Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Drittes Kapitel.

»Ich bin dieses Lebens doch fast überdrüssig, sprach Bernhard, indem er einen schweren Sack von der Schulter auf die Erde herabsenkte, wobei ihm Ludwig behilflich war. »Für mich hätte ich den weiten, gefahrvollen Weg in die Raubhöhle der Muschiks nicht unternommen; aber mein armer abgemagerter Brauner mußte einmal etwas anderes fressen als unreifen Hafer und Gras.«

»Du bist glücklich gewesen,« entgegnete Ludwig, »wir haben soviel nicht gefunden. Alles ringsumher wüst und öde; die Dürfer verlassen, verbrannt. Ich sehe nicht, wie das enden soll!«

»Laß gut sein; es ist wahr, wir schiffen in das wüste Weltmeer hinaus, aber wir haben einen Kolumbus an Bord, dessen Kompaß ihn noch lange leiten wird, wenn unser Auge schon längst keinen Stern am Himmel mehr sieht, dem wir folgen könnten. Aber hilf mir die Pferde füttern, ich mag die Tiere nicht warten lassen, bis Rasinskis Reitknecht kommt; sie werden Augen machen über das Gastmahl, das wir ihnen auftischen!« – »Gern«, entgegnete Ludwig. – »Es ist gut,« sprach Bernhard, indem er Hafer in die Futterbeutel schüttete und sie den hungrigen Tieren vorhing, »daß wir hier etwas abgesondert liegen und doch wenigstens eine alte Scheuer zum Stall haben bei diesem rauhen, regnichten Herbstwetter. Ständen wir auf freiem Felde, daß man meilenweit sehen könnte, was wir an Furage erbeutet haben, so würden wir mehr ungebetene Gäste bekommen, als Fliegen zu einem Napf süßer Milch heranschwärmen. Sieh, sieh, wie es den alten Burschen schmeckt! Ja, mein Braunerchen, solcher Hafer ist für dich ein Austernschmaus.«

Indem beide das vergnügliche Geschäft, ihre Rosse zu Pflegen, mit Eifer betrieben, trat unbemerkt Rasinski ein, der von einem Gange aus dem Hauptquartier, wohin er zur Parade gewesen war, zurückkehrte. »Was Tausend«, sprach er, »ihr füttert ja so reich und prächtig wie im Marstall von St.-Cloud. Wo habt ihr denn diesen Schatz gefunden?«

»Ei, guten Abend«, wandten sich die Angeredeten zu Rasinski um.

»Nicht wahr,« fragte Bernhard, »das wird den Kleppern wohl behagen nach der langen Fastenzeit und Kräuterkur? Ich hatte die Dragoner belauscht; sie schleppten einige Säcke Hafer dort drüben aus dem Walde heraus. Hm, dachte ich, da ist vielleicht noch mehr zu haben, schlich hin, folgte wie Däumling der Spur der verlorenen Körner und der breiten Stiefeln und kam bald an einen Flecken, der vor acht Tagen vielleicht ein Dutzend Häuser gehabt haben mag, jetzt aber nur noch ein Dutzend Feuerstellen aufweisen kann. Auf dem einen Herd waren aber die Flammen zu früh ausgegangen; das halbe Wrack stand noch da. Ich kletterte über Asche und Kohlen hinein und fand in einer finstern Ecke gerade noch diesen Sack mit Hafer, den die Dragoner entweder nicht gesehen, oder, weil sie ihn nicht fortbringen konnten, dort versteckt haben mußten.«

»Du bist immer geschickt, Bernhard«, sprach Rasinski freundlich, aber doch mit einem Ausdruck von Wehmut im Gesicht, der beiden auffiel. – »Glücklich, nur leidlich, glücklich«, erwiderte Bernhard. – »Glück ist ein Geschick«, fiel Ludwig ein.

»Ja, ein Geschick, das heißt ein Schicksal, aber keine Geschicklichkeit. Studiere deine Muttersprache besser, Ludwig, das rate ich dir an, denn du drückst dich sonst zu unbestimmt aus. Aber du hast ja Briefe«, wendete er sich ablenkend zu Rasinski.

»Für Ludwig; und wichtige Nachrichten für uns alle. Morgen wird es zur Schlacht kommen.« – »Wirklich?« rief Bernhard lebhaft. – »Endlich! sprach Ludwig, meinte aber damit die Ankunft der seit vielen Wochen vergeblich erwarteten Briefe von den Seinigen. Indem er sie öffnete, berührte Rasinski Bernhards Schulter leise und gab ihm einen Wink mit den Augen in Beziehung auf Ludwig.

Bernhard verstand nicht, was dies bedeuten solle, schwieg aber und heftete nur aufmerksame Blicke auf Ludwig. Dieser las mit heftiger Bestürzung; er erblaßte, große Tränen rollten über seine Wangen; plötzlich ließ er die Linke mit dem Briefe sinken, bedeckte sich mit der Rechten die Augen und reichte sie dann, indem er einen schmerzlichen Seufzer ausstieß, als wolle er Trost und Stütze suchen, verlangend gegen Bernhard hinüber. Dieser ergriff sie mit Wärme, während zugleich Rasinski dem Erschütterten wehmütig die Hand auf die Schulter legte und ihn gerührt anblickte. »Meine Mutter – meine Mutter –, lies selbst – «, mehr vermochte Ludwig nicht hervorzubringen und reichte Bernhard den Brief hinüber. – »Ich wußte das bereits,« sprach Rasinski, indem er den Freund mit Wärme an seine Brust drückte; »wußte es durch meine Schwester, die mir den Brief im Einschlusse sendete. Aber du solltest es nicht von mir erfahren. Denn wer mag einen bittern Kelch mit sanfterer Hand reichen als eine Schwester?«

