Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Drittes Kapitel.

Der Gesang war zu Ende. Die Gräfin trat auf Alisetten, die unbefangen stehengeblieben war, zu, ergriff ihre Hand, streichelte ihr freundlich das Kinn und sprach: »Wie rührend, wie sanft bewegend; o, ich glaube, diese milden Töne müßten den heftigsten Sturm in der Brust zum Schweigen bringen. Sie sind das lindernde Öl, welches der Schiffer in die Brandung gießt, um das empörte Meer zu besänftigen. Welch ein Glück, wenn man einen solchen Trost des Himmels bei sich führt!« – »Ach,« antwortete Alisette mit einem leichten Seufzer, »wenn sie auch vielleicht eine fremde Wunde kühlen, den brennenden Schmerz der eigenen lindern sie nicht!«

»Wie?« sprach Ludwig, »sollte eine solche Göttergabe den umgekehrten Fluch der Kassandra mit sich führen?«

»Wieso?« fragte die Gräfin.

»Jene,« erwiderte Ludwig, »verkündete die Wahrheit und niemand glaubte ihr; dieser schönen Prophetin glauben alle; nur ihr selbst sollte die süße Wahrheit ewig unverstanden bleiben?« Alisette schien betroffen über Ludwigs Bemerkung; Bernhard, der sie gehört hatte, trat näher und fiel ein: »Unsere Kassandra hat recht. In vielen Fällen gleicht die Kunst der Sonne, die alles wärmt und belebt, aber selbst entweder ein kalter Körper ist, oder ein Feuerkoloß, der in sich zu Asche brennt. Das letztere ist häufiger. Die Welt nennt die Künstler glücklich, weil sie Glück verbreiten; wenige aber wissen, wie teuer oft das Kunstwerk von dem Künstler erkauft wird. Wenn ich sanfter vergleichen will, so möchte ich sagen, die Gaben der Kunst gleichen einer tauenden Wolke, welche, indem sie die Flur mit erquickenden Perlen überschüttet, sich selbst verzehrt und dahinschwindet.« – »O, das ist so wahr,« rief Alisette mit wehmütigem Blick; »wie oft war mir's, als solle ich an meinen Tönen sterben, und welch einen bittersüßen Tod!« – »Ich kann mir nicht denken,« entgegnete Ludwig, »daß die wahre Kunst nicht eine tröstende, erhebende Gefährtin durch das Leben sein sollte, deren Fittich uns trüge und kühlend bedeckte, wo der Pfad durch brennende Wüsten führt.«

»Das tut er freilich,« rief Bernhard, »wenn du dich erst in einer solchen Wüste befindest; dafür aber treibt dieser scheinbar so sanft leitende und tröstende Genius dich auch mit dämonischer Gewalt aus allen ebenen und betretenen Bahnen des Lebens heraus in die Wildnis hinein; er reißt dich an Abgründen dahin, stürmt dich jähe Felshöhen hinauf, schleudert dich in schäumende Wirbel eines empörten Ozeans, um dich von der kalten Woge an irgendein ödes Eiland werfen zu lassen.«

Ludwig schüttelte ernst das Haupt. »Einiges ist wahr von dem, was du sagst,« erwiderte er, »doch du schilderst nur die Hälfte, sprichst nur von den rauhen Nächten des künstlerischen Lebens, von den Ungewittern seines milden Frühlings, aber nicht von dem göttlichen Tag, den es euch leuchten, nicht von den tausend Blüten, die es auf euern Pfaden sprießen, nicht von dem sanften Mondglanz, den es in die dunkeln Tiefen einer trauernden Brust so tröstend hinabschimmern läßt.«

»Tiefere Wunden, süßerer Trost; das ist alles mit einem Wort gesagt«, antwortete Bernhard kurz, bestimmt, aber nicht ohne eine leise Schattierung wehmütigen Ausdrucks.

Die Gräfin und Françoise hatten mit Anteil zugehört. »Wie seltsam ist es doch,« sprach die letztere, »daß man oft etwas ganz genau gekannt und empfunden hat, ohne es eigentlich zu wissen; wie oft habe ich das alles gefühlt, und doch wird es mir erst jetzt so klar! Wie beneide ich die Männer, welche ihre Gedanken und Gefühle so auszusprechen wissen! Und Sie haben beide recht,« wandte sie sich zu Bernhard und Ludwig, »obgleich Sie verschiedener Meinung zu sein scheinen.«

