Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Neuntes Kapiel

Es war heller Tag, als sie erwachten; und vielleicht hätten sie noch länger geruht, wenn der Hunger sie nicht geweckt hätte. Zum Glück konnten sie ihn diesmal befriedigen. Rasinski ging aus, um zu versuchen, ob er es möglich machen könne, seinen Leuten einigen Vorrat von Lebensmitteln zu verschaffen, damit sie für die nächsten Märsche gedeckt wären. Während seiner Abwesenheit kam Regnard und erzählte, daß ein zu Paris verhafteter General, Mallet, einen Aufruhr zu stiften und die Absetzung des Kaisers zu dekretieren versucht habe. Freilich sei die neue Dynastie nur einige Stunden alt geworden, dennoch habe die Nachricht einen tiefen Eindruck auf den Kaiser gemacht, und er solle gegen den Grafen Daru geäußert haben: »Wie nun, wenn wir in Moskau geblieben wären?« – »Jetzt sind diese Nachrichten eingetroffen?« fragte Bernhard. – »Schon zu Dogorobuye erhielt der Kaiser die Depeschen,« fuhr Regnard fort; »er achtete aber doch nötig, sie zu verheimlichen. Auch von der Arrieregarde sollen schlimme Nachrichten eingetroffen sein. Bei Wiazma hat ein heftiges Gefecht stattgefunden, wobei wir viele Leute verloren haben; der Prinz Beauharnais hat am angeschwellten Fluß Wop, über den er seinen Übergang nicht rasch genug bewerkstelligen konnte, seine halbe Artillerie und alle Bagage zurücklassen müssen. Doch ist sie zum Glück den Kosaken nicht in die Hände gefallen, denn sie wurde mit den Pulverwagen zugleich in die Luft gesprengt. Indessen muß die Arrieregarde furchtbar gelitten haben, wenn wir bedenken, daß schon wir so viele Tausende nur durch Hunger und Kälte verloren! Die nach uns Marschierenden werden noch weniger finden als wir und haben es überdies mit dem Feinde zu tun.«

Jaromir hatte sich still zurückgezogen, während Regnard erzählte; bei dem großen Elende, welches jetzt herrschte, war ihm das Schicksal Alisettens doch nicht gleichgültig. Er empfand Mitleid mit der Unglücklichen, deren Leichtsinn jetzt so entsetzlich bestraft werden konnte. Gern hätte er nach ihr gefragt, doch konnte er die Worte nicht über seine Lippen bringen. Deshalb verließ er lieber das Gemach und ging auf die Gasse hinab. In den letzten Tagen hatten die übermäßigen Anstrengungen ihn mit Gewalt von der Beschäftigung mit seinem Schmerz abgezogen. Kaum war jetzt ein Augenblick der Ruhe eingetreten, so zeigte sich auch dieser innere Feind wieder. Eine briefliche Verbindung mit Warschau war jetzt unmöglich geworden; es machte ihm daher bittere Sorge, ob der Brief, den Rasinski zu bestellen übernommen hatte, angekommen sein werde, oder ob die entehrende Beschuldigung noch auf Lodoiska laste, ohne durch seine Selbstverurteilung zurückgenommen und gesühnt zu sein. Diese Vorstellung quälte ihn mit unerbittlicher Härte. In den Augen der Geliebten ein Schuldiger zu sein, das hatte er tragen gelernt; doch ihr für einen Unwürdigen, Verächtlichen zu gelten, dessen rohe Gesinnung das Heiligtum ihres Herzens mit Füßen trat, und dem nach dem hinreißenden Augenblick der Leidenschaft die Besinnung nicht zurückkehrte – das beugte ihn in eine solche Tiefe hinab, daß er den Mut, diesen Schmerz ertragen zu können, nicht in sich fand. Und wenn nun – wie es jetzt durch das furchtbare Verhängnis, welches das ganze Heer traf, möglich wurde –, wenn nun der Tod ihn und Rasinski und die übrigen, die seine Schuld und seinen Entschluß der Sühne kannten, hinraffte, bevor einer von ihnen den Schleier von der unglückseligen Wahrheit heben konnte? Wenn er die Schmach und Entwürdigung, die sein Verdacht schonungslos auf die Geliebte geworfen, nicht mehr zurücknehmen konnte! Wenn diese erdrückende Last des Bewußtseins ihn bis in das Jenseits verfolgte!

