Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Viertes Kapitel.

Als Benno diese Erzählung beendet, waren alle Gemüter in einer gewissen ängstlichen Spannung, und tiefes Schweigen herrschte umher. Er hatte so lebendig dargestellt und seine Hörer so vollständig von der Nähe des Schauplatzes, auf dem sich diese Begebenheiten zugetragen haben sollten, überzeugt, daß man die Landschaft umher mit der Empfindung betrachtete wie irgendeine geschichtlich denkwürdige Stätte, wo man gewissermaßen noch die Fußtapfen der dort vorübergegangenen großen Ereignisse auf heiligem Boden zu entdecken glaubt und sie mit Ehrfurcht und Rührung betrachtet.

»Befindet sich wirklich hier in der Nähe ein solcher See?« Mit dieser Frage unterbrach die Gräfin zuerst die allgemeine Stille. – »Er ist wenig bekannt,« versetzte Benno, »und, aufrichtig gestanden, auch eben nicht besuchenswert, falls es nicht der Sage halber wäre. Allein wie es bisweilen geht, so haben unsere Voreltern, trotz ihrer romantischen Anlage zu Poesie, in Beziehung auf die Landschaften, an die sie ihre Sagen knüpfen, nicht so viel Sinn für Naturschönheit entwickelt, als man so dichterischen Gemütern zutrauen sollte.«

»Mir scheint diese Anklage doch nicht ganz gerecht,« wandte Marie ein; »denn erstlich finden wir wohl viele Spuren, daß unsere Väter das Schöne, Schauerliche und Erhabene in der Natur sehr bestimmt gefühlt haben, wie dies ja schon die Namen ausgezeichneter Berge, Felsen und Schluchten beweisen; zweitens aber war die Sage doch gewiß nichts rein Willkürliches, und wenn sie sich auch zum Teil aus der Örtlichkeit selbst erzeugte, so bedurfte sie doch auch gewiß einer Begebenheit, einer Handlung, so daß man sie gewissermaßen als eine geheimnisvolle Tochter der Tat und des Orts betrachten kann. Und wie häufig findet sich's, daß auch der Schauplatz der Begebenheiten ungemein tief mit diesen selbst in Verbindung steht.«

»Sie haben gewiß recht,« erwiderte Benno ein wenig errötend; »indessen kommen auch manche, Beispiele vor, wo sich die schönsten Märchen an eine wenig hervortretende Örtlichkeit knüpfen, und eines davon ist meine Erzählung. Doch gestehe ich gern, daß meine allgemeine Schlußfolge aus diesen Beispielen etwas zu rasch war.«

»Dem sei wie ihm wolle,« sprach die Gräfin, »Ihre Erzählung hat uns eine angenehme Stunde bereitet. Ich als Monarchin habe die Verpflichtung, den Dichter meines Minnehofes zu belohnen, und ich denke, es soll in wahrhaft fürstlicher Weise geschehen. Die Erzählung ist auf dem reinen Boden der Natur gewachsen; mit ihren reinen ursprünglichen Gaben soll sie auch belohnt werden. Sie empfiehlt auf eine eindringliche Weise die Treue als die wahrhafte Seele der Liebe und nimmt sich somit insbesondere unsers Geschlechts an, welches von der Treulosigkeit der Männer so viel zu dulden hat. Es ist daher billig, daß eine weibliche Hand dem sinnvollen Dichter, für den uns der Erzähler gelten muß, belohne. Ich befehle also allen Jungfrauen unsers Hofes, sich aufzumachen, um die schönsten Feldblumen zu suchen. Bei der Rückkehr unserer schönen Edelfräulen werde ich selbst drei von ihnen auswählen, um einen Kranz aus den Blumen zu flechten, und hierauf soll das Los entscheiden, welche dieser drei den Dichter bekrönen und, solange unser Reich dauert, seine Gefährtin sein wird.«

