Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Elftes Kapitel.

Noch war der Morgen nicht angebrochen, als der Sergeant Ludwig heftig beim Arme rüttelte und ihn laut anrief. Er fuhr empor; Bernhard, durch den Ruf geweckt, ebenfalls. »Ihr sollt hinauf in den Verhörsaal! Nur rasch! Hier nehmt einen warmen Schluck und einen Bissen, daß ihr munter werdet und mit Festigkeit euer Urteil hört.«

Ludwig fand mit Mühe seine Sinne wieder; noch halb bewußtlos nahm er das dargebotene Brot und griff nach der Flasche mit warmem Met, die ihm der Sergeant reichte. Bernhard trat heran. »Dürfen wir uns jetzt begrüßen?« fragte er Ferrand. – »Soviel ihr mögt, arme Teufel! Jetzt habt ihr alles frei!« erwiderte dieser.

Bernhard fuhr zusammen. Sollte dennoch – dachte er – aber nein, es ist unmöglich. So kann selbst solch ein Urteil nicht gefällt werden. Ludwig war ruhig. »Ist unser Urteil gesprochen?« fragte Bernhard. »Sagt es uns frei heraus, wenn ihr es wißt. Es soll der letzte Dienst sein, den ihr uns leistet. Glaubt nicht, daß wir davor zittern werden.« Doch im Sprechen zitterte er heftig – aber für den Freund, nur für ihn.

»Ihr werdet's gleich droben hören«, lautete die Antwort des Sergeanten. – »Sagt es gleich, Lieber, ich bitte euch darum,« bat auch Ludwig sanft, aber ruhig; »wir können es dann droben mit mehr Fassung anhören, es falle günstig oder ungünstig aus. Es läßt männlicher, wenn wir weder ein Übermaß der Freude noch der Niedergeschlagenheit zeigen.«

»Bei Gott!« rief Ferrand, »es wird mir schwer, es euch zu sagen, denn, was ihr verbrochen haben mögt, ihr seid brave Soldaten, und habt euer Wort gehalten wie Männer. Ich wollte, ihr wäret vor einer Batterie gefallen. Es ist uns auch keine Freude, auf einen Kameraden anzulegen.« – »So sollen wir erschossen werden?« fragte Bernhard bebend und seine Lippen erblaßten. – »So lautet das Urteil!« – »Heiliger Gott!« rief er aus und warf sich an Ludwigs Brust und preßte ihn heftig in die Arme. Sie hielten sich lange stumm umfaßt.

Der Sergeant klopfte Bernhard gutmütig auf die Schulter und sprach: »Nehmt euch zusammen, Kamerad, der Tod ist uns allen nahe; wer weiß, ob ich euch lange überlebe! Gönnt es denen da oben nicht, daß ihr so davor zittert!« – »Zittern?« fragte Bernhard und sein Auge rollte. »Wenn ich nicht vor Grimm oder Frost zittern muß, so soll nicht ein Haar auf meinem Haupte zittern! Fort! Hinauf! Sie mögen uns das Todesurteil vorlesen. Ihr sollt Zeuge sein, ob die Pfeile meiner Blicke nicht schärfer in das Herz der Buben dringen sollen als euere Kugeln in meine Brust! Aber hier will ich weinen an der Brust meines Freundes, und um ihn und um seine unglückliche Schwester«, rief er und warf sich von neuem an Ludwigs Brust, und seine Tränen strömten. – »Bernhard!« sprach Ludwig endlich und schien die Worte gewaltsam aus seiner Brust zu reißen: »Bernhard! Also mußte ich dich in den Tod reißen! Mein Herz blutet, es ist zerrissen von tausend Wunden – o du weißt das alles ja am besten! Aber jetzt, mein Geliebter, jetzt muß auch der Schmerz um dich dem Gebot der Ehre und Männlichkeit weichen. Halte es für einen Verrat an deiner großmütig aufopfernden Freundschaft, wenn du mich ruhiger, kälter siehst, als ich bin. Dein inneres Auge blickt in die Tiefe meiner Brust; aber kein anderes soll die Qual erraten, die mich verzehrt. Unser Tod muß unser Triumph sein!«

»Bei Gott! das soll er«, rief Bernhard und erhob die Hand wie zum feierlichen Schwur. »Selbst Marie, die weinende Heilige, soll mein Herz nicht mehr weich machen. – Komm! Wir wollen wie Spartaner den grimmigen Zahn des Raubtiers in unsern Eingeweiden wühlen lassen und keine Miene verziehen.«