Bernhard las indessen mit einer Rührung, deren selbst seine starke Seele nicht Herr werden konnte:

»Mein geliebtester Bruder! Wie soll ich es beginnen, um mit der herben Trauerkunde, die ich Dir nicht ersparen kann, auch den Trost der Liebe in Dein Herz zu flößen? Der Liebe, die Dich in weiter Ferne kaum noch zu erreichen vermag! Ach Ludwig, unsere Mutter ist nicht mehr! Diesen Morgen entschlummerte sie in meinen Armen! Das alte Übel ihrer kranken Brust, das ich lange schon sorgend beobachtet, wuchs durch unselige Zufälle plötzlich so übermächtig heran, daß es die Keime des Lebens mit furchtbarer Schnelligkeit zerstörte. Doch waren die letzten Stunden sanft, und die Seele der treuesten Mutter weilte nur bei ihren Kindern. O, mein Bruder! In diesem tiefen Schmerze fühle ich noch den tiefern, Dich so fern und einsam zu wissen, hinausgetrieben in eine öde Weite, wo die Stimme Deiner Klage unter rauhem Kriegsgetöse verhallt. Sanft ist meine Trauer um die Dahingeschiedene; aber bang und schwer bedrängt fühlt sich mein Herz, wenn ich Deiner gedenke. O könnte ich zu Dir, könnte meine schwesterliche Hand Deine Wange liebkosen, wenn sie sich mit Tränen netzt! Du bist hinweggerissen von allen Gütern des Lebens, deren holdes Antlitz uns in dunkeln Tagen Trost zulächelt. Ausgetrieben aus der Heimat, geschleudert in eine öde Fremde, ist Deine Tätigkeit mehr eine Geißel als ein Stab für Dich. Du kannst Dich nicht freudig aufrichten in Deinem Berufe! O ich fühle, Ludwig, wie viel zermalmender der Schlag Dich treffen muß als mich. Mir entführte ein sanfter Genius die Dahingeschiedene aus meinen Armen; Dir reißt sie ein fürchterlicher Dämon von der blutenden Brust. Laß ja keine Sorge, keinen Kummer um meinetwillen Deinen Schmerz mehren. Daß ich um die Mutter weine, kannst Du Dir freilich nicht verhehlen; aber ich trauere nicht einsam; mütterliche Freundschaft und schwesterliche Liebe weilen mir zur Seite. Fürchte ja nicht, daß ich verlassen und allein stehe; denn eben weil die verlassene Jungfrau ganz hilflos ist, darum bietet ihr jeder die Hand, jeden rührt ihr Geschick und sie sieht sich – so erging es mir – mit freiwillig dargebotenen Gaben der schönsten Liebe überschüttet. Aber von dem Manne fordert man streng, er soll durch eigene Kraft bestehen; weil er selbst Rat und Hilfe kennt, geht jeder fremd an ihm vorüber, und so ist er oft verlassener als wir selbst. Denn wer vermag sich allein zu erhalten in dieser Welt voller Stürme? – Ach, warum kann ich nicht nur die eine erste, bittere Stunde an Deiner Brust ruhen und Deine Tränen liebkosend trocknen? Gewiß, Du solltest minder leiden! Die warme Hand der Liebe würde die kalte des Schmerzes von Deiner Brust entfernen. Nur von Männern weiß ich Dich umgeben. Wird ihre rauhe Seele Deinen Schmerz so tief mitfühlen? Können sie Dich so sanft lieben wie mein Schwesterherz? Kannst Du Dich je zu ihnen so wenden wie zu mir? Doch, sie werden Dir ja teilnehmend und tröstend sein und Dich nicht verlassen in Deinem Schmerz, wie sie in andern rauhen Schicksalen Dir treulich zur Seite standen. Das hoffe ich zu Gott, der so gnädig ist, selbst in seiner Strenge – ach, und mein ganzes Herz soll es ihnen ewig danken.

»Lebe wohl, mein Bruder! Du, das einzige, was mir auf dieser Erde noch bleibt! O mögen tausend gute Engel Dich auf Deinem gefahrvollen Pfade umschweben! Wie ich es überstehen sollte, wenn auch Du – nein, nein, dahin läßt es der gütige Vater im Himmel nicht kommen, denn er weiß, wie viel wir zu tragen vermögen. Lebe wohl! Sein Segen, sein Trost ist mit Dir.

Deine Marie.«

»Du hast einen mächtigen Schild vor dir, der dich decken wird morgen in der Schlacht,« sprach Bernhard, nachdem er gelesen, mit so fester Stimme, als er vermochte; »umschwebten mich solche Schutzgeister, ich wollte in dem Krater des Hekla ruhig schlummern. Bruder Ludwig, wir sollen dich trösten? Tröste du uns, zu denen niemand ein solches Wort der Liebe spricht. Lies, lies,« wandte er sich zu Rasinski und reichte ihm den Brief hinüber; »es ist das Evangelium unsers heutigen Tages.«

»Ich sollte sie also nicht wiedersehen!« sprach Ludwig mit unterdrückter Stimme und lehnte sein Haupt an Bernhards Brust.

