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Marie hatte nur noch so lange in Teplitz verweilen wollen, bis ihre Mutter bestattet war und die mancherlei unerläßlichen Schritte, welche die gesetzlichen Pflichten bei Todesfällen herbeiführen, geschehen seien. Alsdann war es das Natürlichste für sie, zu der Schwester, der Dahingeschiedenen zu reisen und sich dem Schutze dieser, ihr so herzlich wohlwollenden Verwandten anzuvertrauen. Vorläufig hatte sie das traurige Ereignis durch einen Brief berichtet, auf den sie jedoch bis jetzt noch die Antwort erwartete.
Nach der unruhig und kummervoll halb durchwachten Nacht wurde sie endlich durch einen sanften Morgenschlummer mit beruhigenden Träumen erquickt, der sie bis weit über die gewöhnliche Stunde in seinen süßen Fesseln hielt. Als sie die Augen aufschlug, war es hoher Tag, so daß die Sonne schon über die Dächer der gegenüberstehenden Häuser ins Gemach schien. Fast beschämt über den langen Schlaf kleidete sie sich eilig, doch still an und trat in das gemeinschaftliche Frühstückszimmer. Mit Erstaunen sah sie gleich beim Öffnen der Tür einige fremde Damen in Trauerkleidern sitzen; doch ehe sie nur Zeit zu einer Vermutung hatte, fühlte sie sich schon von liebenden Armen umfangen. Es war Emma, die seitwärts von der Tür am Fenster sitzend, die Eintretende zuerst gesehen und erkannt hatte. Der freudig überraschte, doch wehmütige Ausruf beider Mädchen bewirkte, daß auch die andern Frauen, die Mariens leises Öffnen der Tür nicht bemerkt hatten, aufsprangen und ihr entgegeneilten. Es war Julie und ihre Mutter; alle drei kamen, um Marien in ihrer traurigen Einsamkeit aufzusuchen und sie liebend zurückzugeleiten.
Liebe und Freundschaft wetteiferten. Die Gräfin und Lodoiska wollten Marien noch nicht von sich lassen, ihre Verwandten sie so schnell als möglich zu sich nehmen. Endlich wurde beschlossen, daß die Gräfin und Lodoiska Marien auf einige Tage auf das Gut begleiten sollten, und man setzte die Abreise für den nächsten Morgen fest.
Nachdem man eine Zeitlang im vertraulichen Gespräche zugebracht, äußerten die Angekommenen den Wunsch, das Grab der Hingeschiedenen zu besuchen. Marie führte sie dahin. Als sie das Tor fast erreicht hatten, sahen sie in einer Seitenstraße einen Auflauf von Menschen, der die Gasse stopfte. Sie wollten sich eben nach der Ursache erkundigen, als Benno an sie herantrat und ihnen erzählte, man habe einen Beamten der Post wegen eben entdeckter, grober Veruntreuungen an Geldern und Geldbriefen verhaftet, und soeben sei das Gericht beschäftigt, die Wohnung des ins Gefängnis Abgeführten zu durchsuchen, seine Papiere in Beschlag zu nehmen und dann alles zu versiegeln.
Diese Begebenheit an sich würde nur eine entferntere Teilnahme in Marien erregt haben, wenn sie nicht fürchtend geahnt hätte, daß sie selbst eine schwer Beteiligte bei dieser Treulosigkeit sei. Jetzt war es möglich, ja sogar wahrscheinlich, daß St.-Luces von allem unterrichtet sei, daß seine Warnung Grund hatte. Aber auch vor ihm war sie gewarnt worden! Wer half ihr diese Rätsel lösen? Wer kannte alle ihre geheimsten Verhältnisse so genau? War sie rings mit Netzen umstellt? Bewacht, belauscht, beobachtet von allen Seiten?