Bei dem Blick in diese Möglichkeiten schwindelte ihm, als ob er an dem jähen Rande eines Abgrundes stehe; seine Vorstellungen verwirrten sich, und er bedurfte seiner ganzen männlichen Anstrengung, um ihnen nicht willenlos anheimzufallen. Doch eine unheimliche Gewalt zwang ihn fortwährend, das Auge wieder in diese grauende Tiefe seiner Zukunft zu richten. Er fühlte, daß man die bewußte Macht über seine Gedanken verlieren könne; die Möglichkeit, wahnsinnig zu werden, berührte ihn mit kaltem Grauen. Er sah Regnard wieder gehen. Die lange, hagere, knochenstarke Gestalt desselben, seine scharfen, selbst durch die Anstrengungen dieser Zeit fast gar nicht geänderten Züge flößten ihm jetzt einen Widerwillen ein, der an Furcht streifte. Er glaubte seinen bösen Dämon in ihm zu sehen, und wandte daher rasch seine Schritte, um ihm nicht zu begegnen.

Bald nach Regnard kamen Bernhard und Ludwig herunter auf die Straße; sie waren einander selbst jetzt wieder kenntlich geworden, da sie seit dem Rückmarsch von Malo-Jaroslawez zum ersten Male die Möglichkeit gehabt hatten, sich umzukleiden und ordentlich zu reinigen. »Wahrhaftig,« rief Bernhard im Heraustreten, »jetzt nehmen wir uns ganz stattlich aus. Seit dir der Bart nicht mehr wie ein halbzölliges Stoppelfeld um das Kinn starrt, siehst du ordentlich schön aus. Aber hier ist freilich niemand, der sich verlieben könnte.« – »Schon wieder leichtsinnige Gedanken!« sprach Ludwig lächelnd. »Doch in der Tat ist es sogar in großer Bedrängnis etwas wert, sich nicht selbst zum Widerwillen zu sein. Erst jetzt fühle ich mich wohl.« – »Im ganzen sieht man,« antwortete Bernhard, »daß die Prügel dem Menschen wie dem Hunde gut bekommen; denn wir befinden uns doch heute eigentlich ganz erträglich. Wenn man nicht unter der Peitsche verblutet, so ist's ein gesunder Aderlaß.« – »Wie glücklich du in so wenigen Stunden vergessen kannst!« seufzte Ludwig. »Ich sehe die Vergangenheit zu finster und die Zukunft zu drohend bewölkt, um mich der Gegenwart freuen zu können.« – »Bester, die Zukunft wird so schlimm nicht sein, denn wir sind jetzt auf die schlimmste gefaßt; wenn man weiß, was da kommt, empfängt man das Unheil ganz anders, als wenn man aus geträumtem Himmel plötzlich hineinfällt. Ein unvermuteter Stoß wirft mich hin; habe ich aber Zeit, mich fest auf die Beine zu stellen, so kann ich der dreifachen Gewalt Widerstand leisten. Jetzt laß uns aber sehen, ob wir Schuhe auftreiben können. Wir müssen die Lazarette durchstöbern und versuchen, ob sich eine Erbschaft machen läßt. Ich würde Rasinski gar gern diesen Dienst leisten.«

