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Die nächsten Tage verstrichen den Frauen so still wie gewöhnlich. Die gewonnene Schlacht bildete für sie wie für alle Bewohner Warschaus noch immer den Hauptgegenstand des Gesprächs. Nach und nach wurden genauere Nachrichten darüber bekannt, weil jeder, der den Seinigen noch so eilig geschrieben, doch irgendeines Umstandes gedacht hatte. Die Erstürmung der großen Redoute war von mehreren kurz berichtet. Fast keiner, der nicht von den großen Verlusten, der Hartnäckigkeit des Kampfes, dem entsetzlichen Artilleriefeuer, den unbeschreiblichen Anstrengungen irgend etwas erwähnte.
Nach drei Tagen erschien ein ausführlicher, amtlicher Bericht in den Zeitungen. Die Gräfin las ihn zuerst mit der gespanntesten Aufmerksamkeit. Ihr Herz schlug stolz, so oft der Tapferkeit der polnischen Truppen gedacht wurde; zumal aber, wo der Bericht von der Kavallerie sprach. Als sie zu Ende gelesen, ging sie zu Lodoiska und Marie hinüber, die, mit weiblichen Arbeiten beschäftigt, auf ihrem Zimmer saßen, um ihnen vorzulesen, was die Zeitungen meldeten. Die Spannung beider Mädchen war so groß, daß ihnen unwillkürlich die Nadel entsank; bei jedem neuen Kampfe, der geschildert wurde, bebten sie aufs neue für die Ihrigen. Zumal als es hieß: »Jetzt erhielt der König von Neapel Befehl vom Kaiser, was ihm an Kavallerie zu Gebote stehe, zusammenzuraffen und damit die russischen Linien zu werfen, so daß die furchtbare Redoute in der Kehle angegriffen werden könnte. Zwei sächsische Kürassierregimenter, drei polnische leichte Kavallerieregimenter –« Hier fing Lodoiska an zu zittern und erbleichte; selbst die ruhigere Marie wechselte die Farbe. Rasinski wurde nicht genannt, doch eine Ahnung sagte ihnen, er sei mit seinem Regimente dabeigewesen. Diese Vorstellung wirkte mächtig ein; die Beschreibung des Gefechts war lebhaf, sie gestand große Verluste ein, schilderte aber auch den Triumph des Sieges mit glänzenden Farben.
Die Gräfin hatte geendet. Wie auf ein verabredetes Zeichen sprangen beide Mädchen, die bisher in bebender Spannung gesessen hatten, auf und sanken einander in die Arme. Es war die tiefste Rührung über die Rettung ihrer Geliebtesten aus diesem furchtbaren Gewitter des Kampfes. Selbst die Gräfin wurde weich, schloß die Mädchen sanft an sich und neigte ihr mütterliches Haupt gegen sie hinab.
Am fünften Tage erst kam ein zweiter Brief von Rasinski, in welchem mit Bleistift geschriebene Blättchen von Ludwig und Jaromir lagen. Rasinski schrieb: »Teuere Schwester! Seit vier Tagen verfolgen wir den Feind rastlos und haben täglich Scharmützel. Dennoch rücken wir nur langsam vor, weil die Russen sich in guter Ordnung zurückziehen. Es würde nicht so sein, wenn unsere Erschöpfung es möglich gemacht hätte, sie schneller zu verfolgen. Die Sorge für die Verwundeten, für unsere Verpflegung, nimmt jetzt fast jeden Augenblick in Anspruch. Deshalb nur diese wenigen Zeilen. Wir haben viele teuere Freunde verloren! Zwei Dritteile meines Regiments liegen auf den Anhöhen von Semenowskoi, unter ihnen auch mein alter getreuer Petrowski, dessen Leiche ich nicht einmal aufsuchen und bestatten konnte. Seit Jahrtausenden ward keine so blutige Schlacht gefochten. Unsere Anstrengungen sind unbeschreiblich, doch mit der Hilfe Gottes sind wir noch wohlauf und rüstig. Über dem blutigen Schlachtfelde von Borodino wird Polens Sonne der Freiheit aufgehen! Darum, Johanna, trauere nicht über die Toten. Das Vaterland wird ihnen Denksteine setzen, daß ihr Ruhm unvergänglich glänze. Lebe wohl, Johanna! Die Morgenröte bricht endlich an! Freue Dich! Dein Bruder.«