»Daß der Teufel uns auch noch bis morgen hinzerren will auf der Folterbank,« rief Bernhard unwillig; »jetzt könnte ich die Schlacht brauchen, gleich! Tapfer? Tapfer werde ich nicht sein; ob mir aber jemals in meinem Leben etwas Gleichgültigeres begegnen kann als eine Batterie, die einen Niagarastrom von Kartätschen über mich ausspeit, das möchte ich schwerlich glauben. Kommt, laßt uns nach den Hütten hinübergehen, wo Jaromir und Boleslaw liegen; am Abend vor der Schlacht muß man sich doch auch einmal aussprechen. –

Aber ist's denn Ernst?« Bernhard hatte, solange er sprach, Ludwigs Hand nicht aus der seinigen gelassen und sie fast krampfhaft gedrückt. Die letzten Worte richtete er an Rasinski, der aus düsterm Sinnen auffuhr.

»Ernst? So gewiß als das herbe Schicksal, das unsern Freund getroffen.« Er fuhr mit der Hand zweimal über die Stirn, als werde es ihm schwer, sich zu sammeln und zu besinnen. »Was wollte ich doch sagen? – Ja – Kutusow will morgen schlagen – es ist unbezweifelt. Der Kaiser hat schon das Schlachtfeld rekognosziert. Der Tag von gestern war nur das Vorspiel. Der siebente September ist bestimmt, um in die Jahrbücher der Geschichte eingeschrieben zu werden.«

»Man wird ihn also rot im Kalender anstreichen; und blutig rot, denke ich«, entgegnete Bernhard. »Mir gleich. Je mehr der Tod in Masse erntet, je kühler sehe ich zu. Was gibt es Gleichgültigeres als die summarischen Sterbelisten eines großen Reichs am Schlusse des Jahres? Und keine Schlacht, die erbittertste selbst, ist so mörderisch als ein einziges Jahr des ruhig fortlaufenden Zeitstroms. Was sage ich? Ein Jahr? Ein Tag, eine Stunde, ein Augenblick, wenn wir den Blick über die nächste Scholle, auf der wir stehen, hinwegschweifen lassen! Ich weiß überhaupt nichts Alberneres, als auf den Tod oder auf Todesgefahr Gewicht zu legen; das Gefährlichste ist: geboren werden, denn damit fängt nicht nur die Lumperei des Sterbens, sondern sogar auch die des Lebens mit seinem Füllhorn von Drangsalen, Jammer, Elend, Schurkereien und Abgeschmacktheiten an. Aber kommt, Freunde! Die Pferde fressen, daß es eine Lust ist. Was sollen wir länger hier?«

Anders als seine Worte waren Bernhards Handlungen. Denn mit Wärme schlang er den Arm um Ludwig und leitete ihn hinaus ins Freie. »Ich folge euch sogleich«, rief Rasinski den Gehenden nach. – »Nun, ein Eisbär bin ich gerade auch nicht,« murmelte Bernhard, als sie allein waren; »aber meine Tränen habe ich nur für mich und für die, die ganz ich selbst sind.« Hier preßte er den Freund rauh an seine Brust und drückte einen langen Kuß auf seine Lippen. Ludwig fühlte Bernhards warme Tränen und mit ihnen seine ganze Liebe, den vollen Trost seiner ausharrenden Treue.

Sie gingen zusammen eine kleine Anhöhe hinan, von der sie das mit Roß und Mann bedeckte Feld weit überschauen konnten. Schon hatte der Herbst das Laub gefärbt; die Birken streuten welke Blätter auf den Rasen, alles Grün war tot, fiel ins Graue; der Himmel hing farblos, bleiern über dem Gefilde, rauhe Windstöße fuhren von Zeit zu Zeit durch die feuchte, nebelige Luft. »So sieht es jetzt in meiner Seele aus, lieber Bernhard,« sprach Ludwig mit weichem Tone der Stimme, »so öde und freudlos, und doch so ungestüm bewegt wie in dieser toten, aber dennoch von wildem Verkehr erfüllten Landschaft.«

»In der meinigen ist das eigentlich die Alltagsfarbe,« erwiderte Bernhard; »nur selten blickt die Sonne, wie zu hohen Festtagen, ein wenig durch den grauen Dunsthimmel. Und selbst dann ist ihr Erscheinen, wie jedes zu flüchtige Glück, eher ein Schmerz als eine Freude. Es weckt nur die Sehnsucht unsers Herzens aus unserm dumpfen Schlummer. Traumgestalten nahen uns so; wir sind voller Liebe, wenn wir aber die Arme ausbreiten, sie zu empfangen, sind sie zerronnen. Ich meinesteils pflege alsdann noch gewöhnlich das Glück zu haben, mit den Knöcheln gegen die Wand zu stoßen, oder mir die Bettdecke ins Gesicht zu pressen statt der Geliebten. Du wirst vielleicht nicht böse, Ludwig; aber es verdrießt mich etwas und ich muß es dir sagen. Es hätte mir was bedeutet, wenn das Datum und die Stunde gestimmt hätten; indessen es ist nichts.«

»Wieso, Lieber?«

»Als wir durch den Dnjepr ritten, mußte ich, du weißt's ja, so lebhaft an deine Schwester denken, als ob sie neben uns hinschwebte. Wenn es die Todesstunde der Mutter gewesen wäre – ich bin ein Mann, ich weiß es, doch ich hänge einmal an dergleichen. Aber sie ist ja morgens und drei Tage früher hinübergegangen.« Ludwig lächelte wehmütig, Bernhard neigte das Haupt; beide schwiegen einige Minuten und blickten in die Landschaft hinaus.