Dieser hatte ihm nämlich den Auftrag gegeben, den Versuch zu machen, ob sich für die Leute, deren Schuhwerk durch den Marsch gänzlich zerrissen war, neues auftreiben ließe. Sie gingen; mehr dem Zufall als einem Plane folgend, nahmen sie ihren Weg in die Unterstadt, wo die Lazarette der Reservearmeen sich befanden. Vor einem großen, halbverfallenen, aber doch halb zur Bewohnung eingerichteten Gebäude sahen sie zwei Männer in dicken Pelzen und mit Pelzmützen bekleidet stehen. Sie teilten Befehle an verschiedene andere aus, deren Uniform sie als zu dem Verpflegungspersonale gehörig bezeichnete. »Gewiß ein paar Schufte, die uns hungern und frieren lassen,« rief Bernhard unwillig, »und in ihren Pelzen spöttisch zuschauen, wenn der arme Soldat im Schmerz der Kälte Tränen vergießt. Ein Muttersöhnchen! denken sie. Aber ich wollte euch nur ein Biwak machen lassen wie den bei Dogorobuye!« – »Vielleicht wäre aber doch gerade bei diesen Leuten etwas zu machen«, erwiderte Ludwig. »Laß uns näher gehen und zusehen, ob wir etwas erlangen können.« – »Meinethalben! Aber ich gestehe redlich, ich habe lieber mit einem Kosaken zu tun, der's doch gerade heraussagt, daß er mich plündern und im Notfall totschlagen will, als mit diesen giftigen Kreuzspinnen, die sich die fetten Bäuche von dem Marke der hinsterbenden Soldaten mästen. Was hilft's aber! Nur näher denn!«

Sie traten zu den beiden Männern, welche mit dem Rücken gegen sie standen, heran; als diese die Schritte und den Gruß der Kommenden hörten, wandten sie sich um. Ein gegenseitiges Erstaunen war sowohl in Ludwigs und Bernhards als in den Zügen der Fremden zu lesen.

»Sehen wir uns hier wieder?« fing nach einigen Augenblicken der jüngere der beiden Fremden an, indem er den Mund zu einem widrigen Lächeln verzog. Kaum hatte er diese Worte gesprochen, als Ludwig mit einem Gefühl, als sei er in eine Gletscherspalte gestürzt, Beaucaire und in seinem ältern Begleiter St.-Luces erkannte. »Gendarmen!« rief Beaucaire, ehe Ludwig ein Wort hervorbringen, einen Entschluß fassen konnte, »verhaftet sofort diese beiden und werft sie in ein strenges Gefängnis! Es sind Verräter, die sich an Rußland verkauft haben!« Erst durch diese Worte erkannte Bernhard, wen er vor sich habe; denn er hatte Beaucaire in Dresden nur einige Augenblicke auf der Straße gesprochen, und so fest ihm die Physiognomie auch zum Teil aus frühern Erinnerungen eingeprägt war, hatte doch die Fremdartigkeit der Tracht sein sonst so sicheres Gedächtnis einen Augenblick ungewiß gelassen. Jetzt ergriff ihn eine unüberlegte aber unbezwingliche Wut. »Das lügst du, elender Bube!« rief er mit furchtbarer Stimme, sprang einen Schritt zurück und riß den Säbel heraus. »Wer mir zu nahe kommt, dem spalte ich den Schädel!« Ludwig, der gleichfalls erkannte, daß hier ein entschlossenes Handeln allein zu retten vermochte, stieß mit angestrengter Kraft den Gendarmen, der ihn beim Arme ergreifen wollte, zurück, daß er in den Schnee taumelte, und im Augenblick blitzte auch in seiner Hand der Säbel. In der Nähe waren Soldaten. »Kameraden, zu Hilfe, zu Hilfe!« rief Bernhard laut. »Diese Schurken, die uns verhungern lassen, wollen uns jetzt noch mißhandeln und morden! Herbei, zu Hilfe!«

