Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Fünftes Kapitel.

Die feindlichen Geschütze sind erbeutet, der Gegner geworfen. Doch bald nehmen ihn geordnete Scharen auf, und er scheint den Kampf nochmals erneuern zu wollen. Allein er erkennt, daß er weichen muß, aber er will nicht fliehen. Das grimmige Antlitz gegen die Schlacht gewendet, zieht er sich langsam zurück in neue, sichere Stellungen. Seine Hügel, seine Flüsse werden zu mächtigen Verteidigern des Vaterlandes. Kein Regendach, der nicht die steil ausgespülten Ufer den heimatlichen Söhnen zur Brustwehr darbietet, um sie gegen den nachdringenden Feind zu schirmen; kein Hügel, der sich nicht zur Feste gestaltet, um dem Verfolger aufs neue einen Damm entgegenzustellen, an dem er seine erschöpfte Kraft vollends zerschellen mag. So wurde es denn nicht die Aufgabe der leichten Reiterei, in die flüchtenden Scharen vollends Verwirrung und Verderben zu tragen; es folgte nach dem ernsten Spiel der Schlacht nicht das leichtere, dem Feinde reiche Beute abzunehmen, oder Scharen von Gefangenen im Triumphe einzuführen. Nur die ehernen Geschosse der Artillerie hefteten sich grimmig an die Fersen der langsam Weichenden und sandten ihnen den Tod nach, bis die heilige stille Nacht den Jammer und das Entsetzen dieses Tages schauerlich in ihren dunkeln Mantel verhüllte.

Um die nachrückenden Batterien gegen die feindliche Kavallerie zu decken, war Rasinski mit seinem Regimente bis zum Abend fortwährend im Gefecht gewesen. Jetzt, da die Nacht sich herabsenkte und auch dieser letzte Kampf ein Ende hatte, ritt er mit den Seinigen langsam über das Schlachtfeld zurück, um sich die Biwaksstätte aufzusuchen. Die tiefe Dämmerung ließ nichts mehr deutlich unterscheiden; der Himmel war mit dichten Wolken bezogen, ein kalter, feiner Regen, vom rauhen Herbstwinde gejagt, schlug den ermüdeten Kriegern ins Gesicht. Nach dem furchtbaren Getöse des Tages war eine tiefe, schauerliche Stille eingetreten. Nur in den bewegten Kronen der Wälder tönte ein hohles Sausen und Rauschen, und flatternde Raben, die schon ihre Beute witterten, krächzten über den Häuptern der Reiter. Wie die Natur ringsumher, so sah es in jeder Brust aus. Ein tiefes, düsteres Schweigen hielt die Lippe gefesselt. »Ist das das Gefühl eines Sieges?« dachte Ludwig und bebte innerlich zusammen. Sein Los erschien ihm in diesem Augenblicke wie ein schwerer düsterer Traum, aus dem er erwachen müsse. Staunend und bebend warf er einen Blick rückwärts auf die Bahn seines Lebens, die so plötzlich aus sanfter Ebene die steilsten Höhen hinangeklimmt war und an den dunkelsten Tiefen dahinleitete. Vor wenigen Monden, als der Lenz eben die Knospen der Bäume auf den italischen Fluren öffnete, wehte noch sanfte Ruhe, stille Heiterkeit in seiner Brust. Er sah das Leben ernst an, manche trübe Wolke zog an seinem Himmel vorüber; doch fühlte er sich in den nächsten beschränkten Verhältnissen glücklich und befriedigt. Damals baute er schöne Luftschlösser, von einer friedlichen, vom Geräusch der Welt abgesonderten Zukunft. Er dachte an Marien, an die Mutter, an ihre traute Häuslichkeit, an den Ernst der Wissenschaft und des Geschäfts, das seiner harrte; er fühlte sich glücklich als Sohn und Bruder. Selbst die wunderbaren Regungen seiner Brust, welche die holde, süßlockende Gestalt, der er am Fuße des St. Bernhard begegnet war, erweckt hatte, führten nur ein Lächeln wehmütiger Sehnsucht auf seine Lippen. Was er stets als einen Traum, als eine flüchtig zerrinnende Erscheinung betrachtet hatte, das konnte keine tiefen Wurzeln des Grams in seine Seele treiben.