»Die gute Marie!« begann Ludwig wieder, »sie kümmert sich um meine Einsamkeit und steht doch selbst so ganz verlassen!«

»So muß es jedem scheinen, der nicht immer zunächst an sich denkt. Auch kommt eine sehr allgemeine Täuschung dazu. Der Mensch kann niemals ganz aus seinen Empfindungen und in fremde hinein. Weil Marie dich so weit getrennt von ihr fühlen muß, so fühlt sie dich getrennt von allem; und du umgekehrt ebenso. Nichts ist uns natürlicher, als uns einen Bewohner Sibiriens oder des Feuerlandes als ganz verstoßen vom Erdkreise zu denken; denn nichts fällt uns weniger ein, als daß dem Kamtschadalen ein Einwohner von Paris ebenso entfernt, so an der äußersten Grenze der bewohnten Erde erscheinen muß, ja ebenso enterbt und verlassen von allen Wohltaten der Natur, weil alles Dortige ganz außer dem Kreise seiner Vorstellungen und Wünsche liegt. Doch sieh, wie der Wind den Rauch der Wachtfeuer durch die Ebene weht; er drückt ihn ordentlich auf den Boden nieder. Die Luft atmet sich schwer. Denkst du mit Besorgnis an die Schlacht?«

»Nein, Bernhard,« sprach Ludwig offen; »meine Seele ist so ganz anders beschäftigt. Vielleicht wenn wir mitten im Getümmel sind, daß mich's mit fortreißt. Ich habe mir's vormals als das größte Erlebnis gedacht, einer Schlacht beizuwohnen: hat mich das gefahrvolle unstete Treiben des Kriegs überhaupt, diese häufige Wiederholung des Vorspiels zu dem Hauptdrama, daran gewöhnt, oder ist es, weil meine Gedanken ganz verschieden beschäftigt sind; allein ich empfinde es jetzt fast nur als ein gleichgültiges Ereignis, daß morgen sich das Geschick zweier Völker entscheiden soll, wiewohl meine Vernunft mir das Gegenteil sagt.«

»Lieber,« begann Bernhard, »ich fragte nicht ohne Absicht danach, sonst hätte ich jetzt wohl von andern Dingen mit dir gesprochen. Aber vergib mir, ich denke mit an Marien; der Schluß ihres Briefes – ich glaube zwar, daß ihre Bitten im Grunde soviel gelten als zehn Schutzheilige – dennoch – deinetwegen fürchte ich die Schlacht, und es wäre mir, geradeheraus, lieb, wenn du nicht darein verwickelt würdest. Laß mich mit Rasinski sprechen.«

»Nein!« entgegnete Ludwig sanft, aber fest. »Du weißt, daß kein innerer Beweggrund mich zum Kampfe treibt, daß meine Wünsche sich sogar mehr für die Sache der Gegner entscheiden, weil ihr Sieg unser Vaterland wenigstens von der Unterdrückung, die es in diesem Augenblicke duldet, befreien würde; allein dennoch widerstrebt etwas in mir deinem Vorschlage so entschieden, daß ich keinen Augenblick wanken kann. Zuerst bin ich ein Mann; ich müßte mich als solcher herabgesetzt fühlen, wenn ich in der Stunde der Gefahr mich selbst bedächte.« – »Wahrlich, ich denke nur an Marien,« rief Bernhard, »und weiß, daß du ein Opfer bringen würdest; aber ich weiß nicht, ob du es nicht solltest!« – »Nur für sie wünsche ich zu leben,« entgegnete Ludwig, »und der Himmel ist mein Zeuge, daß ich, soll ich fallen, nur der einsam Zurückgebliebenen gedenke. Doch – nein – nein; der Scharfsinn meiner Gründe möchte besiegt werden können durch scharfsinnigere, aber nimmermehr das Gefühl in meiner Brust. Marie selbst würde sich meiner schämen; sowenig wie sie mir das Leben durch etwas Unwürdiges zu erhalten vermöchte, sowenig kann sie erwarten, daß ich es für sie tue. Nein, Bernhard, deine Liebe führt dich zu weit!«

»Du bist mit deinem wahren Mute über diesen Schein des Verdachts erhaben; ich bin es auch und würde mich, falls ich eine Ursache in mir fände, von der Schlacht zurückzubleiben, keinen Augenblick bedenken.«

»Auch ich nicht, wenn das Zurückbleiben selbst der Zweck meines Handelns wäre; nicht aber, wenn es das Mittel sein soll. Überdies vergiß nicht, daß der Stand, den wir wählten, eigentlich unser Leben beschützt; so wird es für uns eine verdoppelte Pflicht, das Heiligtum seiner Ehre unverletzt zu erhalten. Und dann, Bernhard, diesen einen Weg des Todes willst du versperren; was aber tust du mit den tausend andern, auf denen er zu uns dringen kann? Erfülle dich mit dem gläubigen Vertrauen, das Marie selbst empfindet! Sie fordert nicht, daß ich die Gefahr meiden soll, doch ihre heldenmütige Seele vertraut darauf, daß eine höhere Macht mich beschirmen werde. Und würdest du denn mich und Rasinski und Jaromir und Boleslaw in die Schlacht ziehen sehen können und wohlgesichert aus der Ferne zuschauen, wie das Schwert des Todes über den Häuptern der Freunde schwebte? Bernhard, frage deine eigene Seele und gib dir selbst die Antwort.«