Indem sie noch diesen beängstigenden und verwirrenden Gedanken nachhing, trat ein hübsches Blumenmädchen, dessen Äußeres jedoch einen leichtfertigen Lebenswandel zu verraten schien, ihr entgegen und bot ihr Sträuße zum Kauf an. Marie wies sie zerstreut ab; das Mädchen erneuerte jedoch ihre Bitte mit dem freundlichen Talent überredender Verkäuferinnen. »Diesen Strauß nehmen Sie mir gewiß ab,« sprach sie; »es sind drei Rosen darin bei so später Jahreszeit.« Zugleich drückte sie ihn Marien fast gewaltsam in die Hand und sprach dabei leise die Worte: »Um Ihres Bruders willen!« Marie erschrak, das Mädchen lächelte und fuhr mit verstellter Unbefangenheit fort zu bitten. »Ja, diesen behalten Sie, der ist der schönste von allen und kostet nur drei Kreuzer!« Marie wollte das Mädchen befragen, doch diese verschloß ihr die Lippen mit einem Wink des Auges und den leise geflüsterten Worten: »Strenges Geheimnis!«
Indessen hatte Benno sich höflich zeigen und dem Mädchen Sträuße für die Damen abkaufen wollen. Er tat es, die Kleine nahm das Geld mit vergnügter Miene, winkte Marien noch einmal zu, als wolle sie sagen: verrate dich mit keiner Silbe – und schlüpfte dann leichtfüßig hinweg, um auch andern Vorübergehenden ihre duftende Ware anzubieten.
Marie war so betroffen von dem Ereignis, daß sie zitterte; selbst an der Gruft der Mutter, die man bald erreichte, waren ihre Gedanken nicht bei der Toten, sondern mitten in den Verwirrungen der Welt. Zu ungeübt in den kleinen Kunstgriffen der Liebensintrigen, hatte sie gar nicht daran gedacht, den Strauß näher zu untersuchen; ein zufälliger Blick ließ sie erst ein Streifchen Papier darin wahrnehmen. Mit gespannter Erwartung zog sie es unbemerkt hervor und las darauf die Worte: »Sie können Ihren Bruder retten, wenn Sie diesen Abend mit dem Schlage der neunten Stunde allein in den Schloßgarten an die alte Linde kommen. Er ist verloren, wenn Sie ausbleiben oder eine Silbe verraten. Zum zweiten Male warnt man Sie vor St.-Luces!«
Wie erstarrt stand sie, nachdem sie diese Zeilen gelesen. Welch ein neues schreckenvolles Geheimnis! Also diese Einladung und die gestrige Warnung kamen von derselben Hand? Immer labyrinthischer verschlangen sich die Pfade ihres Lebens, immer gefahrvoller liefen sie am Abgrunde dahin. Ach, sie fühlte es nur zu tief, ein Sturm hatte sie weit verschlagen von der heiligen Insel der unbefangenen Kindheit. Den sanften Wiesenteppich, auf dem sie bisher zwischen friedlicher Umbuschung, unbemerkt, doch glückselig dahingewandelt war, hatte ein furchtbares Erdbeben erschüttert und verschlungen. An seiner Stelle wogte der unbegrenzte, heimatlose Ozean und trieb sie auf seinen Wellen an gefährlichen Klippen dahin. Sollte sie das Geheimnis entdecken? Sollte sie sich denen, die sie liebten, anvertrauen, sich in ihren Schutz stellen? Aber vermochten diese den Bruder zu retten, wenn boshafte Tücke ihn verderben wollte? »Nein, ich will es wagen; es ist meine heilige Pflicht, es zu wagen,« dachte sie entschlossen; »endlich müssen diese Rätsel sich lösen. Und wer sagt mir denn, daß ich einem neuen Unheil entgegengehe? Könnte es nicht ein großmütiger Freund sein, den ich, wenn ich das Schweigen bräche, ins Verderben stürzte? Du, meine Mutter, blickst aus jenen seligen Höhen in mein angsterfülltes Herz, dein Schutzgeist wird mich schirmend umschweben, ihm will ich mich anvertrauen.« Nach diesem festen Entschluß wurde ihre Seele wieder ruhiger.
Der Tag verstrich, die neunte Stunde nahte heran. Marie ging auf ihr Zimmer, siegelte den geheimnisvollen Zettel, den sie erhalten hatte, ein und legte ein Blatt dazu, auf welches sie die Worte schrieb: »Dies soll mich rechtfertigen, wenn ein unwürdiger Verdacht mich trifft, retten, wenn mir Gefahr droht; es lehrt euch, wo ich bin.« Auf das Kuvert schrieb sie: »An meine Lieben! Doch nur dann zu eröffnen, wenn ich um Mitternacht nicht zurück bin.« Diesen Brief legte sie auf ihren Tisch und verließ dann, in einen Mantel gehüllt, tief verschleiert, leise das Gemach und das Haus, um sich auf der bestimmten Stelle einzufinden.