Ludwigs Blättchen lautete: »Marie! Tage brauchte ich, um mein Herz gegen Dich auszusprechen, und kaum Minuten werden mir. Am Abend vor der Schlacht erfuhr ich den Tod unserer Mutter. O Dein lieber tröstender Brief! Mitten im Getümmel des Kampfes war mein Herz nur bei Dir, Du Arme, und die drohenden Gefahren verloren fast ihre Macht an mir. Bernhard ist die treueste Seele dieser Erde; er glaubte mich verloren und suchte mich unter den Toten. Aber wir fanden uns als Lebende. Leb wohl! Verzage nicht! Der Tag des Wiedersehens und des Glücks kommt auch für uns. Daß mich die furchtbare Schlacht verschonte, sei Dir Bürge dafür!«
Jaromir schrieb nur: »Lodoiska, mein holdestes Leben! Zittere nicht mehr, alle Gefahren sind vorüber! Die Schlacht war gewaltig – auch ich betrauere viele treue Brüder und Genossen. Doch mich beschützte Dein Flehen! Dir danke ich alles, Glück und Leben. O könnte ich erst wieder an Dein Herz sinken! Boleslaw, Ludwig und Bernhard leben. Teuerste, lebe wohl und gedenke denke mein!
Dein ewig getreuer Jaromir.«
Diese ersten Nachrichten von der eigenen Hand der Geliebten machten die Frauen unbeschreiblich glücklich. Jede leise Spur der Zweifel war nun verschwunden, sie überließen sich ganz dem glücklichen Gefühl, welches nach der überstandenen düstern Sorge und Gefahr der Brust die süßeste Belohnung gewährt. Nach wie vor besuchte Lodoiska täglich die Messe. Doch ihre Gebete waren jetzt Dankgebete geworden, und ihre Tränen wurden nicht mehr von Angst und Sehnsucht erpreßt, sondern sie flossen in dankbarer Rührung.
So verging eine Woche. Da traf die Nachricht von dem Einrücken des kaiserlichen Heeres in Moskau ein. Aus der Burg der alten Zaren war das Bulletin gezeichnet, wodurch der Kaiser diesen neuen, letzten Sieg dem staunenden Europa bekannt machte. Nun also war das große Ziel, der heißgewünschte Friede errungen. Denn mit wem sollte man Krieg führen, wenn es keine Feinde mehr zu besiegen gab? Jetzt lebten alle Hoffnungen in den Herzen auf, jetzt endlich glaubte man den Tag der Ruhe, der Vergeltung so unendlicher Opfer anbrechen zu sehen. Der Pole fühlte sich schon wieder frei. Er hoffte wieder ein Vaterland, einen aus dem Schoße des Volks hervorgegangenen König, eine Geschichte zu haben. In diesem Gefühle war die Gräfin glücklich und stolz; Lodoiska lehnte die Hütte ihres stillen Glücks an den kühnen Palast der Hoffnungen, den ihre Pflegerin aufrichtete. Marie nährte in tiefer, warmer Brust die Keime, welche Arnheims Betrachtung der Dinge tröstend in ihr geweckt hatte. Wenn nicht gleich, so werden sie doch bald erblühen, du wirst doch noch die Tage des Glücks, der Freiheit leuchten sehen, wirst den verfolgten Bruder wieder frei und offen an dein Herz schließen, seinen getreuen Freunden die Hand bieten dürfen. Endlich werden die finstern Gewölke, durch diesen letzten furchtbaren Schlag entladen, sich teilen, und des Himmels Blau sich freundlich wieder über deinem Vaterlande wölben. Lange genug dauerten die Herbst- und Winterstürme. Es muß auch ein Tag des Lenzes wieder anbrechen!