Er kannte nur den Kummer um das Los seines Vaterlandes, der freilich dunkle Schatten auf den Hintergrund seiner sonnigen Lebensflur warf, und jenen Schmerz, man möchte ihn oft auch ein Glück nennen, den das unbefriedigte, unbestimmte Drängen und Treiben erzeugt, welches in jeder jugendlichen Brust stürmt. Mit diesen Gefühlen stieg er den Hügel vor Duomo d'Ossola hinan; da erblickte er das geheimnisvolle Zeichen des grünen Schleiers – und von jenem Augenblicke an wurde die leise bewegte Flut seines Lebens in stürmischen Wellen gehoben, und die Woge verschlug ihn wild in die weiteste Ferne und Öde. Wenn er sich jetzt in der Tiefe des Russischen Reichs, auf einem mit Leichen bedeckten, blutgedüngten Schlachtfelde erblickte, wenn er gedachte, daß die Mutter fern von ihm in der stillen Gruft schlummerte, die Schwester einsam und verlassen stehe, das Bild der Geliebten in das Meer einer ewigen Nacht versunken war, dann gab es Augenblicke, wo er mit krampfhaftem Schmerz ausrufen wollte: Erweckt mich, erweckt mich aus diesem fürchterlichen Traume! Da fühlte er, daß Bernhard, der still an seiner Seite ritt und den wie das Grab schweigenden Freund mitleidig betrachtete, seine lässig herabhängende Rechte mit warmer Liebe ergriff und drückte; und die verwirrenden, betäubenden Bilder des Schmerzes verließen sein Haupt, und eine sanftere Rührung senkte sich in seine Brust, wie wenn giftige Nebel bei dem Strahl einer milden Sonne als Tränentropfen des Taues niedersinken.

»Du bist so ernst und verschlossen, Ludwig,« redete der Freund ihn an; »du solltest das Auge heiter zum Himmel aufschlagen, da wir uns nach diesem blutigen Tage noch lebend beieinander finden. Es darf uns ein Unterpfand sein, daß unser seltsames Geschick zu einem glücklichen, entscheidenden Ausgange führen wird. Ich bin nicht sonderlich fromm, wie man es gemeinhin zu verstehen pflegt, aber nach einem solchen Tage, wo die Donner Gottes ringsumher rollten und seine Blitze einschlugen, sehe ich doch etwas bewegter als gewöhnlich zu den kleinen Sternen da oben hinauf, wenngleich sie nur verstohlen durch das treibende Herbstgewölk blitzen.«

»O Bernhard,« erwiderte Ludwig, »wie hast du recht! Wenn ich dich neben mir sehe, lebend, frisch wie an diesem Morgen, dann wendet sich meine Seele wahrlich dankbar zu dem ewigen Vater. Doch ich fühle auch zugleich, wie namenlos tief der Abgrund der Schmerzen sein kann. Freund, ich fühle, was ich verlor, und bebe vor dem, was ich noch verlieren kann! Wenn nun der mörderische Tod, der nur so wenig von unsern Getreuen verschonte, auch die hinweggerafft hätte! O dann wäre mir besser, ich läge auch auf diesem dunkeln Felde!« – »Und Marie?« fiel Bernhard ein. – »Ihr müdes Haupt würde sich bald zu mir senken.«

