die abnormen Erscheinungen zu erklären hoffte.
Er wünschte zu London in Beziehung zu treten, und dieser Besuch sollte nur eine Einleitung dazu sein. Zunächst galt es, sich an die Sprache zu gewöhnen und solange die Ereignisse auf der Straße und dem Polizeihof zu verfolgen, bis er zu schwereren Problemen schreiten konnte.
Am 1. Mai kamen Doktor Koldby und Madame Sivertsen mit dem Zuge, der um 7 Uhr 35 von Harwich einläuft, in London an. Sie hatten ihren Weg über Esbjerg genommen und waren, um nicht zur Nachtzeit in London einzutreffen, bis zum Morgen an Bord des Dampfers geblieben.
Holger Nielsen hatte bereits seine Sachen aus dem elenden Boardinghouse, in dem er abgestiegen war, nach dem neuen Heim bringen lassen, und empfing nun die Ankömmlinge – mit Hilfe der Sonne – aufs freundlichste.
Und er hatte offenbar Erfolg.
Frau Sivertsens Kammer lag im Souterrain dicht neben der Küche; sie war ein wenig dunkel und eng, aber Madame Sivertsen war nicht schwer zu befriedigen; sie war schon vom Dampfer her an enge Quartiere gewöhnt, obwohl das Alter sie recht korpulent gemacht hatte. Und nun, nachdem sie, wie sie selbst bemerkte, vierzehn Tage lang gefaulenzt hatte, war sie gleich bereit, ans Werk zu gehen. Und das tat sie auch.
Doktor Koldby inspizierte währenddessen das Atelier und grunzte vor Zufriedenheit. Es war alles, wie es sein sollte. Er packte auch sofort seine Skizzen und Farbtuben aus, richtete die Staffelei auf und setzte die Leinwand zurecht. Er war nach London gekommen, um einige Skizzen von der Themse und den Docks aufzunehmen; auch wollte er Turner in der Nationalgalerie studieren.
Koldby war Marinemaler und besaß den Titel eines Doktors der Medizin; sein Vater – ein Arzt – hatte ihn vor nunmehr dreißig Jahren gezwungen, diesen Beruf zu ergreifen. Koldbys Neigungen jedoch gingen in andrer Richtung, und kaum hatte der alte Landdoktor zu Thisted seine Augen geschlossen, als Koldby seine Stethoskope und sonstigen Instrumente in die Ecke warf und die sauer verdienten Groschen des Alten in Farbtuben und Malleinwand anlegte. Er fühlte sich zur See hingezogen und unternahm eine Seereise nach Mexiko. Von der Küste Floridas, wo er Schiffbruch erlitt, gelangte er allmählich, wandernd und malend durch das Land ziehend, nach New York, kehrte später nach Hause zurück, machte dann Reisen nach Ägypten, wo er Sphinxen und Pyramiden malte, und wurde so nach und nach ein alter Knabe von etwa sechzig Jahren. Aber er hielt sich seinen Rücken steif und seinen Geist jung. An einem Weihnachtsabend in Rom traf er mit Holger Nielsen zusammen, und beide fanden Gefallen aneinander. Sie wurden Freunde und blieben es.
Bei seinen vielen Reisen durch Ägypten hatte Doktor Koldby muselmännische Gesinnungen angenommen; er liebte die Sonne bis zur Anbetung und verabscheute den Wein. Nur in einer Hinsicht war er kein guter Muselmann geworden; was die Lehre des Propheten über die Polygamie vorschreibt, das fand nicht seinen Beifall. Er verabscheute nicht bloß den Wein, sondern auch die Frauen. Und obwohl er zugeben mußte, daß sein Haß gegen das schwache Geschlecht gänzlich grundlos war, da ihm noch keine Frau je ein Leid zugefügt hatte, hielt er doch bei seiner Abneigung fest; er meinte, auf diese Weise vor vielen Enttäuschungen bewahrt geblieben zu sein.
Mit seinen Kollegen vom Fach, den Professoren der schönen Kunst, lebte er in beständigem Streit; er erklärte sie allesamt für Idioten und behandelte sie mit Nichtachtung, was sie mit gleichem erwiderten.
Im übrigen war er verständig und geraden Sinnes.
Und nun schien die Sonne in das Atelier des Hauses Cranbourne Grove 48 herein, wärmte den Rücken des malenden Doktors und setzte die umherstehenden Skizzen, die er auf der Reise von Esbjerg von der stürmischen See aufgenommen hatte, in vorteilhafte Beleuchtung.
Es war alles, wie es sein sollte.