Entschlossenen Schrittes folgten sie ihrem Führer hinauf in den Verhörsaal. Sie fanden ihn leer, doch lagen einige Papiere auf dem Tisch. »Der Brief dort enthält das Todesurteil«, sprach der Sergeant und deutete auf ein zusammengefaltetes, aber aufgebrochenes Schreiben. »Er ist vom Generalkommissar. Vor einer Viertelstunde kam er an. Ich trug ihn selbst herauf und hörte, wie ihn der Baron von St.-Luces vorlas.« – »Ich möchte ihn lesen!« sprach Ludwig. – »Laßt mich erst zusehen, ob wir nicht überrascht werden können; die Tür des Nebenzimmers hören wir aufgehen, wenn sie kommen.«

Er öffnete die Tür des anstoßenden Gemachs und blickte hinein. »Sie sind noch drüben; lest aber schnell.« Ludwig nahm den Brief. Er lautete: »Ich habe dem Kaiser Ihren Bericht vorgelegt. Wenn der Verdacht dringend ist, so sollen die Delinquenten ohne weiteres erschossen werden, denn es bedarf eines Beispiels«, war seine Antwort. Nach Ihrer, wie ich hoffe, gewissenhaften Darstellung der Verhältnisse ist die Schuld keinem Zweifel unterworfen. Wir haben hier nicht Zeit noch Raum, uns auf lange Untersuchungen einzulassen, noch Kriminalgefangene mit uns zu führen. Lassen Sie daher die Exekution sofort, mit Tagesanbruch vor der Mauer vollziehen, damit es kein Aufsehen gibt. Der Anblick der Vollstreckung könnte Aufregungen hervorbringen; nach der Tat wirkt nur der Schrecken still fort und das Beispiel erhält eine ungestörte Wirksamkeit, besonders wenn man es heraushebt, daß deutsche Verräter bestraft worden sind.. Denn die Anhänglichkeit der deutschen Truppen ist nicht zu groß; die Furcht muß sie treu erhalten. Seien Sie selbst bei der Vollziehung des Urteils zugegen und senden Sie mir augenblicklich das Protokoll darüber, damit ich es dem Kaiser vorlegen kann.«

»Also etwa eine Stunde würden wir noch Atem holen«, sprach Bernhard, als Ludwig den Brief wieder auf den Tisch gelegt hatte. »Nun, mir soll's nicht allzu schwer werden, dieser Sonne zu entsagen. Ja, wenn es noch ein Frühling in Italien wäre – aber ein Winter in Rußland. Die Welt hat mehr Jammer als Freude; wer über beides quittiert, gewinnt in den meisten Fällen. Zumal ich.«

Ludwig konnte die Absicht des Freundes, ihn dadurch, daß er das strenge Schicksal so leicht nahm, zu trösten, nicht verkennen. Sie rührte ihn tief, doch blieb er fest. »Du hast recht! Ein Frühling in Italien! Der ist wohl schön!« Er verlor sich in tiefes Sinnen.

»Es wundert mich, daß noch niemand kommt«, sprach Bernhard nach einiger Zeit ungeduldig. – »Sie setzen das Todesurteil auf, damit alles in Ordnung geschehe. Es wird euch verlesen werden«, bemerkte der Sergeant. – »Versteht sich! Alles in bester Form! Es lebe die Gerechtigkeit! Wird man uns nicht etwa auch einen Beichtvater schicken?« fragte Bernhard bitter.

»Wenn ein Geistlicher hier wäre, würde er wohl mit hinausgehen,« antwortete der Sergeant; »aber hängt ihr an dergleichen?« – »Nein«, nahm Ludwig das Wort. »Ich bin gefaßt, hinüberzugehen. Doch, wenn jemand meine letzten Vermächtnisse erfüllen wollte – das würde mir ein unendlicher Trost sein. Einen Gruß möchte ich gern nach der Heimat senden.« – »Was ich besorgen kann, will ich tun«, sprach der Sergeant. – »O so geht –«

Hier öffnete sich die Tür. St.-Luces, Beaucaire und zwei Schreiber traten ein. St.-Luces wollte das Wort nehmen; er schien befangen zu sein. Ludwig sah ihm frei, unerschüttert ins Gesicht; Bernhard hielt flammende Blicke auf ihn gespannt. –»Ein höchster Richterspruch«, begann St.-Luces mit unsicherer Stimme, der er jedoch einen feierlichen Ton zu geben suchte. – »Richterspruch?« unterbrach ihn Bernhard; »Machtspruch, werden Sie sich ausdrücken, mein Herr!« – »Ihr wagt es«, rief St.-Luces mehr verwirrt als zürnend oder entschlossen.