Allein, wie es in der Leidenschaftlichkeit immer der Fall ist, rief er diese Worte nicht französisch, sondern in seiner Muttersprache. Teils wurden sie daher nicht verstanden, teils bezeichneten sie ihn sogleich als einen Fremden, auf die, seit das Heer von so furchtbarem Unheil betroffen wurde, sich der heimliche Haß der Franzosen schon längst gerichtet hatte. Sie glaubten, und nicht völlig mit Unrecht, sämtliche, aber zumal die deutschen Bundesgenossen freuten sich im stillen über das Unglück des Kaisers und der Armee. St.-Luces, gewandt, jeden Umstand zu benutzen, rief daher ebenfalls: »Ce sont des traîtres allemands, des espions soldés par la Russie!«

Diese Worte mußten besser wirken. Die in der jetzigen Stimmung leicht zu erbitternden Franzosen drangen auf die beiden Opfer, die ihnen so bezeichnet waren, ein, um sie niederzuschlagen. Bernhard wollte sich nicht ergeben, doch Ludwig hielt ihm selbst den Arm und rief: »Verteidige dich nicht! Wir könnten hier ein Unglück anrichten. Man muß uns Urteil und Recht gewähren. Rasinski wird uns nicht verlassen; auf ihn berufen wir uns.« Bernhard stampfte unwillig mit dem Fuße und knirschte mit den Zähnen. »Wir sind Ihre Gefangenen, mein Herr,« wandte sich Ludwig zu St.-Luces; »wir werden um Verhör und Urteil bitten, damit endlich diese grundlose Anklage ein Ende habe. Wir sind Soldaten des polnischen Heeres; Oberst Rasinski ist unser Befehlshaber. Er wird uns zu vertreten wissen; ich fordere, daß Sie ihm unsere Verhaftung sogleich melden!«

Die Gendarmen nahmen beiden die Säbel ab, und auf St.-Luces' Geheiß wurden sie sofort in das Gebäude hineingeführt. Der Unteroffizier wollte sie in die Wachtstube neben dem Tore bringen, wo die Magazinwache sich befand, doch Beaucaire rief: »Nein! Diese Verbrecher haben das Leben verwirkt. Sie müssen in ein sicheres Gefängnis gebracht werden. Sperrt sie in einen der Keller nach dem Graben hinaus ein!« – »Ludwig, Ludwig,« sprach Bernhard im Gehen, »ich fürchte, du hast übel getan, nicht den Waffen und der Flucht zu vertrauen. Wer weiß, ob Rasinski von diesen Schurken unterrichtet wird, ehe es zu spät ist!«

Ludwig schien von der Wahrheit dieser Worte getroffen. Im ersten Eifer konnte sein edelmütiges Herz selbst einem solchen Feinde wie Beaucaire nicht diesen Grad der Bosheit zutrauen; er hatte daher gegen ihn gehandelt, wie er gegen einen Mann von Ehre hätte handeln müssen. Jetzt fiel ihm bei, daß vielleicht niemand mehr als eben Beaucaire das Tageslicht bei dieser Angelegenheit zu scheuen habe, er dachte an die Zumutungen, die der Elende seiner Schwester gemacht hatte, und es ward ihm klar, daß dieser Grad der Unwürdigkeit auch nur in der niedrigsten Rache Genugtuung finden könne. Da warf er einen Blick auf den Sergeanten der Gendarmerie, welcher sie nebst drei Mann begleitete. Dieser trug den Orden der Ehrenlegion, hatte zwei Narben auf der Stirn und ein Auge, das eine würdige Gesinnung versprach. »Ihr seid Soldat,« redete er ihn an; »ihr werdet einem Kameraden eine Bitte nicht abschlagen.« –