»Wohl, zu dir«, betonte Bernhard mit einer schmerzlichen Heftigkeit, welche der Freund, durch die eigenen Bekümmernisse zu mächtig ergriffen, nicht bemerkte. Mir freilich, wollte er bitter hinzusetzen, würde kein Gedanke, kein Wunsch nachfolgen, wenn ich als eine gute Mahlzeit der Raben, die hier über uns schwirren und krächzen, auf diesem wüsten Schlachtfelde vermoderte. Doch er bannte, gewohnt sich streng zu beherrschen, die Gedanken von seinen Lippen in die Brust zurück und sagte mit fast gleichgültigem Tone: »Sprich nicht so frevelhaft, Ludwig. Freilich soll sie ihr Haupt bald zu dir neigen, aber eine von Freude gerötete, von süßen Tränen genetzte, liebliche Wange gegen deine warme, lebensvolle Brust.« – »Hoffst du das?« – »Gewiß, und gerade heute nach der Schlacht am meisten. Denn der Sieg ist auch der Friede, der Friede die Heimkehr, diese die Versöhnung mit allen noch grollenden Schicksalsmächten, wenn ich den französischen Schuften nicht zu viel Ehre antue, ihre hämischen Kreuzspinnengewebe mit dem Gespinst der Parzen zu vergleichen.«

Hier wurde ihr Gespräch dadurch unterbrochen, daß Bernhards Pferd stolperte und auf die Knie niederfiel, so daß er fast über den Kopf desselben hinabgestürzt wäre. »Was ist das?« rief er, es emporreißend. »Der Teufel, ich glaube es war ein Leichnam, über den ich gestürzt bin.« Bernhard hatte recht; denn eben waren die Zurückbleibenden auf den Teil des Schlachtfeldes gekommen, wo das russische Geschütz mächtig gewütet hatte; bisher hatten sie nur die Stellen durchritten, wo die französische Artillerie den Feind Schritt vor Schritt verfolgte und ihm schwere Verluste beibrachte, während man selbst nur einzelne Opfer zu beklagen hatte. »Wir sind jetzt auf der Höhe hinter Semenowskoi,« sprach Rasinski; »hier müssen schon viele Tote liegen, gewiß auch noch viele Schwerverwundete. Reitet daher vorsichtig, damit wir die Qual der Hilflosen nicht vermehren.«

Der menschliche Befehl war vergeblich. Denn bald wurde die Zahl der Leichname von Menschen und Pferden, die den Boden deckten, so groß, daß man fast auf jedem Schritt daran stieß. »Wir wollen links hinab in die Schlucht hineinreiten«, befahl Rasinski. »Dort hat der Tod nicht so wüten können; wir erreichen unser Ziel zwar auf einem Umwege, aber doch noch schneller als hier, wo wir auf jedem Schritte gehemmt sind.«

Solange sie noch auf der Höhe hinritten, blieb der Boden mit Leichnamen bedeckt. »Es ist mir lieb, daß die Nacht den Anblick des Grauens verhüllt,« sprach Ludwig; »wenngleich die Phantasie mächtiger ist als die Wirklichkeit, so werden ihre Bilder doch nicht so gräßlich sein als die, welche der Tag hier enthüllen wird.«