»Ich wage jetzt alles! Es scheint mir nicht, daß ich etwas zu verlieren hätte, daher wird es Ihnen eben nicht gelingen, mir eine sonderliche Furcht einzustoßen. Ersparen Sie sich die Mühe einer Einleitung und Verlesung eines Urteils, das wir bis zum letzten Hauch nur für eine Gewalttat erklären werden.«

»Verfahren Sie in der Ordnung, Herr von Beaucaire«, befahl St.-Luces und biß sich auf die Lippen. Dieser las jetzt mit unbewegter Stimme und Miene Ludwigs und Bernhards Todesurteil.

Nicht die leiseste Veränderung ging in den Zügen der Verurteilten vor. »Ich bin zum Tode verurteilt,« sprach Ludwig, »obgleich ich mich vor Gott für völlig unschuldig halte und diesen meinen Freund nur als einen gewissenlos Gemordeten betrachten kann, der nicht einmal nach euerm Gesetz der Willkür schuldig wäre. So wird mir wenigstens das Recht jedes Verurteilten zustehen, die Vollziehung meines letzten Willens zu fordern. Ich erbitte mir meine Papiere und meine Brieftasche zurück!« – »Diese werden bei den Akten bleiben müssen,« entgegnete Beaucaire eiskalt; »sie enthalten die Beweise euerer Schuld.«– »Wohl denn, auch das! So fordere ich Feder und Papier, um meinen letzten Willen aufzusetzen.«

Beaucaire zog die Uhr heraus und sah dabei St.-Luces fragend an. Dieser verneinte weder noch bejahte er. »Es ist zu spät zu dieser Forderung,« erwiderte Beaucaire nach einigen Augenblicken; »Sergeant, sind Ihre Leute in Bereitschaft?« – »Sie sind es!« – »So lassen Sie sie eintreten. Wir müssen abmarschieren!« – »Also auch das wird mir versagt? Ein heiliges Recht, das dem niedrigsten Verbrecher zusteht?« – »Die Umstände verbieten es!« antwortete St.-Luces, wagte aber nicht, den Blick zu Ludwig zu erheben. »Nun denn,« rief dieser mit dem Ausdruck des edelsten Zorns, »so falle das Verbrechen, das ihr an uns begeht, auf euer Haupt zurück! Vater im Himmel! Dein ewiger Rat versagt mir Erbarmen, ich murre nicht; aber deine Gerechtigkeit wird Vergeltung üben an diesen Frevlern! Ich bin zu stolz, von euch noch etwas zu erbitten. Der Allgütige wird die stärken und erheben, der meine Abschiedsworte einen letzten matten Strahl des Trostes in das Dunkel ihres Schmerzes senden sollten! Fort! Ich habe auf dieser Erde nichts mehr zu tun als zu sterben!«

Bernhard stand schweigend wie eine finstere Gewitterwolke. Eine furchtbare Totenstille herrschte im Saal. Die Soldaten, zwölf Mann, marschierten herein. »Trennt die Delinquenten«, befahl St. Luces. Der Sergeant wollte zwischen sie treten, doch sie reichten einander die Hände; treu und redlich sahen sie sich ins Auge, keine Träne drang daraus hervor. »Leb' wohl, Bruder!« rief Bernhard mit männlich kräftiger Stimme. – »Auf Wiedersehen!« sprach Ludwig fest, ernst, gläubig, und erhob sein Auge nach oben.

Die Krieger traten zwischen sie; jede Sektion nahm einen der Verurteilten in ihre Mitte. »Gewehr auf! Vorwärts, marsch!« Im gleichförmigen, dumpf durch die Gewölbe hallenden Schritt verließen sie das Gemach. Im Vorübergehen an Beaucaire warf Bernhard ihm einen furchtbaren Blick zu, so daß selbst dieser abgehärtete Bösewicht erblaßte.

