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Am nächsten Morgen sandte Nielsen zu Mrs. Weston hinauf und ließ sie fragen, ob sie mit ihm einen Spaziergang in nördlicher Richtung machen wolle. Sie stimmte bei, und bald darauf wanderten er und sie in nördlicher Richtung davon.
Mrs. Weston war ängstlich und erregt. Sie merkte, daß Nielsen die Absicht hatte, mit ihr zu sprechen, während sie selbst Stillschweigen bewahren wollte. Und Nielsen bemerkte seinerseits, wie aufgeregt sie war, und beschloß, auf seiner Hut zu sein.
»Mrs. Weston,« sagte er, »ich habe mit meinem Freunde gesprochen, und wir beide haben die Mitteilungen, die Sie mir gestern machten, reiflich überlegt. Ihr Vertrauen, um das ich Sie bat, besitze ich nicht; erlauben Sie mir daher, daß ich, bevor wir etwas unternehmen, noch ein paar Fragen an Sie richte. Erstens: wünschen Sie, sich von Mr. Weston scheiden zu lassen?«
Sie antwortete nicht, doch neigte sie bejahend den Kopf.
»Gut,« sagte Nielsen, »das wäre Punkt eins. Nach Ihren Gründen will ich nicht fragen, denn meine Ansicht ist, daß jede Frau das Recht hat, ihren Mann zu verlassen, sowie es ihr beliebt, und Ihre Ehe ist ja, soviel ich weiß, kinderlos geblieben. Die Sache liegt also einfach genug. Weiß Mr. Weston davon?«
»Nein,« erwiderte sie, »aber er soll es, sobald es notwendig ist, erfahren.«
»Meine nächste Frage,« fuhr Nielsen fort, »ist diese: Sind Sie in pekuniärer Hinsicht ganz unabhängig von Ihrem Gatten?«
»Gänzlich,« antwortete sie kurz.
»Und Sie sind die einzige Erbin Ihres Bruders?«
»Soviel ich weiß, ja. Aber schließlich ist von ihm auch gar nichts zu erben.« Nielsen spitzte die Ohren. »Mein Bruder hat zweifellos weit mehr Schulden hinterlassen, als bares Geld, und sogar mehr, als er besaß, wenn er überhaupt etwas besessen hat.«
»Sind Sie darüber nicht genau informiert?« fragte Nielsen.
»Nein, ich habe mich nie um das Vertrauen meines Bruders bemüht. Er war kein guter Mensch und ... doch nun ist er ja tot.«
Nielsen schwieg einen Augenblick lang; dann sagte er: »So war es also eine Art Betrug von Mr. Weston, daß er mit dem Hinweis darauf, daß Sie die Erbin seien und er durch Sie miterben würde, mich veranlassen wollte, ihm Geld zu borgen. Ich verstehe nun, warum Sie mich warnten, und danke Ihnen dafür. Es berührt mich schmerzlich, daß ein Engländer imstande ist, in solch unehrenhafter Weise zu handeln. Mr. Weston sollte sich in acht nehmen, daß derartiges nicht zu Ohren des Gerichts kommt; er würde ernste Unannehmlichkeiten zu befürchten haben.«
Mrs. Weston sah etwas beunruhigt auf. »Sie haben mich nicht ganz verstanden, Mr. Nielsen. Ich meine, Mr. Weston hat durchaus nicht unrecht. Er hat wirklich Anrecht auf einen Teil des Geldes, denn – Sie verstehen – er ist einer der Gläubiger, denen mein Bruder Geld schuldete.«
»Ah so!« sagte Nielsen, doch als er bemerkte, daß sie ziemlich verwirrt war, fragte er in schärferem Ton weiter: »Soll das heißen, daß Mr. Weston ein Vermögen besitzt?«
»Ja,« erwiderte sie.