Das ernste Gespräch hätte sich wohl noch eine Zeitlang fortgesetzt, wenn nicht der Oberst dazwischengetreten wäre, um sich mit Artigkeit zu Alisetten zu wenden und ihr nach geselligem Gebrauch einiges Verbindliche über ihren Gesang zu sagen. »Sie haben uns gerührt, ich möchte fast behaupten, zu sehr erweicht,« sprach er; »allein ich weiß, daß Sie innerlich über uns lächeln, weil Sie sich der Zaubermacht wohl bewußt sind, mit der Sie ebenso leicht die Heiterkeit zurückführen und aufs neue flattern lassen, als Sie ihr jetzt die mutwilligen Flügel gebunden haben. Wir wissen alle, daß Sie nicht nur ein Proteus sind, der sich selbst, sondern auch eine Circe, die andere nach Belieben verwandelt. Allein was hälfe es, gegen die Macht der holden Zauberin unwillig zu murren? Sie würde nur desto loser ihre Willkür üben; es bleibt uns daher nichts übrig, als daß wir uns aufs Bitten legen. Das tue ich denn, schöne übermütige Gebieterin! Wie wäre es, wenn Sie die dunkelfarbigen Nachtvögel, welche Ihr Klagelied herbeigelockt hat, verscheuchten und einige bunte Tagschmetterlinge flattern ließen, die sich mit ihren farbigen Flügeln so reizend im Sonnenstrahl wiegen?«

Alisette sah ihn mit einem anmutigen, fast schalkhaften Lächeln an und sprach ein ungemein wohllautendes »Gern, sehr gern!« Fast in demselben Augenblick » 129 begann sie auch schon das Vorspiel zu einem fröhlichen Liedchen, welches sie mit so hellen frischen Tönen anstimmte, daß man eine wirbelnde Lerche zu hören glaubte, die sich am schönsten Frühlingsmorgen über die betaute Saat in den blauen Äther aufschwingt; und diese Morgenfrische verbreitete sich in jeder Brust, selbst die ernste Lodoiska ließ ein Lächeln um ihre Lippen spielen.

Sowie Françoise geschlossen hatte, sprang sie munter auf und eilte auf Lodoiska zu, welche in der Ecke des Sofas saß. »Nun, liebe Gräfin,« bat sie, »müssen Sie uns ein Lied singen; Ihre kleinen polnischen Nationallieder sind gar zu reizend, sowenig ich auch von den Worten verstehe.« – »O nein, nein,« entgegnete Lodoiska sanft abwehrend, »wie sollte ich meine traurigen Gesänge, meine bebende Stimme nach diesen lieblichen Tönen vernehmen lassen.«

»O, sie lautet so süß, so rührend! Oder glauben Sie, ich hätte Sie nicht belauscht, wenn Sie bisweilen spät in die Nacht in Ihrem Zimmer diese eigentümlichen Lieder unbefangen für sich gesungen haben?« Lodoiska errötete mit Lieblichkeit. »Ja,« fuhr Alisette fort, indem sie Lodoiskas Hand mit einer bittenden Bewegung ergriff, »die Nacht und offene Fenster sind oft Verräterinnen der süßesten Geheimnisse. Das kleine Lied,« hier summte sie die Melodie, welche den Anfang desselben bildete, »möchte ich Sie auch einmal singen sehen, da ich es nun schon zwei Nächte hintereinander gehört habe.«

Lodoiska glühte wie eine dunkle Rose, denn, ohne es zu wissen, hatte Françoise sie sehr in Verlegenheit gesetzt, da die Worte des Liedes denjenigen, die des Polnischen kundig waren, in der Tat Herzensgeheimnisse zu verraten scheinen mußten. »Das Lied,« sprach sie, »ist eine Erinnerung aus früher Kindheit, wo ich es oft von meiner Mutter hörte; ganz zufällig habe ich es zwei Abende hintereinander, wo mich die Nachtigall hier gegenüber wach erhielt, gesungen.«

»So singen Sie es auch den dritten,« erwiderte Françoise; »bitte, bitte!« Dabei schmeichelte sie so anmutig, daß Lodoiska sehr dringende Gründe hätte haben müssen, um ihr eine abschlägige Antwort zu erteilen. Sie würde dieselbe freilich gern gegeben haben, doch fühlte sie jetzt, daß es besser sei, sich willig zu zeigen, als den Worten des Liedes durch Weigern statt der zufälligen Beziehung eine wirkliche zu geben, zumal da sie annehmen durfte, daß Jaromir und die Gräfin es wahrscheinlich schon an der Melodie erkannt hatten. Sie gab daher den Bitten Alisettens nach, ließ sich von dieser, wiewohl ein wenig befangen, an das Instrument führen, setzte sich und begann:

Einsam wandle ich so gerne,
Suche mir den stillsten Weg;
Von den Frohen bleib' ich ferne,
Liebe Waldes dunklen Steg;
An der Felsenwand,
An des Bächleins Rand,
Setze ich mich sinnend nieder: –
Wann, ach wann kehrst du mir wieder!

Auf der Lüfte linden Schwingen
Kehrt der holde Lenz zurück;
Alles wird er wiederbringen,
Alle Lust und alles Glück.
In dem dunkeln Hain,
Selig, traut allein,
Tönen neu die alten Lieder –
Wann, ach wann kehrst du mir wieder!