In diesen glücklichen Hoffnungen wiegten sich die Seelen der Frauen fünf Tage lang ein. Da verbreitete sich zuerst durch Juden, die von Brzesc-Litewski kamen, das Gerücht, Moskau sei von den Russen in Brand gesteckt. Verstohlen murmelte man es, raunte es leise, halb gläubig einander ins Ohr; denn man wagte es nicht laut auszusprechen, um nicht die Hoffnungen der fröhlichen Menge durch einen blinden Schrecken niederzuschlagen. Wie es zu gehen pflegt, so übertrieb der eine, während der andere sicher wissen wollte, alles beschränke sich auf einige durch Zufall in Brand geratene Gebäude. Im Hotel des Ge- sandten war alles still; niemand erfuhr den Inhalt der Depeschen, die die Kuriere brachten. Doch lauter und immer wachsender wiederholten sich die düstern Gerüchte; schon wagte niemand mehr zu widersprechen. Endlich war das Unheil nicht mehr zu verhehlen. Laut gestanden es die Berichte des französischen Ministers ein, daß die Russen in ihrem rasenden Wahne selbst ihre Hauptstadt der Zerstörung geweiht hätten. Was auch gesagt wurde, um das Schreckenvolle der Nachricht zu mildern, um der Vermutung vorzubeugen, als könne dies Ereignis dem französischen Heere Gefahr oder gar Verderben bringen: die Tat erschien zu ungeheuer, zu beispiellos, wenn sie nicht den sichersten Erfolg mit sich führte. Nur um Rußland mit Gewißheit zu retten, konnte Moskau den Flammen preisgegeben werden, wie man nur, um Frankreich zu retten, die Brandfackeln in die Häuser von Paris schleudern würde. Das fühlte jeder mit nicht zu besiegender Gewißheit. Ein stummer, kalter Schrecken bemächtigte sich der Gemüter, ein Grausen schlich durch die Seele der Kühnsten. Die Zeit hatte an ungeheuere Ereignisse, an beispiellose Taten gewöhnt; diese aber reichte weit über das Maß, über die Grenzen aller Vorstellung hinaus. Man erinnerte sich, daß in der entsetzlichsten Zeit der Französischen Revolution einer jener Redner, deren Worte ein Schwert, eine Flamme, ein Blitz wurden, wenn die aufgärende Leidenschaft sie aus dem Vulkan der Brust schleuderte, um seinen Gegner zu schrecken, auf der Tribüne gerufen hatte: »Dann wird der Tag kommen, wo man an der Seine die wüste Stätte zeigt, auf welcher einst Paris stand!« Dieser Gedanke schon hatte an jenen Tagen, wo man an blutige Schreckensgespenster, an die entsetzlichen Larventänze aller Furien und Dämonen, die das menschliche Herz besitzen können, gewöhnt war, das Blut in den Adern erstarrt. Und jetzt sollte so Ungeheueres, Namenloses, Undenkbares sich verwirklicht haben? Jene Stadt, die seit Jahrtausenden allen Ruhm und Glanz und Reichtum des unermeßlichen Reichs der Zaren in ihren Burgen und Palästen sammelte; jene Stadt, wo Asiens Üppigkeit mit Europas Kunst und Betrieb sich wetteifernd verband; jene alte Hauptstadt, geheiligt als ein Sitz der väterlichen Götter, sie sollte dem Boden gleichgemacht, in eine schauerliche Aschenwüste verwandelt sein? Nur das Ungeheuere konnte dieses Ungeheuere erzeugen, nur das Entsetzliche dies Entsetzen gebären! Eine Sturmflut wogender Vermutungen drängte sich heran. Dazu kam, daß auf den Schwingen des Gerüchts selbst dieses kaum zu fassende Ereignis noch ins Riesenhafte wuchs. Man schilderte die zerstörte Stadt als einen Aschenhaufen, der keinem lebendigen Wesen mehr Obdach gebe, als einen ausgebrannten Krater, wo der letzte Funke des Lebens erstorben sei. Unter der Asche sollten die verbrannten Gebeine des Heeres vergraben, nur wenige Führer und einzelne, die ein Wunder beschützt habe, entkommen sein. Man konnte sich's nicht denken, daß solch ein Wurf gewagt worden sei, wenn es nicht unzweifelhaft war, alles darauf zu gewinnen. Darum sagte man schon den Kaiser auf der Flucht, ja, einige wollten wissen, er sei bereits in Warschau. Die Besonnensten, Hoffnungsreichsten glaubten wenigstens nicht mehr an den Frieden, sondern hielten diese Tat für den unumstößlichsten Beweis, daß der Kampf jetzt erst recht beginnen sollte.