Es war schon ganz dunkel und völlig einsam; sie bebte, aber sie blieb entschlossen. Schüchtern trat sie in die dunkeln Laubgänge ein; die bezeichnete Linde stand im einsamsten, entferntesten Teile des Gartens. Dies vermehrte ihre Besorgnisse. Ein Gartenarbeiter begegnete ihr und sah sie verwundert an. Plötzlich fiel ihr ein, daß sie sich den Beistand dieses Mannes sichern könne, ohne ihm irgend etwas zu entdecken. Sie wandte sich um, ging ihm nach und redete ihn an: »Mein Freund, wollt ihr ein gutes Trinkgeld, vielleicht noch mehr verdienen?«
»Dazu bin ich jetzt und alle Tage bereit.«
»So bleibt eine Stunde auf dieser Bank sitzen, oder verweilt doch ganz hier in der Nähe; doch sorgt, daß man euch nicht bemerkt. Nehmt dies als Angeld; wenn ich zurückkehre, erhaltet ihr das Dreifache. Hört ihr mich aber laut um Hilfe rufen, so eilt schnell nach der großen Linde dort unten an der Gartenmauer.«
»Da wo der Herr im Mantel steht?« fragte der Arbeiter. – »Ganz recht«, erwiderte Marie nicht ohne Schreck. – »Hm! Hm! Euer Gnaden sollten lieber gar nicht hinuntergehen«, meinte kopfschüttelnd der Arbeiter. »Dem Herrn sind fremde Leute gerade so lästig im Garten, als sie Euer Gnaden nötig sein mögen. Er hat mir eben fünf Gulden geschenkt, damit ich aufhörte zu arbeiten und nach Hause ging.« »Es mag schon sein,« sprach Marie bebend, »ich will auch nicht, daß ihr dorthin kommen sollt; aber bleibt hier in der Nähe«; dabei gab sie ihm noch einige Geldstücke.
Der Arbeiter schüttelte bedächtig den Kopf und schwieg einige Augenblicke; endlich sprach er: »Je nun, an mir soll's nicht fehlen, ich will schon hier bleiben und Euer Gnaden können sich auf mich verlassen. Aber nehmen Sie sich ja in acht; der Herr hat so ein Ansehen wie ein italienischer Spitzbube, die ich kennen gelernt habe, als ich mit dem Herrn Fürsten Clary als Bedienter in Neapel war. Doch vergeben Euer Gnaden nur mein Geschwätz; Sie werden ja wohl wissen, mit wem Sie zu tun haben.«
»Jawohl, jawohl!« sprach Marie mit einem Tone, der das Gegenteil ausdrückte. Sie wankte in ihrem Entschlusse. Doch mit erneuter Kraft sprach sie zu sich selbst: »Du hast das Teuerste, deinen Ruf, bereits darangewagt, und solltest jetzt für dein Leben zittern? Torheit! Und was könnte dein Tod irgend jemand frommen? Es ist nichts; die Furcht ist eingebildet, deine Schwesterpflicht fordert diesen Gang von dir.«
Raschen Schrittes setzte sie ihren Weg fort. Als sie in der Nähe der Linde war, sah sie eine dunkle, verhüllte Gestalt unter derselben auf und nieder gehen. Zögernd näherte sie sich. Der Unbekannte hatte sie jedoch kaum erblickt, als er rasch auf sie zueilte und sie mit den Worten anredete: »Ich freue mich, daß Sie den Mut haben, meiner Aufforderung zu folgen.«
Ein eiskalter Schauer überlief Marien, als sie diese Stimme vernahm; es war Beaucaire, vor dem ein unüberwindlicher Widerwille sie vom ersten Augenblicke an gewarnt hatte. Doch faßte sie sich, weil sie deutlich empfand, es sei notwendig, sich diesem Manne gegenüber mit aller Festigkeit, mit allem Adel zu waffnen, den das Gefühl der Unschuld und des Rechts einem weiblichen Wesen verleihen kann. »Ich mußte in der Tat wohl,« entgegnete sie, »da Sie mich durch eine geheimnisvolle Drohung hierher schreckten, die mir einen gewagten Schritt zur Pflicht machte, den ich sonst um keinen Preis getan haben würde.«
Beaucaire schien mißvergnügt über diese Antwort, die ihn durch die Bestimmtheit, mit der sie gegeben wurde, sehr weit von dem Ziele seiner Wünsche zurückwarf. Er fühlte, daß er keinen leichten Stand haben werde; deshalb be- schloß er mit der eisernen Stirn schamlosester Frechheit vorzudringen. »Sie nehmen,« sprach er, »einen stolzen Ton an, der Ihnen, wie mich dünkt, nicht wohl geziemt. Wissen Sie denn, daß das Schicksal Ihres Bruders in meiner Hand steht, daß ich allein es vermag, ihn zu retten und zu verderben. Ich kenne seinen Aufenthalt; er hat ihn schlau genug da gewählt, wo man ihn am wenigsten suchen durfte, bei dem Heere.« Marie stand sprachlos da; der Schrecken hatte ihr den Atem genommen. »Sie dürften also,« setzte Beaucaire mit ironischer Betonung hinzu, »wohl noch etwas mehr tun, als ich Ihnen bis jetzt zugemutet habe, falls es Ihnen auf den Beistand eines Mannes ankommt, auf dessen Lippen das Leben Ihres Bruders schwebt. Doch, ist Ihnen unwohl geworden?«
Marie war genötigt gewesen, sich erschöpft gegen den Stamm der Linde zu lehnen. Beaucaire führte sie, indem er sie mit unzarter Dreistigkeit fast umschlang, an eine wenige Schritte entfernte Gartenbank.