»Außer die, welche mir meine Pflicht verbietet«, antwortete der Sergeant ernst. – »Wir sind unschuldig. Wir fallen als Opfer boshafter Rache. Wenn unser Oberst, der Graf Rasinski, unsere Verhaftung nicht erfährt, sind wir ohne Rettung verloren. Gebt mir euer Wort, ihm dieselbe zu melden.« – »Wenn meine Befehle nicht dawiderlauten, sehr gern.« – »Er wird es euch reichlich lohnen! Nehmt meinen Dank im voraus«, rief Ludwig freudig und wollte dem Sergeanten seine ganze Börse in die Hand drücken. Doch dieser trat zurück und entgegnete: »Keine Bestechung! Ich werde meine Pflicht als Soldat und Kamerad tun. Doch weg mit euerm Gelde. Was sollte es uns auch hier helfen? Von dem Zeug haben wir genug.« – »Ihr seid ein Ehrenmann; so nehmt wenigstens einen Händedruck für euern guten Willen.«

Der Sergeant reichte ihm schweigend, aber mit einem gutmütigen Blick die Hand. »Hier sind wir am Ziel«, sprach er und öffnete eine mit Eisen beschlagene Tür, von der etwa zwanzig Stufen abwärts führten. Dann wandte man sich in einen Gang zur Rechten, eine zweite Tür wurde aufgeschlossen, und Ludwig und Bernhard betraten mit einem innern Schauer ihr Gefängnis, das sich sofort hinter ihnen schloß.

Es war ein feuchtes, kaltes Gewölbe, in das nur eine durch ein Eisenkreuz geschlossene runde Öffnung, kaum von der Größe eines Menschenkopfes, spärliches Licht hineinwarf. »Verfluchtes Loch,« murmelte Bernhard zwischen den Zähnen; »kalt wie ein Eiskeller, und doch dabei feucht! Sieh nur, wie alle Wände mit einem fingerhohen Reifteppich bedeckt sind! Ein so widriger dumpfer Geruch!« Er ging tappend umher. »Sollte man uns hier wirklich auf dem nackten Stein liegen lassen? Nicht die Spur eines Lagers ist zu treffen. Ein Glück, daß wir die Mäntel anhaben, sonst könnten wir, ehe die Sonne untergeht, hier erfrieren.« – »Ich hoffe, wir werden noch früher unsere Freiheit erhalten«, sprach Ludwig in einem Tone, dem er den Ausdruck tröstenden Zutrauens zu geben suchte. »O Bernhard! Dieser Kerker scheint mir nicht fürchterlich! Aber der Gedanke, daß ich dich, den ganz Unschuldigen, in alle diese Strudel eines verworrenen Geschicks mit hineingerissen habe, nur weil du mir eine hilfreiche Hand entgegenstrecktest, um mich zu retten –« – »Um dich mit plumper, ekelhafter Dummheit vollends hineinzustoßen, während du ohne meine unberufene Torheit wahrscheinlich jetzt auf dem Trocknen säßest«, unterbrach ihn Bernhard fast wild. »Sei kein Kind, Ludwig«, fuhr er sanfter fort. »Willst du dir am Ende noch Vorwürfe darüber machen, daß du die Sterne unsers Schicksals nicht am Draht lenken kannst? Willst du verantwortlich sein von jetzt bis in alle Ewigkeit für das, was mir begegnet? Und doch knüpft sich nur eine Ursache an die andere, und wenn ich in fünfzig Jahren am Keuchhusten sterbe, so kannst du mir beweisen, daß du daran schuld bist, weil du auf dem Simplon im Jahre 1812 deine Pflicht tatest gegen eine schöne, bittende Unglückliche.« Ludwig blickte finster vor sich hin und schwieg. »Schließ doch einmal die verfluchte Rechnung ab!« fuhr Bernhard fort. »Es könnte mir zuletzt noch glücklich gehen, und ich wäre dir dann für ewig zum Dank verpflichtet und dürfte kein Glas Wein mehr trinken, ohne mich gegen dich zu verbeugen und zu sagen: Siehst du, wäre ich nicht damals mit dir nach Rußland gegangen, so hätte ich nicht mit dir heimkehren können, und wäre ich nicht heimgekehrt, so hätte ich das große Los nicht gewonnen, und hätte ich das große Los nicht gewonnen, so hätte mich die schöne Prinzessin nicht geheiratet, und hätte ich sie nicht geheiratet, so säße ich jetzt nicht hier in meinem Prachtsaal, und – kurz ich will dir eine Kette von Ursachen und Wirkungen schmieden, die vom ersten Schöpfungstage bis zum Jüngsten Gerichte reichen soll!«