Stumm ritt die kleine Schar durch das Leichenfeld hin. Oft glaubte man ein Ächzen, ein schweres Stöhnen zu vernehmen, doch der in den Bäumen des nahen Waldes rauschende Wind, das dumpfe Geräusch des Hufschlags, das Rasseln der Säbel, das Schnauben der schweratmenden Pferde übertäubte diese einzelnen Laute des Jammers schnell wieder. Dennoch schnitten sie tief ins Herz. Jeder atmete freier auf, als man die Schlucht erreichte, wo der Tod seine Opfer nicht so bloßgestellt gefunden hatte. Dem Lauf der Regenbäche folgend, die sich hier ihr tiefes Bett gewühlt hatten, kam man an dem Fuße des Hügels vorbei, auf dem die drei Redouten lagen, wo Rasinski mit seinem Regiment zuerst in den Kampf verwickelt worden war. »Halt, Front!« kommandierte er. Das Regiment, wenn man die wenigen Leute, die noch übrig waren, so nennen darf, stand jetzt mit der Front gegen die Anhöhe, wo es seine Tapfersten gelassen hatte. »Dort oben,« sprach Rasinski mit bewegter, aber männlich kräftiger Stimme zu den Kriegern, »dort auf dem Hügel liegen unsere getreuen, tapfern Kameraden. Laßt uns ein stilles Gebet für sie sprechen.« Mit diesen Worten nahm er seine polnische Tschapka mit dem hohen wehenden Busch herab und neigte das entblößte Haupt. Alle Krieger folgten ernst seinem Beispiel. Einige Minuten herrschte eine tiefe, heilige Stille. Dann richtete sich der Führer wieder empor, bedeckte sein Haupt und ritt im kurzen Galopp die Front hinunter; in der Mitte, auf einem kleinen Hügel hielt er. »Rechts und links schwenkt zum Kreise!« gebot er. Es geschah. Als man etwa einen Halbkreis gebildet hatte, denn mehr ließ das Terrain nicht zu, gebot er halt und begann: »Kameraden! Der heutige Tag war blutig, aber ruhmvoll. Mehr als zwei Dritteile unserer Brüder fehlen in euern Reihen. Die Hälfte hat den Sieg mit dem Tode erkauft, die andern liegen an schweren Wunden danieder. Wir bejammern die Tapfern, die gefallen sind, aber ihr Los ist schön: ihr Verlust darf uns nicht entmutigen, sondern wir müssen stolz darauf sein. Verbannt daher die düstere Stimmung aus euerer Brust. Wir haben gesiegt, und nach einem Siege muß das Antlitz des Kriegers freudig glänzen. Der Kampf ist geendet; noch wenige Tage, und euch wird der Lohn für die schweren Mühen und Gefahren, welche ihr rühmlich bestanden habt. Ja, meine Brüder, rühmlich; denn ob uns auch in einzelnen Augenblicken der Schlacht das Geschick entgegen war, ihr habt gefochten wie wahre Söhne Polens; es ist mein Stolz, euer Führer zu sein. Nehmt meinen Dank, Kameraden, für diesen ernsten, aber schönen Tag!«

Wie eine Flamme durch das schwere Gewölk des Rauches, das sie lange herabgedrückt hat, plötzlich leuchtend emporschlägt, so stammte nach der düstern Stimmung der Trauer jetzt die Begeisterung der Krieger hell auf. »Es lebe unser Führer, der tapfere Rasinski!« rief Jaromir zuerst, und die ganze Schar der Krieger stimmte ein. Rasinski dankte bewegt durch Händedruck und kameradschaftlichen Gruß, doch beherrschte er seine Rührung, um die kräftigende Stimmung der Krieger, die ihm so wichtig und notwendig schien, nicht zu unterbrechen. Er ließ die Trompeter eine Fanfare blasen, die Glieder ordnen und schließen und ritt so an der Spitze des Zuges weiter dem Biwak zu. In kurzer Zeit hatte man es erreicht, und nun fühlte jeder das Bedürfnis der Rast und Erquickung zu mächtig, um noch an etwas anderes zu denken. Rasinski nahm seine Lagerstelle unter drei hohen Tannen des Waldes, an dessen Rande er das Biwak bezog, ein.

Das Feuer loderte schnell empor; sein Widerschein beleuchtete die weit hinübergestreckten Zweige der alten, riesenhaften Bäume und das niedere Gebüsch, ringsumher. Bernhard, Ludwig, Jaromir, Boleslaw und die Offiziere, welche die Schlacht verschont hatte, waren an dieser Stätte gelagert; Rasinski wünschte sie um sich zu haben.