So folgte die dumpfeste Betäubung und mutloseste Bestürzung auf den kurzen Freudenrausch, den der Sieg gewährt hatte. Die Gräfin glich einem Marmorbilde, so bleich sah sie aus, seit diese Schreckensnachrichten eingetroffen waren. Nicht für das Schicksal ihres Bruders, der nächsten Ihrigen zitterte sie, sondern für das ihres Vaterlandes. Sie wähnte in dem auf nächtlich düsterm Hintergrunde brennenden Moskau das entsetzliche Spiegelbild der Zukunft Warschaus zu sehen, und im überwallenden Schmerze rief sie ängstlich prophezeiend aus: »Wer weiß, wie nahe jetzt der Tag ist, wo die Flammen über den Zinnen meiner Vaterstadt zusammenschlagen, zur Sühne für das grausenvolle Brandopfer, das Rußland seiner Freiheit gebracht hat!«
Lodoiska war ohne alle Fassung; nur Marie bewahrte in stiller, ergebener Seele die Ruhe, diese schönste Frucht des Glaubens und der Erkenntnis zugleich. Sie, die sich dem Taumel des Glücks nicht frei hatte hingeben können, sondern nur entferntere Hoffnungen an das Geschehene knüpfte, war jetzt auch nicht so tief in den Abgrund der Hoffnungslosigkeit gestürzt. Die Gräfin, abgeschlossen und einig mit sich selbst, wie sie war, bedurfte keines Trostes; sie stand entsetzt, aber fest, ohne zu beben, an den geöffneten Pforten des Verderbens. Doch Lodoiska wurde von dem Sturm der Ereignisse wie eine schwankende Rebe bewegt; sie bedurfte des Anhalts. Die liebevoll tröstende Marie, welche jedes Fünkchen der Hoffnung mit erfinderischer Liebe zu nähren wußte, war ihre Stütze. Denn vor der erstarrten, festen Gestalt der Gräfin schauerte Lodoiska heimlich zurück, weil sie in den ernsten Blicken derselben, in den tiefen Zügen ihres erhabenen Grams den heimlichen Vorwurf zu lesen glaubte: Du trauerst um nichts als um deine arme, kleine Liebe! Deine Seele ist nicht groß genug, den Verlust eines Vaterlandes zu empfinden. Möchten alle den Untergang gefunden haben in den Flammen, in der Aschenwüste, wenn du nur den Geliebten gerettet hast! Lodoiska täuschte sich; diese strenge Sprache würde Johanna nicht geführt haben, dazu fühlte ihr Herz zu liebend menschlich das Weh in fremder Brust.
Doch schnell änderte sich die Lage der Dinge wieder. In diesen Zeiten schwankte jedes Lebensschiff auf stürmischem Meere. Bald erblickte man von dem Gipfel der Welle den nahen Hafen, die Rettung, den Sieg; bald türmten sich die Wogen hoch über das Haupt und ließen kaum noch einen Streifen des ewigen Himmels wahrnehmen. Es kamen spätere Nachrichten aus Moskau, die den Beweis führten, daß das Heer nicht gefährdet sei, daß man, trotz der schreckenvollen Zerstörung, Wohnplätze zu Winterquartieren genug übrig behalten habe, daß der Krieg zwar noch fortdauere, aber doch bereits die ersten Schritte zu Friedensunterhandlungen geschehen waren. Jetzt verschwand die Bestürzung, welche die Kunde von dem Unheil erregt hatte, und neue Hoffnungen keimten empor. Nur auf Nachrichten von den Ihrigen warteten die Frauen noch, um sich ganz der Freude hinzugeben. Da trafen eines Abends zwei Briefe zugleich ein; der eine, von Jaromirs Hand, war an Lodoiska, der andere von Rasinski an seine Schwester gerichtet. Dies fiel auf, da sonst alles in Rasinskis Briefe eingeschlossen zu sein pflegte. Lodoiska war in der Vesper; die Gräfin öffnete daher nur den Brief Rasinskis an sie; er war vom 15. September, dem Tage nach dem Beginn des Brandes, datiert und lautete:
»Teuerste Schwester! Wir sind, was unsern Teil anlangt, einem großen Unheil auf die wunderbarste Weise entkommen. Moskau steht halb in Flammen! Es herrscht eine beispiellose Verwirrung. Wir mußten aus der Stadt ins Feld hinausrücken und stehen jetzt im Lager. Ich benutze diese erste Minute, die ich gewinne, Dir zu melden, daß wir alle leben und unversehrt sind. Wann der Brief abgehen wird, weiß ich nicht. Oberst Regnard, den ich eben sprach, besorgt ihn zur Post.