»Sagen Sie mir,« sprach Marie mit Anstrengung, »was ich für meinen Bruder tun kann. Ich werde das Schwerste nicht scheuen, ich darf es nicht; der volle Dank einer liebenden Schwester ist Ihnen gewiß, wenn Sie mir großmütig die Wege der Rettung zeigen.« – »Vor allen Dingen geben Sie mir,« fiel Beaucaire rasch ein, »genau an, wie ich Ihrem Bruder Papiere von Wichtigkeit aufs sicherste zustellen kann, denn er muß schleunig benachrichtigt und mit Mitteln zur Flucht versehen werden, weil seine Entdeckung an Tagen, vielleicht an Stunden hängt.«
Marie hatte wieder so viel Besonnenheit gewonnen, daß sie sich durch die hinterlistige Frage Beaucaires nicht überraschen ließ. »Was Sie meinem Bruder senden wollen, übergeben Sie mir,« sprach sie rasch; »ich befördere es sicher zu ihm. Einen andern Weg kann ich Ihnen nicht angeben.«
Beaucaire biß die Zähne vor Verdruß über diese Antwort zusammen; Marie hatte sie kaum gegeben, als sie selbst über den glücklichen Ausweg erstaunte, den sie wie durch eine höhere Eingebung gefunden hatte. Freilich aber waren in dem kurzen Zeitraume von wenigen Sekunden ihrer Seele eine Reihe von Gedanken und Verknüpfungen der Umstände vorübergezogen, die sie notwendig mit dem äußersten Verdacht gegen Beaucaire erfüllen mußten. Der Vorfall mit dem Postbeamten ließ ihr jetzt fast keinen Zweifel mehr, daß das Briefgeheimnis auch in bezug auf sie verletzt sein müsse; sie rief sich dabei mit möglichster Genauigkeit den Inhalt von Ludwigs letztem Briefe zurück, um zu erwägen, ob etwas darin enthalten sei, was seinen Aufenthalt, seinen Namen und seine sonstigen Verhältnisse näher bezeichnete. Mit leicht aufatmender Brust gewann sie die Überzeugung, daß durch den Brief nichts verraten sein konnte als sein Aufenthalt bei dem Heere. Mit jenem Scharfblick, jenen erhöhten Seelenkräften überhaupt, die der Himmel im Augenblicke der Bedrängnis unschuldigen Seelen verleiht, entdeckte die sonst so Arglose jetzt das Gewebe der Bosheit, mit dem man sie umgarnen wollte, ohne jedoch die schwärzesten Tiefen des Abgrundes zu ahnen, in den Beaucaire sie hinabreißen wollte.