Ein allgemeiner Beifall erhob sich, als die Monarchin diesen Beschluß bekannt machte. Die Männer klatschten freudig in die Hände und priesen die Fürstin hoch, welche einen Liebeshof so trefflich zu regieren wußte. Erlhofen ergriff mit komischem Pathos einen Zweig als Zepter, erhob ihn mit feierlicher Gebärde und rief: »Ihr, meine Völker! Vernehmt! Ich erteile hiermit dem Ausspruch unserer königlichen Gemahlin meine allerhöchste Sanktion. Gehet also hin, ihr Jungfrauen, und kehrt nicht eher wieder, bis ihr das Gebiet unsers Reichs seiner schönsten Blumen beraubt habt.«

Auf diese Rede erhoben sich die Mädchen und zogen mit ihren flatternden, schimmernden Gewändern in den grünen Wald hinein, um an sonnigen Stellen die Blumenlese zu beginnen. Viele der Männer hatten große Lust, die Frauen zu begleiten, doch die Monarchin verbot es streng, denn auf diesem Zuge sollten die Jungfrauen unbegleitet bleiben. Man hatte also nur von ferne den Anblick, die anmutigen Gestalten auf dem Rasen hin und wieder schweben, in den Gebüschen bald verschwinden, bald wieder erscheinen, sie sich bücken, die gepflückten Blumen in den Körbchen sammeln, bei einer gleichzeitig entdeckten schönen Blüte wetteifernd darauf zueilen, kurz alle jene anmutigen Bewegungen und Tätigkeiten ausüben zu sehen, die der weiblichen Jugend so wohl stehen. – »Sieht der Wald nicht aus, als wäre er von Nymphen bevölkert?« fragte die Gräfin lächelnd, indem sie auf die blumenpflückenden Mädchen hindeutete. – »Es sind die lieblichsten Oreaden, Dryaden, Hamadryaden, Sylphiden, Elfen und Waldschwestern, die ich jemals gesehen«, rief Erlhofen aus. Man sprach scherzhaft noch manches hin und her über das glückliche Los des Dichters, über den Eifer der Frauen, ihn zu belohnen, über das zweifelhafte Glück, seine Gefährtin zu werden; indessen hatten die jungen Mädchen ihre Körbchen bald gefüllt und kehrten zur Gesellschaft zurück. Sie schütteten ihren Vorrat auf den Rasen und die Königin betrachtete ihn mit prüfendem Wohlgefallen. »Sehr schön,« sprach sie; »jetzt werde ich meine Kranzwinderinnen ernennen,« Ihre Wahl fiel auf Marie, Lodoiska und Luise, die sehr artige Tochter eines wohlhabenden Mannes aus Teplitz, die von den Brunnengästen, welche in ihrem Hause wohnten, zu der Spazierfahrt eingeladen war. Die Mädchen setzten sich sogleich auf den Rasen und begannen den Kranz zu winden, der sich unter ihren zierlichen Händen schnell füllte und rundete. Als er vollendet war, wählte die Gräfin drei Blumen aus, eine wilde Rose, eine Zyane und ein Veilchen, das sich als ein Spätling noch an einer schattigen Stelle vorgefunden hatte. Dem Dichter wurden jetzt die Augen verbunden, die Gräfin gab jedem der jungen Mädchen eine der drei Blumen und gebot nun Benno, zu wählen. Dieser nannte die Rose, und Lodoiska wurde seine Gefährtin. Ihr war es bestimmt, den vollen, frischduftenden Kranz auf Bennos blondlockiges Haupt zu setzen. Sie nahm ihn weiblich schüchtern und leicht errötend, Benno beugte ein Knie vor seiner schönen Gebieterin und empfing mit klopfendem Herzen den Lohn für seine dichterische Gabe. »Möge dieser Kranz Sie so erfreuen,« sprach Lodoiska, »wie Ihre schöne Erzählung unser Herz bewegt hat.« Bei diesen Worten wich das holde Erröten wieder von ihrer Wange, und es blieb, nur jener leichte Anhauch zurück, der ihren schönen Zügen einen so ungemein fesselnden Reiz verlieh. Benno stand auf, ergriff ihre Hand, küßte sie mit Lebhaftigkeit und erwiderte mit den leicht geänderten Worten des Dichters:

»O, daß mein Lohn nicht eure Strafe werde!«

Er reichte ihr jetzt den Arm und begleitete sie zu ihrem Rasensitz, wo er sich an ihrer Seite niederließ. Indessen war die Sonne dem Meridian schon näher gerückt, und nur die hohen Wölbungen der Zweige erhielten es angenehm kühl. Doch war es Zeit, in das Städtchen zurückzukehren, wenn man das Mittagsmahl nicht warten lassen wollte. Erlhofen als König erklärte dies für die wichtigste Angelegenheit des Reichs und schwur jedem die fürchterlichsten Strafen zu, der hierin Ungehorsam oder Verrat üben würde. Gehorsam nahm daher die Gräfin seinen Arm an, und der Zug setzte sich paarweise, wie er gekommen war, wieder in Bewegung und nahm seine Richtung hinabwärts.

Das Mahl war bereit; in gemischter Reihe setzte man sich um die lange Tafel, um es einzunehmen. Erlhofen mit der Gräfin präsidierten natürlich, und der Monarch ließ es nicht an mannigfaltigen Reden fehlen, zu denen die Tafel ihm hinlängliche Gelegenheit gab. Auch brachte er selbst viele Trinksprüche aus, welche allgemeines Ergötzen erregten. Dazu kam, daß der Wein, so sparsam er auch die weiblichen Lippen benetzte, die Frauen dennoch unvermerkt mit seiner Macht überschlich und sie zu jener freiern Lebhaftigkeit und Keckheit anregte, die, wenn ein gebildeter sittlicher Sinn sie stets in den Schranken des Schönen erhält, ihnen so ungemein reizend steht. Sie verlieren dann unwillkürlich nur das Zuviel der Sorgsamkeit und Selbstbeherrschung, gewinnen jenes offene Vertrauen, das ihnen den Mut einflößt, auch einmal ihr ganzes fröhliches Herz zu zeigen; und, wie sie selbst so völlig ohne Arg sind, werden sie fester und fester in dem Glauben, keine Brust auf der weiten Erde sinne und beherberge etwas Unlauteres. Dann tritt die schöne weibliche Natur in ihrer heitern Entfesselung von den Banden vor uns, die doch nur die tief in unsere Sitten und Gesinnungen eingedrungene Verderbnis den Frauen aufgelegt hat, und welchen sie sich freilich für die Dauer des Lebens fügen müssen. Der ängstlich hemmende Faden, an dem sie kaum zu flattern wagten, zerreißt, und sie gaukeln einmal fröhlich, von den Lüften und Wellen der Freude getragen, von freiern Flügeln gewiegt, in dem erweiterten Gebiet umher und wagen sich zu bisher nicht gekannten Höhen und Räumen. Die Sitte und die Tugend herrschen alsdann nur als freie schöne Gewohnheiten des Lebens und der Seele, nicht mehr als fremde strenge Gebieterinnen über sie.

Mit der höhern Röte der Wange färbt sich auch die Lust schimmernder und lockender; frische Lüfte regen die unmerklich fließenden Wellen der Seele zu höherm Wallen auf, und rascher eilt der Strom zwischen den reizenden Ufern dahin. Die Wärme im Saale, obwohl durch offene Fenster, die ein kühles Fächeln der Lüfte erzeugten, und durch den Duft der Kränze und Blumen gemildert, wurde doch nach einiger Zeit drückend, und bald hielt es zumal die Jugend nicht mehr länger aus, an den bestimmten Platz gefesselt zu sein, so angenehm er durch die Nachbarschaft wurde. Mit allgemeiner Freude nahm man daher die Nachricht auf, welche Heilborn und Arnheim als Festordner und Minister brachten, daß zwei Gondeln auf der Elbe in Bereitschaft lägen, um die Gesellschaft nach dem Schreckenstein zu führen, wo man den Nachmittag zubringen wollte. Erlhofen hätte zwar noch gern eine Zeitlang bei Tafel gesessen, zumal da der ansehnliche Vorrat von Champagner noch lange nicht erschöpft war, doch die Jugend ließ sich nicht länger fesseln und selbst seine königliche Autorität vermochte nichts über sie. So brach man denn fröhlich auf, die Paare blieben geordnet wie zuvor, und der Zug trat seinen Weg nach dem Ufer des Flusses an.