Dein Bruder.«
Doch in dem Briefe lag noch ein besonderes, geschlossenes Zettelchen mit der Aufschrift: »Für Dich allein.«
»Wir vermissen Jaromir! Verschweige dies Lodoisken. Daß er verunglückt sei, ist fast undenkbar. Ich mußte ihn mit einer Meldung zum Marschall Mortier senden; so kam er von mir ab. In der ungeheuern Stadt, bei der grenzenlosen Verwirrung aber ist nichts leichter als sich zu verirren. Morgen, hoffe ich, sind wir wieder beisammen. Ich schreibe dies nur Dir, weil ich Dir heilig versprochen, Dir niemals etwas zu verhehlen. So darfst Du mir auch glauben, daß ich nichts für Jaromir fürchte.«
Als die Gräfin den verschlossenen Zettel gelesen hatte, glaubte sie natürlich, der zugleich mitgekommene Brief Iaromirs werde seine Vermissung erklären. Sie hielt ihn mit der größten Wahrscheinlichkeit für später geschrieben und nachträglich zur völligen Beruhigung Lodoiskas abgesandt. Darum freute sie sich auf die Rückkehr derselben, um sie mit dem Briefe zu überraschen. Marie teilte diese Meinung. Nach einer kurzen halben Stunde kam Lodoiska zurück. Die Gräfin trat ihr mit dem Briefe entgegen, hielt ihn halb scherzend, denn sie war in sehr froher Stimmung, daß ihr nun auch die letzten Bekümmernisse vom Herzen genommen waren, in die Höhe und rief: »Was gibst du mir für diesen Brief, Lodoiska?«
»Von Jaromir?« rief sie mit vor Freude glänzenden Augen; dabei zog sie verlangend die emporgehobene Hand der Gräfin mit der Linken herab und schmeichelte ihr mit der Rechten. Ein herzlicher Kuß war der Lohn, den das glückliche Mädchen für den Schatz gab. Dann öffnete sie hastig, mit Wangen, die hoch von Freude und Erwartung gerötet waren, den Brief und hielt ihn gegen das Licht, um ihn zu lesen. Aber als sei sie plötzlich an den Rand eines entsetzlichen Abgrundes geraten, schauerte sie zusammen, wurde blaß wie der Tod, ließ die Hände kraftlos herabsinken und das Papier fallen. Ein Schrei, den sie ausstoßen wollte, erstickte in der beklemmten Brust; ihre Stimme wankte, und noch ehe die Gräfin und Marie ihr zu Hilfe eilen konnten, sank sie bewußtlos zu Boden.
»Um des Himmels willen, was fehlt dir?« rief die Gräfin und suchte mit Mariens Hilfe, die angstvoll herbeigeeilt war, die Niedergesunkene emporzurichten; nur mühsam gelang es, sie auf das Sofa zu bringen. Die Gräfin schellte nach Hilfe. Marie nahm den entfallenen Brief vom Boden auf und sah, indem sie einen flüchtigen Blick daraufwarf, daß er nur eine Zeile enthielt. Sie wagte ihn nicht zu lesen; doch die Gräfin nahm denselben ohne Bedenken und las ihn. Er enthielt nichts als die Worte: »Heuchelnde! Treulose! Wir sind auf ewig geschieden! Jaromir.«
Beide Frauen waren sprachlos, erstarrt vor Erstaunen. »Der Schlag mußte die Arme freilich zu Boden schmettern«, sprach die Gräfin mit dem Tone innerster Empörung. »Darauf konnte sie nicht gefaßt sein! Es ist unwürdig, abscheulich, ein Frevel ohne Maß und Gleichen!« In heftiger Bewegung ging sie auf und ab im Zimmer; Marie las zu ihrer eigenen Überzeugung das unheilvolle Blatt noch einmal und legte es dann mit zitternden Händen, wie entsetzt vor dem kalten Eishauch, mit dem diese Zeilen erstarrend in die warme Brust der Liebe eindrangen, zurück. »O, du Unglückselige,« sprach sie, indem sie sich über das Haupt der Ohnmächtigen beugte, »wie sollen wir dir den Schmerz dieser Kunde lindern!«