»Sie scheinen mir,« sprach er endlich mit empfindlichem Tone, »nicht zu trauen, obgleich ich Ihnen durch unsere Zusammenkunft doch wohl einige Beweise meines guten Willens, Ihnen hilfreich zu sein, gegeben habe. Bedenken Sie jedoch, daß auch ich Ursache habe, vorsichtig zu sein; in meiner Stellung sollte ich durchaus rücksichtslos verfahren, den Weg des strengen Gesetzes gehen. Wage ich aus Mitleid eine Umgehung, so muß ich volle Gewißheit haben, daß mich keine Verantwortlichkeit deshalb treffen kann. Auf so gefährlichen Pfaden kann man aber nur sich selbst vertrauen.« – »Wie?« rief Marie lebhaft, »fürchten Sie von der Schwester, der Sie den Bruder retten, verraten zu werden?«
»Nicht absichtlich; doch Unvorsichtigkeit, Mangel an Einsicht, an Kenntnis der Verhältnisse –«
»Dies alles ist hier unmöglich,« fiel Marie ein; »denn der Weg, den ich einzuschlagen habe, ist zu einfach, als daß ich ihn verfehlen könnte.« – »Sie mißtrauen mir also?« sprach Beaucaire ergrimmt. Marie erbebte; es war nicht ihre Absicht, ihn zu reizen. Sie entgegnete daher mit sanftem Tone der Stimme: »Ich habe ein fremdes Geheimnis zu bewahren; Sie werden gewiß nicht fordern, daß ich es verletze. Aus der Treue, mit der ich dieser ältern Pflicht obliege, mögen Sie die Überzeugung schöpfen, daß ich um so vorsichtiger und gewissenhafter gegen Sie handeln werde, da Sie mir eine Wohltat erzeigen wollen, welche meine lebenslängliche Dankbarkeit nicht zu vergelten imstande wäre.«
Beaucaire fühlte sich verwirrt; das edle, feste und doch so weiblich sanfte Benehmen Mariens übte selbst auf sein entartetes Herz eine so unwiderstehliche Macht aus, daß er fast den Mut verlor, ihr die empörenden Anträge zu machen, um derentwillen er diese einsame Zusammenkunft mit ihr gesucht hatte. Unwillkürlich hatte sein Gespräch mit ihr, das er durch den Schreck der ersten Drohungen seinem Ziele entgegenzulenken versuchte, eine völlig andere Richtung genommen, und er sah sich jetzt fast abgeschnitten von dem Wege, den er zu gehen gedacht hatte. Doch der Verdruß über sich selbst, daß seine festen Entschlüsse durch wenige Worte eines Mädchens wankend gemacht werden sollten, diese falsche Scham verhärteter Unwürdigkeit trieb ihn an, plötzlich seine Larve wegzuwerfen. »Auf Dank,« sprach er, »hoffe ich allerdings und darf ihn erwarten, da eine schöne Schwester gerade die besten Mittel besitzt, um für einen wichtigen Dienst, den man dem Bruder leistet, die Schuld abzutragen.« Mit diesen Worten ergriff er die rechte Hand Mariens mit seinen beiden und drückte und küßte sie auf eine Weise, die dem erschreckten Mädchen plötzlich einen neuen Blick in den schwarzen Hintergrund seiner Absichten öffnen mußte. Scheu sprang sie auf und rief: »Mein Gott, was wollen Sie?« Beaucaire aber hielt sie fest, wollte sie wieder zu sich herabziehen und sprach: »Nicht so schüchtern, Liebe, das Leben eines Bruders ist doch wohl den Kuß einer Schwester wert!«
»Unwürdiger!« rief Marie, die jetzt den ganzen Umfang seiner Abscheulichkeit überschaute, in überwallender Empörung: »Lassen Sie mich oder ich rufe um Hilfe!«
»Gemach, gemach,« entgegnete Beaucaire, ohne die heftig sich Sträubende loszulassen; »hören Sie mich an. Ihr Bruder ist bei der Armee; morgen gehe ich nach dem Hauptquartier ab. Dort werden zwei Stunden genügen, den Aufent- halt dessen, den ich suche, auszukundschaften, und vierundzwanzig Stunden sind hinreichend bei dem Kriegsgericht, um von der Anklage bis zur Vollstreckung vorzurücken. Ihr Bruder hat den Tod verwirkt, sein Leben ist in meiner und in Ihrer Hand. Wollen Sie –«