»Recht hast du freilich; aber könnte ich das Unrechte für dich tun, ich täte es dennoch. Wäre ich an Rasinskis Stelle, ich ließe dich heute unter einem Vorwande in Ketten und Banden zehn Tagemärsche zurück ins Gefängnis schicken.« – »Du tätest es gewiß nicht«, sprach Ludwig und lächelte gerührt.– »So laufe denn das Rad des Schicksals!« rief Bernhard und stampfte unwillig mit dem Fuße. »Es zermalme, wen es will! Das aber sage ich dir, es soll nicht Raum finden zwischen mir und dir hindurchzurollen! – Kommen dort nicht Jaromir und Boleslaw herauf?«

Sie waren es. Rasinski hatte ihnen Ludwigs trübes Geschick erzählt; mitleidig kamen sie, um dem Freunde ihre Liebe zu zeigen. Der jugendliche, leicht bewegte Jaromir bezwang eine Träne nicht; Boleslaw, durch eigenes stummes Dulden gehärteter, vermochte nur sanften Ernst zu zeigen. Sie gingen zusammen den Hügel hinab, um sich an dem Wachtfeuer vor Rasinskis Hütte zu lagern, wohin dieser alle Offiziere des Regiments beschieden hatte, weil es seine Gewohnheit war, den Abend vor der Schlacht soviel als möglich in der nächsten Vertraulichkeit mit allen seinen Kameraden zu leben. Die Sonne mußte hinab sein; seit Mittag schon war sie hinter dem grauen Gewölk verborgen. Die Nacht kam empfindlich kalt herauf, so daß selbst das Feuer und die dichten Mäntel der Gelagerten die Schauer des Frostes nicht ganz abzuhalten vermochten. Der ganze Tag war in dumpfer Todesstille vergangen, gewissermaßen nach einer schweigenden Übereinkunft zwischen den beiden furchtbaren, einander gegenüber gelagerten Heeren. Es schien, man wolle sich die kurze Ruhe gönnen, um am nächsten Morgen mit desto gestärktern Kräften den erbitterten Vertilgungskampf beginnen zu können. Diese schwer auf der Brust lastende, alle frischern Lebensregungen lähmende Lautlosigkeit wurde durch die Stimmung jedes einzelnen noch vermehrt; denn jeder ging natürlich dem gewaltigen Ereignis mit ernster Brust entgegen. So wollte auch das Gespräch der im Kreise gelagerten Kameraden nicht lebhaft werden. Selbst wenn Ludwig und diejenigen, die ihm zunächst standen, nicht besondere Ursachen zu jenen schweigend in sich zurückkehrenden Betrachtungen gehabt hätten, so würde dennoch keine freie, kriegerisch sorglose Heiterkeit geherrscht haben. Die Zukunft rückte zu bedeutungsvoll heran; der Himmel war zu düster verhangen, seine Donner grollten zu unheimlich in der Ferne, um einen freien Schlag des Herzens zu gestatten. Vergeblich versuchte es Rasinski, bald durch einen Toast, bald durch die Erinnerung an ein früheres bedeutendes Erlebnis, bald durch Anregung schöner Hoffnungen, eine lebhaftere Bewegung in die Freunde zu bringen; einen Augenblick entzündete sich der Anteil, aber nach wenigen Minuten war jeder wieder zu den Gedanken und Besorgnissen in seiner Brust zurückgekehrt.

Die Dämmerung graute schon, als ein plötzlicher Kanonenschuß aus dem feindlichen Lager her die äußere und innere Stille unterbrach. Man sprang auf, man forschte, fragte. In solchen Stunden, unter solchen Umständen ist ein Schuß fast immer das Zeichen eines wichtigen Ereignisses; jeder hielt ihn für eine Warnung, auf alles gefaßt zu sein. Allein diesmal war die Spannung auf etwas Wichtiges vergeblich gewesen; doch schon nach wenigen Minuten erfuhr man, daß dieser einzige Schuß verhängnisvoll und entscheidend für den ganzen Krieg hätte werden können. Denn er war auf eine Gruppe von Reitern geschehen, unter denen sich der Kaiser befand, welcher, von der Unruhe gefoltert, das russische Heer könne abermals durch stillen, nächtlichen Abzug seine Hoffnung auf eine Schlacht täuschen, sich auf das Pferd geworfen und die Dämmerung benutzt hatte, um die Stellung des Feindes noch einmal zu rekognoszieren. Zu seiner Freude hatte er aus den in schwarzen Zügen heranrückenden Reservekolonnen, die sich in der Ebene verbreiteten, aus den langen, von Moskau heranziehenden Reihen der Munitions- und Proviantwagen, aus der furchtbaren, noch immer mehr und mehr befestigten Verschanzungslinie auf den Anhöhen, die Gewißheit geschöpft, daß der Tag der Schlacht gekommen sei. Er trug nun kein Bedenken mehr, sie seinen Truppen zu verkünden. Eine halbe Stunde nach jenem einzelnen Schusse wurde die Proklamation an das Heer erteilt; Rasinski erhielt sie durch einen Adjutanten. Er sammelte sogleich die Seinigen um sich her und las sie ihnen bei dem Glanz des rot aufflackernden Feuers mit ernster Stimme vor:

»Soldaten! Der Tag der Schlacht, den ihr so lange herbeigewünscht, ist da. Der Sieg steht bei euch; er ist uns notwendig, er wird euch Überfluß, ein sicheres Winterlager, eine schnelle Rückkehr in die Heimat gewinnen. Zeigt euch wie zu Austerlitz, Friedland, Witepsk und Smolensk, daß euere späten Enkel noch mit Stolz von ihren Ahnen sagen können: Er focht in der gewaltigen Schlacht unter den Mauern von Moskau!«

Die kurzen, ernsten, gewichtigen Worte fielen mächtig in die Brust der Krieger. Ein edles Feuer flammte aus ihren Blicken, und als Rasinski den Säbel zog, ihn mit der Rechten hoch emporhob und laut ausrief: »Es lebe der Kaiser!« da donnerte der tausendfache Ruf der Begeisterung mächtig in die Luft, daß er weit durch die Nacht erscholl, und der Wind ihn hinübertrug in das Lager des Feindes.

Der kommende Tag forderte große Anstrengungen; Rasinski gebot daher seinen Kriegern, jetzt der Ruhe zu pflegen, damit der Morgen sie mit den frischesten Kräften fände. Den Führern schlug er jedoch, um die freiere Stimmung zu unterhalten, hauptsächlich aber um Ludwig zu zerstreuen, einen Gang durch das Lager der Garden nach dem kaiserlichen Gezelt vor, welches nicht fern von dem Biwak der Kavallerie aufgeschlagen war. Man nahm den Vorschlag gern an. Bald hatte man das große Viereck erreicht, welches die Garden beschützend um das Gezelt des Kaisers geschlossen hatten. Der Anblick dieser auserlesenen Krieger, wo man keine Stirn ohne Narbe, keine Brust ohne Orden sah, mußte eine männliche Seele mit kraftvollem Selbstgefühl durchdringen; sogar der wehmütig gestimmte Ludwig richtete sich freier auf, als er durch die Reihen dieser Helden schritt. Noch lebendiger wurde Bernhard aufgeregt.

»Wahrlich, eine ganze Galerie von Genrebildern!« rief er aus, indem er sich zu den Freunden wandte. »Zehn Jahre wollte ich hier sitzen und zeichnen. Und welch ein Studium von Köpfen und Trachten! Bemerkt einmal den Grenadier dort, der eben sein Gewehr putzt. Mit welchem Ernst er die Waffe prüft und betrachtet; in jedem Zug sieht man es, daß er sie wie ein Heiligtum in Ehren hält. Wie er den Schein der Flamme darauf spielen läßt und sich selbst in dem blanken Lauf spiegelt! Hm, der alte Knabe darf sich wohl ansehen, und mir deucht, die breite Narbe, die ihm die Brauen über dem linken Auge spaltet, kann ihm gefallen. Jetzt ist er fertig; er tut einige Griffe, schlägt an. Sicher denkt er schon daran, wie er morgen mitten im dichtesten Pulverdampf seinen Feind aufs Korn nehmen und mit Augen betrachten wird, die noch durchbohrender scheinen als die Kugel im Lauf.« Im Fortwandeln schweifte Bernhards geübtes Malerauge über alle Gruppen zur Rechten und zur Linken hin, und wo er einen charakteristischen Kopf sah, machte er die ruhiger hinwandelnden Freunde in seiner scherzenden lebendigen Darstellungsweise darauf aufmerksam. Zugleich lag ihm dabei der dunkle Trieb in der Seele, die tief bekümmerte Brust Ludwigs aufzuheitern. »Seht dort drüben den bärtigen Sergeanten, der sich die blutende Stirn verbindet«, rief er. »Wie gleichgültig er dazu sieht! Freilich, sie ist der Narben gewohnt! Ich sehe da so einige breite, zackige Hieroglyphen, die vermutlich ein Mameluckensäbel an den Pyramiden hineingezeichnet hat. Deine Stirn ist ein verteufeltes Stammbuch! Wer sich eingeschrieben hat, bleibt dir gewiß im Gedächtnis, schwerlich aber im freundschaftlichen. Der Kerl dort gefällt mir! Wahrhaftig er rasiert sich; glatt geschabt, wie zum Sonntagstanz vor der Barriere von Neuilly, oder in die lustigen Weinhäuser von St.-Denis, wo es so viel schwarzäugige Grisetten gibt, will er morgen in die Schlacht gehen. Es ist ein Spartaner, die sich auch putzten und bekränzten für den Kampf. Ich glaube, dieser Grenadier sieht keinen großen Unterschied dazwischen, ob er mit seinem Mädchen eine Francaise aufführt, oder am Flügel des Regiments gegen eine Batterie marschiert. Musik gibt es bei beiden Festlichkeiten. Ich möchte wetten, er denkt morgen abend in Moskau einzumarschieren, und putzt sich heute schon dazu auf, weil es morgen an Zeit fehlen möchte. Sein ganzes Gesicht ruft: «Vive la bagatelle!» und eine Schlacht, ein ganzer Feldzug zählt mit in der Reihe der Bagatellen. Trotzdem ist er nicht mehr jung; er sieht aus, als würde er von Marengo und Arcole zu erzählen wissen. Glück zu, guter Freund, ich wünsche dir, du mögest morgen noch so fröhlich sein wie heute, und bei deinem Abendessen die Carmagnole so gedankenlos trällern wie jetzt eben.«