Lodoiskas Mädchen war eingetreten. Sie erschrak über den Anblick ihrer Gebieterin. »Die Gräfin ist plötzlich unwohl geworden; sie muß zu Bett gebracht werden. Kasimir soll zum Arzt eilen. Bestelle dies und komm eilig zurück.« Auf diese mit mühsamer Fassung und Kälte gesprochenen Worte der Gräfin verließ das Mädchen den Salon wieder. Marie hatte indessen Lodoiskas Schläfe mit kaltem Wasser genetzt, um sie zur Besinnung zurückzubringen. Die Gräfin ging noch immer heftig auf und nieder. »Darin erkenne ich die Männer! Ihre eigene Schlechtigkeit öffnet ihr Herz jedem unwürdigen Argwohn! Wer hätte ahnen sollen, daß auf dieser reinen Seele der schwärzeste Verdacht ruhen könnte! Dies Herz, das sich in der Glut seiner Liebe verzehrte, wird der Treulosigkeit angeklagt! Abscheulich! Unerhört! Grenzenlos abscheulich! Und welche Beweise kann der leichtsinnige Frevler, der mit roher Ferse die Blüten seines eigenen, unnennbaren Glücks in den Boden stampft, für seine namenlos schwere Anklage haben? Ein Gerücht, einen verleumderischen Brief, die boshafte Erzählung irgendeines ehrlosen oder bis zum Verbrechen leichtsinnigen Kameraden!«
Sie trat vor Lodoiska hin, deren Brust sich unter den leisen Atemzügen – Marie hatte ihr das Kleid geöffnet – kaum zu regen schien. »Wie dieser reine Engel schlummert! Selbst das entsetzliche Gespenst des Schreckens, das sie so plötzlich niederwarf, hat ihre holdseligen Züge nicht entstellt. Ein Blick auf ihr Bildnis hätte den Beweis ihrer Schuldlosigkeit gegen tausend Zeugen geführt! Hast du sie gemordet, hast du dies zarte Leben zerknickt mit dem Streich, den deine wilde Hand blind geleitet darauf führte, so möge dich ihr Bild als ein Gespenst des Schreckens verfolgen!«
»Nein, nein, sie lebt, sie atmet, sie wird erwachen, wir werden sie trösten, beruhigen!« entgegnete Marie mit von Tränen erstickter Stimme. »Alles wird sich lösen; auch dieses entsetzenvolle Mißverständnis.«
»Hier kann kein verworrenes Gewebe mehr gelöst werden! Der Knoten ist mit ehernem Schwert durchhauen, alle zartesten Fäden, die zwei junge Herzen verknüpften, sind zerrissen! Wo ein so finsterer Geist des Argwohns in das Heiligtum der Liebe, des Vertrauens einbrach, da vertilgen sich seine Spuren nie. Überzeugt kann Jaromir werden, daß Lodoiska kein Sonnenstäubchen der Untreue, der Falschheit in ihrem reinen Busen trug; überzeugt wie von dem Glanz der Gestirne am ewigen, klaren Himmel! Doch der schöne, heilige, unverbrüchliche Glaube beider aneinander ist vernichtet, ist gemordet. Eine geschehene Tat, ein gesprochenes Wort, sie sind unwiderruflich, unwiederbringlich, wie die entflohenen Minuten. Was du auch tust, um Versäumtes nachzuholen, um eine Schuld zu versöhnen: es ist nur ein hohler Trug und Schein; die Versäumnis, das Verbrechen sind begangen, sie bleiben unabänderlich, und t keines Gottes Macht vermag die ewigen Schriftzüge in dem Buche des Vollbrachten zu löschen!«
Das Mädchen trat wieder ein; Lodoiska wurde in ihr Gemach, zu Bett gebracht. Marie setzte sich zu ihr und lauschte auf den wiederkehrenden Atem, auf das Aufschlagen ihres Auges. Die Gräfin stand in ernster, tiefer Trauer schweigend am Fuße ihres Lagers und heftete die dunkeln Blicke unverwandt auf die Leblose. Endlich öffnete sie das holde Auge wieder, blickte schmerzlich auf, reichte dann den lieben Pflegerinnen die Hände dar und sprach leise, aber aus tiefster Brust: »O, ich bin grenzenlos elend!«