St.-Luces bemerkte es und sprach: »Seien wir auf unserer Hut; diesem verwegenen Burschen traue ich alles zu.«

Beide folgten dem Kommando in einiger Entfernung. Der Weg ging über den Hof, zu einer kleinen Seitenpforte des Gebäudes hinaus. Es dämmerte kaum. Nur die letzten erbleichenden Sterne und der Schimmer des frisch gefallenen, tiefen Schnees gewährten einiges Licht. Durch wüste, halbverfallene Gassen, in denen Biwakfeuer brannten, an welchen schwarze Reihen von schlummernden oder vielleicht schon erstarrten Kriegern gelagert waren, erreichte man die Brücke des Dnjepr, marschierte dann durch die Oberstadt und gelangte so endlich an die Stadtmauer. Ein beschneiter Hügelvorsprung, wenige hundert Schritte davon, auf dem sich eine schwarze, von düstern Tannen gebildete Waldspitze verlief, war zur Vollstreckung des Urteils ausersehen. Ein Offizier harrte daselbst mit einem Kommando von zwanzig Leuten. Der Tag fing bereits an so hell zu dämmern, daß man schon ziemlich weit um sich blicken konnte.

»Halt! Gewehr ab!« kommandierte der Sergeant, als er mit seinen Gefangenen die Höhe erreicht hatte.

»Also hier wäre das Ziel unserer Laufbahn«, sprach Ludwig und deutete auf einen Pfahl im Schnee, an dem er den Tod empfangen sollte. »Das hat meine Ahnung mir nicht gesagt, als wir vor vier Monaten hier vorüberzogen!« Bernhard schien über irgend etwas zu brüten und zu sinnen; denn er antwortete nicht, obwohl Ludwig jetzt wieder neben ihm stand. »Gib auf mich acht,« raunte er ihm nach einigen Augenblicken leise zu, »wir können vielleicht noch entkommen. Erreichen wir die Waldspitze hier, so sind wir geborgen, und an jenen drei hohen Fichten auf dem Hügel dort hinten wollen wir uns dann wieder treffen.«

Jetzt zitterte Ludwig. Sein Herz schlug heftig; er blickte nach dem Hügel hinüber und sah in blauer Dämmerung die drei Fichten stehen. Der Punkt war nicht zu verfehlen, in einer halben Stunde konnte er erreicht sein. Also aufs neue winkte ihm die Rettung. Bernhard zeigte sie ihm möglich, nahe, wahrscheinlich. Mit grausamer Gewalt riß ihn die Hoffnung wieder aus dem Gefängnis des Todes in das helle Licht des Lebens zurück. Gebrochen war jetzt die Kraft seiner festen Entsagung; alle lebendigen Triebe und Pulse des Lebens wachten wieder auf und schlugen mächtig in seiner Brust. Wenn ihm jetzt die Flucht mißlang, das fühlte er, dann wurde der Tod ihm schwer.

Kaum hatten diese Gedanken die Wogen seiner Brust stürmisch aufgejagt, als Bernhard den günstigen Augenblick ersah und plötzlich mit gewaltiger Kraft die beiden nächsten Soldaten neben ihm durch einen unvermuteten Stoß ins Genick vorwärts auf den Boden in den Schnee stürzte, mit einem Satz aus ihrer Mitte war und unter dem Ruf: »Mir nach, Bruder!« schnell wie ein Reh der Waldecke zuflüchtete. Er hatte so für sich und Ludwig die Bahn gebrochen; dieser, auf den Wink gespannt, sprang von der andern Seite hinweg und flüchtete ebenfalls über das beschneite Feld. Die Soldaten standen bestürzt. »Feuer nach!« rief der Offizier, und einige schossen. Aber zugleich waren andere schon in vollem Laufe den Fliehenden nachgestürzt und hinderten so die übrigen, ihre Gewehre abzuschießen, da sie ebensogut ihre Kameraden als die Entsprungenen treffen konnten. Alle warfen daher die Gewehre in den Schnee, um leichter zu sein, und liefen den Fliehenden nach. Ludwig suchte sich nahe an Bernhard zu halten, um sein Geschick nicht von dem des treuen Freundes zu trennen. Doch der Schwarm der Verfolgenden, der sich zwischen sie warf, zwang sie bald, verschiedene Richtungen zu nehmen. Flucht und Verfolgung wurden gleich beschwerlich, denn als man von dem steilen Gipfel des Hügels, wo der Wind den Schnee verweht hatte, weiter gegen den Wald hin gelangte, wo der Sturm ihn nicht so fassen konnte, sank der Fuß bei jedem Schritt tief ein. Schon sah Ludwig die schwarzen Tannengebüsche dicht vor sich, die ihm Rettung bringen sollten, schon wähnte er dem ungerechten Schicksal entgangen zu sein, als er plötzlich bis an den Leib und bei der nächsten Bewegung bis an die Brust in den Schnee sank, der, in der Erdspalte zusammengeweht, dieselbe mit seiner trügerischen Hülle nur leicht bedeckte. Er arbeitete mit aller Kraft der Muskeln, sich zu retten – doch vergeblich. In wenigen Sekunden hatten seine Verfolger ihn erreicht, packten ihn unbarmherzig mit nervigen Händen an und zerrten ihn an Armen und Haar empor.