»Ich habe doch diese Krieger schon in einer ganz andern Stimmung gesehen,« entgegnete Rasinski; »so bewegt das Lager dem erscheinen mag, der es in diesem Feldzug zuerst kennen lernt, so ganz anders sieht es der, welcher es seit langen Jahren kennt. Es ist Entschlossenheit, Fassung auf das Schlimmste, in den Gesichtern dieser Leute zu lesen; aber nicht jenes freudige Vertrauen, jene brennende Begierde nach Kampf und Sieg, die man sonst an Tagen vor der Schlacht aus ihrem Auge leuchten sah. Seht dort das Zelt des Kaisers. Was mag das Gedränge dahin für Ursache haben?«

Man sah die Krieger in großen Scharen zu dem Gezelt eilen und sich in einer schwarzen Masse um dasselbe versammeln. Die Zurückkehrenden sahen fröhlich aus und sprachen lebhaft miteinander. Ausrufungen des Erstaunens, der Freude drangen aus dem dichten Gewimmel hervor. »Was gibt es dort?« fragte Rasinski einen Grenadier, der aus dem dichtesten Haufen kam.

»Was es gibt, mein Kolonel? Ah, etwas sehr Schönes, und Erfreuliches! Ein Kind, ein prächtiges Kind! Der Sohn des Kaisers! Ja, mein Oberst, es ist ein Bildchen wie von Schnee und Rosen! O, man ist auch Vater! Ich habe einen Sohn, der nur um acht Tage älter ist. Sein Bild kann ich freilich nicht nachkommen lassen, allein ich hab' es im Gedächtnis. Der Schelm sitzt mir hier (dabei deutete er auf die mit dem Orden der Ehrenlegion geschmückte Brust) so deutlich abgemalt, daß ich keines Bildes bedarf! Aber es ist doch schön, eins zu haben! Gehen Sie nur, mein Oberst, und sehen Sie selbst!«

Der vor Freude in Redseligkeit überfließende Soldat wurde durch den Strom fortgedrängt. Rasinski und seine Begleiter kämpften sich hinan. Das Gedränge war zu groß; sie konnten nur aus der Ferne, ohne die Züge zu unterscheiden, wahrnehmen, daß dicht an dem Zelt des Kaisers, unter der Obhut zweier bärtigen Grenadiere ein Gemälde – es war das des Königs von Rom – aufgestellt war, welches die Soldaten mit teilnehmender Neugier betrachteten.

»Es hat etwas sehr Rührendes für mich,« sprach Ludwig zu Bernhard, »daß mitten in dieser kriegerischen Zurüstung sich nicht nur der Feldherr, sondern auch der liebende Vater zeigt, und daß er seine Tapfern so an seiner Freude teilnehmen lassen will.« – »Ja, ja,« sprach Rasinski lächelnd, »er ist ein großer Kenner der Menschen. Durch nichts kann er seine schwarzbärtigen Helden mächtiger an das Glück der Heimat erinnern als durch eine solche Mahnung. Nun schlägt jedem das Herz nach dem Vaterlande, dem schönen Frankreich, wo der seine Kinder, der seine junge Frau, die indessen vielleicht Mutter geworden ist, der sein munteres Liebchen zurückgelassen hat. Es gibt keinen andern Weg nach Paris als über Moskau, das wissen sie zu gut. Wie grimmige Löwen werden sie daher auf die einstürmen, die ihnen die Bahn sperren wollen!«

»Ich dächte,« meinte Ludwig, »durch solche Erinnerungen müßte gerade das Herz des Soldaten schwer werden, er müßte den Krieg, der ihn von allem, was ihm teuer ist, trennt, hassen, müßte unwillig weiter vordringen.« – »Gewiß,« antwortete Rasinski; »nur nicht am Tage vor der Schlacht. Mühseligkeiten erträgt der Soldat schwer, Gefahren leicht; er wagt lieber, als er duldet. Die Zeit der Mühe ist jetzt vorüber, es kommt ein kurzer Augenblick der Gefahr; diesem geht er freudig entgegen; denn es ist mehr Hoffnung des Gewinns als Furcht des Verlustes dabei. Zeigt ihm nur einen sichern Preis des Sieges; wahrlich! ihn kümmert es nicht viel, ob er die Hölle stürmen muß, um ins Paradies zu kommen. Das aber muß ihm sicher sein. Seine Glaubensworte lauten: Sieg, Frieden, Heimkehr. Regt ihm daher nur die Sehnsucht zu der letzten mächtig an, so darf euch um den ersten nicht bange sein.«

»Guten Abend, Graf«, redete eine bekannte Stimme Rasinski an; es war Regnard. »Gut, daß wir uns heute noch sprechen,« fuhr er fort, »morgen wird man nach manchem vergeblich fragen. Ich denke, die Schlacht wird den Anstalten dazu Ehre machen. Man marschiert nicht achthundert Limes, um ein Vorpostengefecht zu liefern.« – »Nun, bis jetzt ist es uns doch nicht viel anders ergangen«, erwiderte Rasinski.