»Deine freundlichen Verhüllungen werden mich an der Wahrheit nicht irremachen«, antwortete Ludwig bewegt. »Ich sehe diese Kerkerwände an, und messe die Weite zwischen hier und der Heimat – und ich weiß nicht, aber ich fühle es, was und wer dich hierher gebracht!«

»Ich fühle nicht, aber ich weiß, daß ich dich herschleppte mit meinen Dummheiten in Dresden! Aber du verlangst vielleicht gar, ich sollte dich ruhig stecken lassen in der Wolfsgrube und davonschleichen, nachdem ich dich hineingetölpelt hatte? Donnerwetter! Jetzt schießt mir's auf! Wäre ich nicht ein Lamm, ich könnte wild darüber werden! Seh' ich das Ding recht an, so willst du mir auf eine feine, aber desto boshaftere Weise nur Vorwürfe machen. Doch vergeblich, guter Freund! Mein Gewissen ist ein Krokodilspanzer, eine Rhinozeroshaut; ich sage dir, es ist mit eichenen Bohlen verkleidet und schuß- und feuerfest dazu. Glaubst du, ich werde mich für alle Sünder verantwortlich machen, die unvermutet und ohne Beichte in die Hölle fahren, weil sie von dem nachstürzenden Kiesgerülle, auf dem mein Fuß zufällig oder ungeschickt ausglitt, zerschmettert werden? Sowenig, wie ich den Urerzvater Adam anklage, wenn ich einen dummen Streich begehe, daß sein Apfelbiß mir den Gewissensbiß zugezogen habe, den ich nämlich empfinden sollte! – Aber ich wünschte, wir hätten ein gutes Kaminfeuer hier und einen Diwan mit Pferdehaaren gepolstert; denn das Stehen wird mir schwer, obgleich ich die Nacht gut geschlafen habe. Siehst du, das ist noch ein wahres Glück, daß wir ausgeruht und halb gesättigt in diesen russischen Bürgergehorsam gekommen sind. Faßte der Spitzbube uns gestern ab, so wäre dies heute unser anständiges Grabgewölbe, so rasch würden Hunger und Kälte uns still gemacht haben.«

»Du bist so gut! Von allem siehst du die helle Seite!« antwortete Ludwig gerührt. »Hast du denn aber nicht bedacht, daß wir unsern Feinden eben nur heute kenntlich sein konnten? Wer hätte uns gestern in den langen, struppigen Bärten, mit dem verworrenen Haar, der schwarzen, rußigen Haut erkannt? So wird, was vor einer Stunde ein Glück für uns schien, jetzt unser Verderben.«

»Und wer sagt dir das? Wenn es sich in dieser Stunde so umkehren kann, warum nicht in der nächsten abermals? Mut, Mut, Ludwig! Der Rachen des Todes steht lange offen, ehe er einmal zuschnappt; er hat oft genug vergebens in diesem letzten Vierteljahr die Zähne gegen uns gefletscht; er soll uns heute nicht bange machen.«

»Ich zittere nicht!« sprach Ludwig mit Würde, »denn ich darf meinen Richtern, wie ich sie ungern nenne, mit freier Stirn gegenübertreten. Aber ein tiefer Schmerz muß mich durchdringen, wenn ich sehe, wie ein unseliger Fluch auf mir lastet und die mit erdrückt, die sich am treuesten zu mir gesellen möchten! Dich und Marien! Und, wer weiß–« – »Orestes!« unterbrach ihn Bernhard. »So laß mich denn dein Pylades sein.« Er nahm ihn in den Arm und küßte ihn herzlich.


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