Ach wie viele, die in diese kalten Gräber, in diese lauernden Fallgruben des schauerlichen Todes sanken, flehten vergeblich um eine rettende Hand! Ihn riß der Ingrimm wilder Schadenfreude aus dem geöffneten Schlunde des Todes zurück, um ihn dem noch gewissern Verderben selbst zu überliefern! Er bebte vor Frost und innerm Schauer; die Knie sanken unter ihm, denn die Kraft des Körpers und der Seele waren gleich erschöpft. Der jähe Wechsel zwischen Rettung und Verderben hatte ihn zerschmettert. Die ernste, ruhige Entscheidung seines Verhängnisses hatte er männlich, gefaßt ertragen; der Hohn des Schicksals, welches ihn dem Glück auf Augenblicke in den Schoß warf, um ihn in der nächsten Minute in desto tiefere Klüfte des Verderbens zu stürzen, ging über seine Kräfte hinaus. Er fühlte sich besiegt.

Unter rohen Mißhandlungen der Soldaten, von Faust- und Kolbenstößen vorwärtsgetrieben, wurde er mehr an den Ort, wo er sterben sollte, geschleppt, als er selbst dahin zu gehen vermochte. Sogar der höhnische Blick, womit Beaucaire ihn empfing, konnte ihm die Kraft nicht wiedergeben, um durch die letzten Augenblicke seines Lebens einen innern Triumph über diesen Elenden zu feiern. Nur nach Bernhard sah er sich angstvoll um, ob auch dieser jetzt wieder der Genosse seines traurigen Schicksals sein werde. Er bemerkte ihn nicht; die Verfolger mußten seiner noch nicht habhaft geworden sein. Die Hoffnung, daß der Freund gerettet sein könne, richtete ihn auf, wie tief er es auch empfand, daß der Tod ihm jetzt allein, ohne die tröstende Nähe der innern rüstigen Kraft Bernhards viel fürchterlicher entgegentrat als vor wenigen Minuten, wo er mit dem Wackern Arm in Arm den Weg des dunkeln Geheimnisses angetreten hatte.

Jetzt stand er an dem Pfahl. Zwei Soldaten waren beschäftigt, ihm mit einem Gewehrriemen die Arme auf dem Rücken zusammen und an den Pfosten zu binden, als fürchteten sie noch einmal seine Gegenwehr. Der Sergeant trat mit einem Tuche in der Hand auf ihn zu und sprach gerührt: »Ich will dir die Augen verbinden, Kamerad; es ist so besser.« Zuvor würde Ludwig die Binde verschmäht haben, jetzt ließ er den mitleidigen Kriegsgenossen gewähren. Da fiel ihm plötzlich ein, daß er ihn noch zum Überbringer seines letzten mündlichen Vermächtnisses machen könnte. »Mein Freund,« sprach er, während ihm dieser das Tuch über die Augen legte, »ihr wolltet mir einen letzten Liebesdienst erweisen. So geht denn, wenn ihr es möglich machen könnt, zu dem Obersten Rasinski, der unser Regiment befehligt, sagt ihm, wie ich gestorben sei, und bittet ihn, meine Schwester zu trösten. Und wenn ihr diesen Krieg überlebt, und in Warschau oder Dresden zu ihr gehen und ihr sagen wollt, daß –«