»Jede Frucht will reif werden, Graf. In Rußland erntet man später als bei uns. Gebt acht, morgen haben die Sensen etwas zu tun. Die Russen meinen es diesmal sehr ernstlich!« – »Weiß man das schon gewiß?« – »Es läßt sich nicht mehr daran zweifeln. Eben war ich dabei, als ein Überläufer seinen Bericht abstattete. Der alte Kutusow ist gewiß, daß wir morgen angreifen, und hat beschlossen, standzuhalten wie eine Festung. Aber ernstlich, der Russe ist auf einen entscheidenden Kampf gefaßt, ist förmlich zum Tode geweiht. Ihr hörtet doch gegen den Nachmittag die seltsame Musik herüberschallen und habt die Bewegung im Lager beobachtet, als die Leute unter Waffen traten?«

»Freilich! Und was bedeutete sie?«

»Es war die Traurede zu der Hochzeit, die wir feiern sollen. Der alte Fürst hatte sich mit allen seinen Priestern und Archimandriten umgeben, die in ihren Prachtgewändern das Lager durchzogen. Sie trugen ein heiliges Bild, das sie aus Smolensk gerettet, durch die Reihen der Krieger. Der Russe betet es als wundertätig und beschirmend an. Seine Kirche erfüllt ihn mit fanatischem Mute. Seine Priester haben ihn nun zum Kampfe geweiht; wer fällt, dem ist die Seligkeit des Jenseits gewiß. Ihr kämpft morgen für den Altar euers Gottes, hat man ihnen zugerufen; ihr müßt euere heilige Stadt Moskau, die der Feind verheeren will, beschirmen, euere Weiber und Töchter vor Schmach und Sklaverei beschützen. So etwas wirkt; der gemeine Russe dürstet jetzt ordentlich nach dem Märtyrertum, von unsern Kugeln zu fallen. Ich habe auch die Proklamation gelesen; man schmeichelt uns darin eben nicht, und ich versichere euch, es würde schwer halten, den Grimm eines Kettenhundes so giftig gegen uns zu reizen, als der alte Zyklop da drüben seine Eisbären gegen uns heranhetzt. Mir sieht die Sache verteufelt ernsthaft aus, denn zum Scherz, das wißt ihr wohl, stört man den Soldaten nicht so auf, da dergleichen Stimmungen nicht sechs Wochen vorhalten, und man sich hüten muß, sie vergeblich zu erregen, weil dann die Wiederholung schlecht ausfällt. Darum sage ich euch, wir finden morgen den Feind noch auf dem alten Fleck; vielleicht noch übermorgen. Denn eine eherne Mauer rennt sich so leicht nicht um, und Fanatiker sind noch zäher als Eisen.«

»Wie! Ihr zweifelt am Siege, Regnard?« rief Rasinski fast unwillig.

»Keineswegs! Aber er wird blutig werden. Ein zwanzig-, dreißigtausend Mann dürften wohl morgen abend die Erde hier düngen und so friedlich nebeneinander liegen, wie sie sich am Tage grimmig gepackt haben. Sollten wir darunter sein, Oberst, so laßt uns jetzt Abschied nehmen, denn ich muß zu meinem Korps zurück.« Er reichte Rasinski die Hand dar, die dieser kameradschaftlich schüttelte. »Leben Sie wohl, meine Herren!« wandte er sich zu den übrigen. »Auf Wiedersehen; morgen abend oder in Moskau; wir nehmen's indessen nicht übel, wenn auch einer oder der andere von uns gehindert wäre, Wort zu halten.« Mit diesen Worten verschwand er in der Menge. Kaum war er fort, als Petrowski sich eilig durchdrängte und Rasinski eine versiegelte Depesche übergab«

»Wir müssen zurück«, sprach dieser, als er gelesen hatte. »Es werden noch in dieser Nacht veränderte Stellungen der Truppen genommen werden. Kommt denn, Freunde, es ist keine Zeit zu verlieren.« Sie erreichten ihr Lager wieder. Rasinski befahl die Feuer zu löschen, die Leute mußten unter die Waffen treten. Bald darauf brachte ein Adjutant, so schien es, den Befehl zum Aufsitzen, und das Regiment setzte sich in Marsch. Im Reiten bemerkte man, daß im ganzen Lager der Franzosen die Feuer erloschen waren, oder doch nur spärlich und düster brannten. In dem russischen Lager dagegen flammten sie hoch auf und beschrieben einen weiten, düster glühenden Sternenkreis um den dunkeln Horizont.

Der Marsch war nur kurz; man hatte sich näher gegen das Zentrum der Armee gezogen. Am Abhange einer Anhöhe, die hier breiter emporstieg, machte man halt; rechts war das Terrain mit Gebüsch bedeckt, das den Übergang zu höherer Waldung bildete. Große Massen Kavallerie schienen hier versammelt zu werden. Gegen elf Uhr hatte man feste Stellung genommen. Rasinski ließ absitzen, doch blieben die Pferde gesattelt. Die Leute lagerten sich auf dem Boden. Stumme, gespannte Erwartung trieb das Herz in jeder Brust zu schnellern Schlägen an. Der Schlaf nahte sich nur scheu, doch endlich bezwang die körperliche Ermüdung die geistige Aufregung, und trotz der rauhen, kalten Herbstnacht sanken alle Krieger in tiefe Ruhe. Sogar Ludwig; doch bange, wehmütige Träume schreckten ihn oft wieder wach, und er sah dann die Wirklichkeit noch düsterer um sich her gestaltet als selbst seine Träume.


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