»Nun, Freunde,« begann er, »laßt uns noch eine kurze Minute des traulichen Gesprächs genießen und dann der Ruhe pflegen, die uns allen notwendig sein wird. Es war ein harter Tag! Wißt ihr, wieviel wir unser noch sind? Nicht mehr als hundertfünfundzwanzig Mann, uns alle mit eingerechnet; dreihundertundsiebzig hat die Schlacht uns gekostet.«

Die Offiziere sahen einander mit ernsten Blicken an. Sie waren nur ihrer fünf. Sieben hatte man schwer verwundet vom Schlachtfelde tragen müssen, elf der Tod hinweggerafft; und von denen, die hier am Feuer saßen, hatte Boleslaw einen Hieb in der Stirn, den er jedoch selbst verband, weil er nicht bedeutend war, und Lichnowski, ein sehr junger Mensch, war durch einen Pistolenschuß am linken Arme gestreift. Ganz unverletzt waren von den Offizieren nur Rasinski, Jaromir und die beiden Rittmeister Bernecki und Jelski; Bernhard war gleichfalls unversehrt geblieben, doch Ludwig hatte einige Quetschungen von seinem Sturz mit dem Pferde.

»Um viele, um alle, die ich vermissen muß, tut es mir weh,« sprach Rasinski; »doch ich darf wohl sagen, ein Verlust geht mir besonders nahe. Es ist unser alter Petrowski, dieser tapfere Greis, der mehr Narben als Haare auf seinem Schädel hatte, in dessen Brust aber das Jugendfeuer des Mutes und der Vaterlandsliebe glühte, wenngleich auf seinem Haupte der Schnee des Alters lag.« – »Also Petrowski tot! Und wo fiel er?«'fragte Bernhard.– »Dort oben an den Redouten, wo wir geworfen wurden, wo die meisten der Unsrigen den Tod fanden. Er wollte nicht weichen, er suchte seine Sektion zum Stehen zu bringen, da schlug eine Kanonenkugel mitten durch ihn und sein Pferd hindurch daß beide übereinander stürzten. Der Säbel entfiel seiner Hand, und das Auge starrte tot gen Himmel; so sah ich ihn auf der Stelle liegen. Es war unmöglich, ihn wegzutragen, denn der Strom riß uns alle fort.«

»Sollte er nicht vielleicht unter den Verwundeten sein?« sagte Ludwig. –- »Nein, lieber Freund, ich habe schon Bericht. Auch sah ich den Tod zu deutlich auf seinem Antlitz. Er liegt dort oben. Wenn uns morgen Zeit gegönnt ist, will ich sehen, daß ich den greisen Helden ruhmvoll bestatten kann, damit wenigstens seine Kameraden daheim erzählen können, wo die Gebeine dieses tapfern Polen ruhen!« Rasinski schüttelte sich wie von einem Frostschauer durchbebt. »Wir werden zu weich, Freunde! Wer weiß, welch ein Ereignis uns in dieser Nacht aufstürmt; laßt uns der Ruhe pflegen.« Er hüllte sich in seinen Mantel und lehnte sich zurück, mehr um seinen Schmerz zu verbergen, als um zu schlummern. Doch hatte die ungeheuere Arbeit, und noch mehr die lange Spannung der Seele, den Körper bis zur Erschlaffung ermüdet, und so sanken bald alle, die ihn umgaben, in festen Schlaf.

Doch mitten in der Nacht trieben Unruhe und Sorge Rasinski auf. Er durchschritt, in seinen Mantel gehüllt, die Reihen der Krieger, die im schweren Schlaf um die Feuer ausgestreckt lagen. Nur die Feuerwachen saßen aufrecht, und schürten, indem sie starr in die Flammen blickten, gedankenlos oder gedankenvoll die Glut. »Was ist die Uhr, Freund?« fragte Rasinski.–»Mitternacht.« – »Habt ihr nichts vernommen? Keinen Kanonenschuß in der Ferne, keinen Trommelschlag?« – »Alles totenstill!« – »Seltsam,« murmelte Rasinski für sich; »man sollte verfolgen, dem Feinde keine Ruhe gönnen. Aber die Sieger sind vielleicht noch ermatteter als die Besiegten!« Er ging eine Anhöhe hinauf, die ihm einen weiten Überblick gestattete. Das Schlachtfeld lag schwarz und schweigend vor ihm. Die Feuer glänzten düster im weiten Halbkreise wie am Abend zuvor im russischen Lager; nur vereinzelt und spärlich brannten dieselben auf dem Boden, wo das siegende Heer gelagert war.