Plötzlich fielen einige Schüsse ganz in der Nähe. »Gilt das mir schon?« rief Ludwig, da der hinter ihm stehende Sergeant eben das befestigte Tuch losgelassen hatte und neben ihn getreten war. Doch dieser rief: »Teufel, was ist das?« und Ludwig hörte ihn hinwegspringen. Zugleich erhob sich ein verworrenes Geschrei und Getümmel und abermals fielen Schüsse ganz in der Nähe, so daß eine Kugel dicht an Ludwigs Ohr vorbeisauste. Fast in demselben Augenblicke hörte er Pferde in vollem Galopp hinter sich wegsprengen, und ein gemischtes Getöse von Kommandowörtern, verworrenem Geschrei, Waffengeklirr und Schüssen schallte um ihn her. »Vorwärts!« rief die Stimme des Sergeanten. »Schließt euere Glieder! Feuer!«

Ein Pelotonfeuer von etwa zwanzig Schüssen tönte schmetternd dicht vor Ludwigs Ohr; er wähnte, die Mündungen seien auf ihn gerichtet gewesen, und ein unwillkürlicher Todesschauer zuckte durch seine Glieder. Doch fühlte er sich lebend und unversehrt. Die dichte Finsternis, die ihn umgab, die Bande, die ihn fesselten, die äußerste Spannung aller seiner Nerven und Sinne jagte eine Flut verworrener Vorstellungen in ihm auf. Da er links Angriffsgeschrei und das Stampfen der Rosse hörte, glaubte er einen Augenblick, Rasinski komme mit seinen Reitern, um ihn zu befreien. Doch bald hörte er den heulenden Schlachtruf der Russen. Ein »Hurra« teilte die Lüfte. Die Waffen tobten an ihm vorbei; Pulverdampf drang ihm ins Gesicht, Geschrei, Ächzen, Waffengeklirr brausten um ihn her. Er war mitten im Gewühl des Gefechts; vergeblich strebte er seine Bande zu sprengen, um die Hülle von seinen Augen zu reißen; es blieb Nacht um ihn her. »Ist denn alles ein wüster, fürchterlicher Traum,« rief er endlich aus gepreßter Brust und wandte das Antlitz flehend gen Himmel; »erweckt mich denn niemand und endigt diese furchtbaren Qualen?« Doch keine Hand berührte ihn, und das Getümmel verlor sich nach und nach in die Ferne. So vergingen einige Minuten der unbeschreiblichsten Erwartung. Ludwig wand sich in seinen Banden; ein dunkler Trieb sagte ihm, er könne sich retten, wenn er sie sprenge, doch er vermochte es nicht. Da hörte er wieder verworrene Stimmen allmählich näher herankommen, rasche Schritte eilten auf ihn zu, und plötzlich riß eine rauhe Hand ihm die Binde von den Augen.