»Warum schreibt er dann nicht nach England, daß er Geld braucht?«
Sie zögerte einen Augenblick, dann sagte sie: »Mr. Weston ist so unklug gewesen, sich an den Geschäften meines verstorbenen Bruders zu beteiligen – Geschäften, die nicht ganz – wie soll ich sagen – nicht ganz eines Gentlemans würdig sind. Er gab meinem Bruder Vollmacht, und alles, was ihm von England zuging, mußte erst meines Bruders Hände passieren. Nun werden Sie vielleicht verstehen, warum Mr. Armstrong, der Agent meines Bruders, nicht der richtige Mann ist, an den ich mich als Rechtsbeistand wenden konnte.«
Nielsen sah es ein. »Aber,« fragte er, »wie steht es mit dem Hause« – ›Cranbourne Grove‹, hätte er beinahe gesagt – »mit dem Hause, das Sie gestern erwähnten und von dem Sie sagten, es gehöre Ihnen?«
»Das Haus,« erwiderte sie, »bildet allein den Umstand, der mich zur Reise nach London zwingt. Es gehörte einer Tante von mir; sie starb im vorigen Jahre und vermachte es mir und meinem Bruder gemeinschaftlich. Mr. Weston wünschte es zu erwerben, doch weiß nur Armstrong, was aus dem Kauf geworden ist. Mein Bruder ließ es durch Armstrong verwalten, und es ist jetzt an zwei ausländische Gentlemen vermietet. Wir haben dort nur kurze Zeit gewohnt, ja von dort sind wir hierhergezogen, weil ... weil ... weil Mr. Weston eine Zeitlang von London fort sein wollte. Das Haus hat uns viel Kummer und Sorge bereitet; ich glaube daher, Sie werden es mir ersparen, diese Dinge, die mich nur peinigen, ausführlich zu erörtern.«
Sie sah ihn bittend an.
Nielsen hätte gern noch ein wenig mehr erfahren, auch den Namen des Majors gern erwähnen gehört; aber er begnügte sich mit der Erkenntnis, daß alles, was sie sagte, seine und des Doktors Vermutungen bestätigte. Major Johnson, der im Besitz von Geldmitteln war, hatte in den Klauen Throgmortons gesteckt, während Mrs. Weston jetzt von allem loszukommen suchte. Und was sie mit dem Kummer meinte, den ihnen das Haus bereitet habe, vermochte er vortrefflich zu verstehen.
Er faßte einen Entschluß.
»Mrs. Weston,« sagte er, »ich bin bereit, Ihnen zu helfen, doch unter einer Bedingung: Wir wollen zusammen nach London gehen.«
»Gut, wie Sie wünschen,« sagte sie ohne Zögern und streckte ihm die Hand entgegen.
Da lächelte sie. »Ich traue Ihnen ganz und gar. Sie sind der einzige Mensch in der Welt, zu dem ich Vertrauen habe, und ich werde Ihnen gern folgen, wohin Sie es auch wünschen.«
Dieses Geständnis besagte viel. Auch schaute sie ihn mit reizendem, freundlichem und gar liebevollem Lächeln an.
Nielsen glaubte, hinter den Dünen das skeptisch grinsende Antlitz des Doktors zu sehen – er riß sich mit aller Kraft zusammen, um nicht zu vergessen, welchen Zweck er verfolgte – doch Holger Nielsen, der selbsternannte Rächer der Justiz, der Kriminalist und Pionier seiner Ideen – er war verliebt!
Er ergriff ihre Hand und küßte sie. »Mrs. Weston,« sagte er mit leiser Stimme, »ich danke Ihnen für Ihr Vertrauen. So wollen wir denn zusammen reisen, und was auch geschehen mag, ich werde alles für Sie tun, was ich kann, und mich des Vertrauens würdig zeigen, das gewonnen zu haben ich stolz bin.«
Sie antwortete mit einem warmen, fast schmachtenden Blick. Einen Schein von Triumph glaubte Nielsen darin zu erblicken – aber er deutete den Blick ganz anders, als Doktor Koldby es getan haben würde.