»Also das ist die Frucht eines so entsetzenvollen Kampfes? Der Feind unerschüttert in seiner Stellung? Morgen geht vielleicht die Sonne zum zweiten Male so blutig auf? Noch ein solcher Sieg, und wir sind verloren!« Er ging heftig auf und ab. Ein verworrenes Geräusch von Stimmen drang aus der Ferne in sein Ohr. Es war der wohlbekannte russische Schlachtruf, der aus dem Lager herüberdrang. »Sollten sie mitten in der Nacht einen Angriff wagen?« Indem rauschte es dicht hinter ihm im Gebüsch. »Wer da?« – »Ich bin's«, antwortete Ludwigs Stimme. »Mich lassen die schweren Träume keine Ruhe finden, drum folgte ich dir, als ich dich hier hinaufgehen sah.«

Rasinski legte seine Hand auf Ludwigs Schulter und seufzte. »O mein Freund! Meine Träume sind vielleicht noch schwerer! Wärest du so ein erfahrener Soldat als ich, du würdest mich begreifen. Dieser Sieg ist unser Verderben! Dieser Krieg kann nicht glücklich enden. Der Kaiser ist verblendet! Er kennt das alte Rußland nicht. Er hofft nach Moskau zu dringen und dort den Frieden vorzuschreiben. Und wenn es ihm gelingt, in die alte Hauptstadt der Zaren, die nur noch zwei Märsche vor uns liegt, einzuziehen, bedenkt er nicht, daß er dann erst an der Schwelle dieses riesigen Reiches steht, daß jenseit erst die blühendsten Provinzen liegen, die Raum und Kräfte genug haben, die Bewohner diesseit der Moskwa aufzunehmen und zu nähren, während uns der Winter hier verschlingt! Und noch sind wir nicht in Moskau! Siehst du dort drüben die glänzenden Lagerfeuer der Russen, hörst du ihr Kriegsgeschrei? Wenn sie entschlossen sind, wenn ihr Führer Einsicht und Mut hat, so werden sie uns noch drei Schlachten liefern, bevor wir Moskaus goldene Kuppeln glänzen sehen. Und dann! Wenn Tausende und aber Tausende dahingerafft sind, wie wollen wir die unermeßlichen Räume behaupten, die wir erobert haben? Jeder menschlichen Kraft ist eine Grenze gesetzt! Gewohnt, das Ungeheuere zu vollbringen, das Unmöglichste wirklich zu machen, hat unser großer Führer seine Kraft überschätzt sein Maß verkannt. Er muß erliegen unter der Riesenwucht seines Unternehmens, das, rückwärts rollend, auf ihn selbst herabstürzt!«

Ludwig schwieg; er überließ sich seinen düstern Sorgen und Gedanken. Auch Rasinski stand schweigend vor ihm und starrte in die Finsternis hinaus.