Staunend sah er umher; drei Männer mit langen Bärten, die er auf den ersten Blick für russische Bauern erkannte, standen vor ihm und blickten ihn mit einem Gemisch von Hohn und Verwunderung an. Auf dem Boden lagen die Leichname zweier französischer Soldaten und einige weggeworfene Gewehre. Ludwig sah sich in der Gewalt der Feinde, die ein seltsames Geschick zu seinen Rettern gemacht zu haben schien. Der Sprache fast ganz unkundig und von den Ereignissen noch fast betäubt, wollte ihm in diesem Augenblicke kein Wort einfallen, wodurch er seine Bitte um Rettung ausdrücken konnte. Doch redete sein flehender Blick, seine gefesselten Hände eine unverkennbare Sprache. Allein der Haß der Feinde wollte sie nicht hören, sondern übertobte in seinem grimmigen Brausen die zartere Stimme des Mitleids. Der eine der drei Männer hob sein Gewehr empor und wollte den Gefangenen mit dem Kolben niederschlagen; der Gefesselte konnte nur das Haupt hinwegkrümmen, ohne die Arme schützend vorzustrecken. Da hemmte plötzlich eine Hand den zum Streich aufgehobenen Arm; es war die Gestalt eines ehrwürdigen Greises, der, in einen dunkeln, weiten Pelzmantel gehüllt, vom Walde her eben herantrat. Sein Anblick wirkte auf Ludwig, als ob der milde Strahl des Morgens in die düstere Nacht seiner Schreckensträume dringe. Mit sanfter, ernster Stimme sprach der Greis einige Worte der Abmahnung. Die drei Männer zogen ihre Pelzmützen ab und verbeugten sich, die Arme über der Brust kreuzend, mit Ehrfurcht gegen ihn. Jetzt erkannte Ludwig in ihm den Engel der Rettung; seine patriarchalischen Züge, die milde Hoheit seiner Stirn verbürgten es, daß er ihn retten, nicht zu grausamer Qual aufsparen wollte. Der Bauer, der zuvor mit dem Kolben gedroht hatte, nahte sich jetzt mit einem Messer dem Gebundenen und zerschnitt den Riemen, der ihn fesselte. Ludwig war frei, gerettet! Voller Dankbarkeit ergriff er die Hand des Greises, doch dieser machte eine ernst abwehrende Bewegung, als wolle er sagen: Ich wollte dich als einen hilflos Gebundenen nicht grausam morden lassen; aber du bist der Feind meines Vaterlandes, meines Gottes, und frevelst an allem, was uns heilig ist, darum habe ich keinen Teil an dir. Die Bauern nahmen ihn als Gefangenen in ihre Mitte und trieben ihn an, vorwärts gegen den Wald zu zu gehen. Indem Ludwig ihnen folgte, kam er so dicht an einem der gebliebenen französischen Soldaten vorbei, daß er dessen Angesicht erkennen konnte. Es war der redliche Landsmann Cottin, der ihm gestern das Brot gereicht hatte. Wie seltsam ist das Schicksal, dachte er bewegt; du, der du mich noch vor wenigen Minuten als einen hoffnungslos Verlorenen bedauertest, du liegst nun entseelt vor mir! Redliches Herz, mögest du ein Glück finden jenseit dieser Todesruhe! Es gibt keine Wahrscheinlichkeit mehr! Nun so will ich denn auch nicht mehr hoffen, nicht mehr fürchten, mag das Schwert des Todes nahe oder fern über meinem Haupte schweben. Durch diesen Gedanken neu aufgeregt und gestärkt, ging er festen Schrittes zwischen seinen Führern hin. Mit Sorge spähte sein Auge in dem frischen Schnee nach den Spuren von Bernhards Flucht, doch war das ganze Schneefeld jetzt so verworren von menschlichen Fußtritten und Rosseshufen gekreuzt, daß selbst das geübte Auge eines nordischen Nomaden schwerlich noch eine bestimmte Richtung einzelner Spuren unterschieden hätte.

Man erreichte in wenigen Minuten den Wald, der bald sehr dicht wurde. Nach etwa einer Viertelstunde machten die Leute auf einem Platze, wo schon mehrere der ihrigen auf sie harrten, halt; nach und nach kamen andere Truppen des Weges von Smolensk her und mehrere von ihnen brachten einzelne französische Soldaten als Gefangene mit. Ludwig sah mit Anteil umher, ob vielleicht der Sergeant dabeisein möchte, doch konnte er ihn nicht entdecken. Ein neuer Trupp kam aus dem Gebüsch; inmitten dieser Leute, welche einige Kosaken zu Pferde begleiteten, mußten sich ebenfalls Gefangene befinden, denn Ludwig hörte ihre kläglichen Bitten um Schonung. Teilnehmend suchte er in dem verworrenen Haufen seine Unglücksgefährten zu erkennen. Endlich öffnete sich derselbe, und – ein Grauen durchbebte seine Brust, er erblickte Beaucaire und St.-Luces, die halb nackt, vor Kälte und Angst zitternd, inmitten der frohlockenden Barbaren geführt wurden. »Allwaltender Gott!« rief er erschüttert unwillkürlich aus, »verworfen sei der, der an deiner lenkenden Hand zweifelt!« In diesem Augenblick trafen die Blicke der Gefangenen auf Ludwig, den man, sei es Zufall oder Mitleid, nicht beraubt hatte. St.-Luces verbarg sein Angesicht in beiden Händen und stand mit schlotternden Knien da. Doch Beaucaire biß ingrimmig die Zähne zusammen und murmelte einen nur halb verständlichen Fluch, von dem Ludwig nur die Worte Verräter und Spion unterschied. Er blickte den Elenden mit Würde an und rief ihm zu: »Ihr irrt euch! Ich bin nur ein Gefangener wie ihr! Das Walten des Ewigen hat euch euere Strafe gesandt! So hoffe ich, wird er mir seinen Schutz auch noch ferner angedeihen lassen.«

Die Russen, wie Ludwig jetzt sah, fast nur bewaffnete Landleute, schienen nunmehr beisammen zu sein. Sie trieben ihre Gefangenen auf einen Fleck, nahmen sie in die Mitte und brachen dann auf, um weiter durch den Wald zu ziehen.


 << zurück weiter >>