»Nimmermehr!« rief Marie, und riß sich gewaltsam von ihm los. »Mein Bruder würde ein Leben verachten, das er so erkaufen müßte! Wagen Sie nicht, mir zu nahen, ein einziger Ruf führt mir Hilfe herbei.« – »Fürchten Sie keine Gewaltsamkeit,« entgegnete Beaucaire mit verbissenem Grimm, »ich bin kein Raubtier, das Sie zerreißen will. Doch rate ich Ihnen jetzt zum letzten Male,« fuhr er hierauf mit schneidender Kälte fort, »verschmähen Sie mein Anerbieten nicht. Hier hinter dem Schloßgarten hält ein Wagen; er bringt Sie an einen sichern Ort. Dort treffe ich Sie in zwei Stunden und händige Ihnen dann Papiere ein, mittels deren Ihr Bruder ungehindert nach England, wo er in völligster Sicherheit ist, gelangen kann. Sie selbst mögen sie ihm auf Ihrem Wege zustellen. Erklären Sie sich jetzt.«
Marie stand im heftigsten Kampfe mit sich selbst da. Plötzlich warf sie sich zu Beaucaires Füßen nieder, umschlang seine Knie mit angstvollem Schluchzen und rief: »Nein, es ist unmöglich! Ich glaube nicht an den Ernst Ihrer furcht- baren Drohungen. Es ist nur ein grausamer Scherz, aber er ist zu grausam. Hören Sie auf, ich flehe Sie an, machen Sie meiner Angst, meinen Tränen ein Ende. Lassen Sie mich nicht länger auf dieser namenlosen Folter. Ich tat Ihnen Unrecht, gewiß schreiendes Unrecht, und Sie strafen mich jetzt dafür. Aber es ist genug, ich habe genug gebüßt! Kehren Sie nun zur Wahrheit zurück! Ach, Sie kennen nicht die Angst einer Schwester, die für das Leben ihres einzigen Bruders, ach, des einzigen, was sie noch auf dieser Erde besitzt, beben muß.«
»Stehen Sie auf, es kommt jemand«, sprach Beaucaire heftig, aber leise. Es war der alte Gartenarbeiter, der, durch das lebhafte Gespräch aufmerksam gemacht, sich näherte. »Nein, nein!« rief Marie, »nicht eher, bis Sie mir schwören –«
»Sie sind wahnsinnig«, entgegnete Beaucaire wild und riß sie gewaltsam empor. »Wollen Sie mir folgen oder nicht? denn die Zeit verstreicht!«
»Nimmermehr!« rief Marie mit zurückkehrender Kraft und Besinnung, indem sie sich groß emporrichtete. »Mein Bruder müßte mich verfluchen und ich mich verachten. Geh denn hin, blutiges Ungeheuer, und übe deine Schandtat aus! Füge auch diesen Greuel zu den namenlosen Verbrechen, die euer freches Volk in unserm Vaterlande begeht. Ich frage nach nichts mehr! Der Tod ist ein Augenblick, das Jenseits ist ewig. Morde mich auch, wenn du willst. Wir zittern nicht vor dem Tode! Ich, ein Mädchen, weiß zu sterben; glaubst du, unsere Männer wüßten es nicht? Segnen wird mich mein Bruder, daß ich's ihm erspare, sein Leben auf eine so schimpfliche Weise zu retten.«
Beaucaire stand, von Grimm und Scham gefoltert, vor der edel zürnenden Gestalt; er scheute sich zu flüchten und wagte nicht zu bleiben. »Sie werden Ihre Raserei bereuen!« rief er endlich, da der Gartenarbeiter näher und näher herantrat, mit jener klanglosen Stimme unterdrückter Wut. Hierauf drückte er sich den Hut in die Augen und verschwand mit schnellen Schritten in den dunkeln Laubgängen.
Marie hatte sich das weinende Antlitz verhüllt; nach einigen Augenblicken erhob sie es wieder und sprach, indem sie gen Himmel blickte: »Du, meine Mutter, die du dort oben in den Sternen weilest, du wirst mich trösten und beschützen, wenn ich nun ganz allein bin auf dieser Erde.« Erschöpft schwankte sie der Bank zu und setzte sich. Da trat der wohlwollende Alte zu ihr hin und fragte: »Habe ich unrecht getan, Euer Gnaden zu stören? Aber weiß Gott, ich hörte so heftig sprechen, daß mir bange wurde, es geschehe ein Unheil.« – »Nein, guter Alter,« erwiderte Marie, »ihr tatet recht wohl! Aber wolltet ihr mich jetzt wohl nach Hause geleiten? Ich bin so erschöpft; ich will's euch gern vergelten.« – »Mit tausend Freuden,« sprach der Greis, und Marie verließ, auf seinen Arm gestützt, mit wankenden Schritten den Garten.