»O Freund,« begann er plötzlich wieder, und so weich, wie Ludwig ihn nie gesehen hatte, »wenn man auf ein solches Gefilde der Verheerung blickt, dann will man auch wissen, weshalb diese Tausende von Opfern bluten mußten! O, du ahnst nicht, welch ein entsetzliches Bild menschlichen Elends hinter diesen Finsternissen lauert. Nicht die Toten beklage ich; sie haben ihr edles Ziel erreicht. In der Schlacht zu fallen ist das Los, ist der Ruhm des Kriegers. Aber wie viele Tausende liegen hier auf der Folterbank namenloser Qualen! Diese rauhe, regnichte Nacht durchschüttelt uns mit Frost, die wir in unsern Mänteln unversehrt, wohlerquickt am Feuer ruhten. Und jene dort? Mit zerschmetterten Gebeinen, mit zerrissenen Leibern liegen sie dem rauhen Nachtstürme preisgegeben; ihre Wunden bluten, Frost und Fieber schütteln ihre Glieder; angstvoll zählen sie die trägen Sekunden der Nacht, bis ihrem Elende Hilfe wird. Sie gedenken der Heimat, der Eltern, deren zärtlicher Sorge sie, kaum den Knabenjahren entwachsen, durch die eiserne Hand des Krieges entrissen wurden; dem Vater schwebt das Bild seiner zarten Kinder, dem Gatten die Gestalt des liebenden Weibes, dem Jüngling seine weinende Braut vor Augen! Doch aus allen den Gedanken der Liebe, die ihnen in die Ferne auf das Schlachtfeld folgen, bildet sich keine schützende, helfende Engelsgestalt, um den Verzweifelnden zu trösten! Unter starre Leichen gebettet, umgeben von denen, die in dem Kampfe des Todes sich und ihren Schöpfer verfluchen, liegen sie in gräßlicher Einsamkeit oder in furchtbarer Gemeinschaft, und jede kommende Minute schüttet einen Strom des Grausens und des Jammers über sie aus. Ludwig! Wer die Schlacht gesehen hat, kennt nur das lächelnde Antlitz des Krieges. Sieh morgen das Schlachtfeld, und du wirst vor der grinsenden Larve des scheußlichen Gespenstes beben!«

Aufgeregt durch seine Worte und Vorstellungen, hatte Rasinski die Hand des im Innersten grauenden Ludwig heftig gefaßt. »Aber sehen sollst du es, mußt du es! Du mußt wissen, was der Mann für den Ruhm, für das Vaterland wagt. Der Anblick muß deine männliche Erziehung vollenden. Aber wenn der Preis verfehlt wird! Wenn in unserer Brust der schreckenvolle Gedanke keimt, es ist vergebens! Alles, alles umsonst! Alle die blutigen Tränen, die krampfhaften Seufzer des Elends, die grausenden Schauer einer Todesqual, die das Mitleid selbst dem verruchtesten Verbrecher spart – alles umsonst! Freund, dann gibt es Augenblicke, wo sonst die eiserne Kraft des Mannes morsch zusammenbricht unter der Riesenlast, die das Schicksal auf seine Schultern wälzt.«

Ermattet schlang er die Arme um Ludwigs Nacken und senkte das Haupt gegen seine Brust; er vergoß keine Träne, aber sein Herz schlug stürmisch, und seine Wange brannte wie in Fieberglut. Ludwig hatte nicht Worte des Trostes, er hatte nur den Druck der Liebe für den Mann, an dessen männlicher Kraft er sich so oft aufgerichtet hatte, und den er jetzt so überwältigt sah. Aber es waren nur Minuten. Bald richtete sich Rasinski gefaßt wieder empor und sprach wehmütig freundlich: »Meine Brust wird ganz ruhig, Ludwig, wie die, in der kein Herz mehr schlägt; doch nun ist es vorüber, ich habe der erstickenden Beklemmung Luft gemacht, der Traum ist verweht, ich bin wieder Herr meiner selbst. Du wirst mich nicht schwach sehen, wo es gilt, mich männlich zu fassen, wo der Augenblick die Tat fordert. Ich wollte meine Qualen allein der Nacht vertrauen: jetzt hat sie die Brust des Freundes geteilt, und du hilfst sie mir tragen, nicht wahr, Ludwig? Ich habe ja deinen Schmerz auch geteilt, und so tragen wir beide leichter.« Arm in Arm gingen sie hinab und ruhten, bis der grauende Morgen sie weckte.


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