Wenn die kleinen Schwalben fliehen
Unser traulich stilles Dach,
Möchte ich beflügelt ziehen
In die fernsten Lande nach.
Ob die Lippe bleicht,
Bis ich dich erreicht,
Senk' ich nimmer mein Gefieder –
Wann, o wann kehrst du mir wieder!

Wie des Bächlein« Wellen fließen
Fort und fort bis an das Meer,
Werde Tränen ich vergießen,
Und sie trocknen nimmermehr.
Säumest du noch lang,
Bricht mein Herze bang,
Legt das müde Haupt sich nieder –
Wann, ach wann kehrst du mir wieder!

Lodoiska hatte eine sanfte, ungemein rührende Stimme, der sie aus Schüchternheit nur ganz leise Töne entlockte, welche aber in ihrem reinen Ansprechen den bebenden, verwehenden Klängen der Äolsharfe glichen. Verbunden mit dem leichten Erröten des edeln Angesichts, weil die Worte geheime Regungen ihres Herzens auszusprechen schienen, brachte ihr Gesang eine ganz eigentümliche Wirkung hervor. Es war die Jungfräulichkeit selbst, die sich hier gewissermaßen in Tönen darstellte; nicht ein Kunstwerk, sondern ein holdes Bild der Natur, welches diese in heiligen Momenten schuf und mit allen rührenden Reizen des Lebens ausstattete. Es ließ sich leicht erklären, weshalb Lodoiska das Lied, welches sie gestern noch ganz unbefangen gesungen haben würde, heute mit einiger Schüchternheit vortrug. Denn da seit wenigen Stunden in ihrem Herzen die ersten Keime zu einer besondern Beziehung der Worte auf ihr eigenes Leben zu sprossen begannen, so brachte dies dunkle Ahnen jene Scheu hervor, welche sie sonst nicht gekannt haben würde. Der Mann ist leichter geneigt als die Jungfrau, in Zufälligkeiten Absichten zu suchen, wenn diese seinen Wünschen entsprechen; deshalb wagte Jaromir, und sein Herz schlug dabei in überschwenglicher Freude, diese Worte für sich zu deuten. Er bedachte, daß sie, wie Françoise erwähnt hatte, dieses Lied in einsamen Stunden der Nacht gesungen; hatte sie dabei an ihn gedacht? Ja, ja! sagte er sich und glaubte, was seine heißesten Wünsche waren. Dieses vermeinte Entgegenkommen ihrer Liebe entflammte die seinige daher schnell zur mächtigen Glut; ihm ward das seltene Glück, nicht zu zweifeln, ob die Geliebte auch ihm hold gesinnt sei, sondern er glaubte ihr Herz schon enthüllt zu sehen. Freilich nicht durch die Tat, denn sie trug es wie die Rose in der innersten Blüte verborgen, sondern die Hand eines lenkenden Geschicks streifte die zarten Blätter des Kelches auseinander und zeigte das Kleinod, welches er verschloß; dem diamantenen Tautropfen gleich glänzte es im tiefen Blütenschoß und strahlte alle schönsten Farben des Weltalls verklärt wider; und mitten in ihrer schimmernden Hülle glaubte Jaromir sein Bild schweben zu sehen.

Es war nicht gedankenlose, gemütsarme Eitelkeit, die ihn zu diesem Erraten führte, sondern der starke Glaube des liebenden Herzens, die kühne Hoffnung der Jugend, welche heiße Wünsche und süße Erfüllungen in glücklicher Täuschung zu verwechseln vermag. Hier aber täuschte er sich nicht, wenn er auch vielleicht mehr erraten hatte, als verraten wurde, ja als Lodoiska zu verraten vermochte, da für sie selbst ihr Herz noch klösterlich verschleiert war.

Der Wunsch des Obersten, den die Musik mehr unterhielt als bewegte, trug auf ein Duett an; doch Lodoiska sprach ein sanftes, aber entschiedenes Nein. Es blieb dem Obersten, der sich nicht sogleich ergeben wollte, keine Zeit zu einer Bestürmung, nachdem sein erster Versuch zurückgeschlagen war; denn die Gräfin unterbrach ihn mit der Aufforderung, sie zu Tisch zu führen. Er reichte ihr höflich den Arm; Jaromir bot den seinigen Lodoiska dar, Ludwig, der einer der ältern Damen nahe stand, führte diese, und Bernhard nahm Alisetten an den linken, die andere, noch allein übrige Freundin der Gräfin an den rechten Arm. »Sie führe ich auf der Seite, wo mein Herz schlägt«, sprach er halblaut zu Alisetten, welche ihm durch einen munter zutraulichen Blick antwortete. Die Türen des glänzend erleuchteten Speisesaals öffneten sich, man ging hinein.


 << zurück weiter >>