Die mit lustig flatternden Wimpeln und Kränzen geschmückten Gondeln gewährten einen so heitern Anblick, daß man dadurch schon mit der besten Hoffnung für die schöne Fahrt erfüllt wurde. Eine angenehme Musik von Blasinstrumenten – es waren böhmische Bergleute – ließ sich von einem eigens für dieselben eingerichteten Nachen vernehmen. Die festlich gekleideten Schiffer, deren Hüte mit Bändern und Sträußen prangten, begrüßten die Gesellschaft mit einem fröhlichen Lebehoch. Die Stegbretter wurden ausgelegt, die Damen hüpften mit Grazie hinüber, die Paare nahmen, wie sie einander folgten, auf den Bänken Platz; bald waren die Gondeln gefüllt, die Musik stimmte einen lauten Tusch an, unter Jubelruf der Schiffer und der versammelten Zuschauer stieß man vom Lande, und vom muntern Ruderschlage bewegt, schwammen die Nachen lustig auf dem Strome dahin. Jetzt erst, da man die Mitte desselben erreicht hatte, konnte man recht tief in das prachtvolle Waldtal hinunterblicken, aus dem die Elbe hervorbraust. Hinterwärts stieg das Städtchen freundlich am grünen Ufer empor und spiegelte sich hell in den Wellen ab; vorwärts nur dunkle Waldhöhen, die sich schroff gegen den Strom hinabsenkten und ihr düsteres Bild in seine Tiefe warfen. Zur Linken wurde der Blick durch den schwarzen Felsen des Schreckensteins begrenzt, der, in schräger Richtung aus dem Gebirge hervorragend, den Gipfel weit über die Wellen streckt und seine Mauerkrone von verfallenen Türmen drohend über den Abgrund hinaushängt. Ein frischer Wind, der das Tal hinaufwehte, machte die Ruder unnötig; man konnte die Segel aufspannen und sich von ihnen gegen den rauschenden Strom hinaufziehen lassen. Pfeilgeschwind zogen die Ufer an den Schiffenden vorbei und zeigten eine Reihe reizend wechselnder Bilder. Bald fuhr man unter einem hohen Bergkegel, der den breiten Schatten quer über den Strom warf, dahin, bald tanzten die Gondeln auf den silbernen, im Sonnenscheine blitzenden Wellen, während das Ufer in grüner dämmernder Nacht des Waldes und der Beschattung ruhte und sich heiter in der Flut abspiegelte. Jetzt verengte sich das Bett des Stromes, und er schoß brausend zwischen und über Felsen dahin, jetzt erweiterte er sich zum ruhigen See, in dessen Tiefe die Wolken still vorüberzogen. Nach einer Stunde hatte man das Ziel, den Schreckenstein und seine Felsenburg, erreicht.

»Ich hätte mir den Fels doch höher vorgestellt,« sprach Lodoiska zu Benno, indem sie, am Ufer stehend, die Blicke nach den Turmspitzen hinaufwarf; »von weitem erschien er mir weit majestätischer. Er ist der erste schroffe Fels, den ich in meinem Leben sehe, denn bei uns in Polen ist das Land nur eben und von Wald oder Brüchen durchschnitten.«

»Lassen Sie uns nur erst den Gipfel besteigen,« erwiderte Benno, »alsdann werden Sie es wohl bald empfinden, daß der Fels nicht unbedeutend ist. Jetzt verschwindet er freilich gegen die viel höher hinter ihm aufsteigenden Waldgebirge.«

Lodoiska heftete noch immer die sinnenden Blicke auf den verwegen überhangenden Gipfel. »Gebirgsländer sind doch sehr schön!« sprach sie nach einer kleinen Pause. »Polen hat auch Gebirge, aber nur im südlichen Teile, wo sich einige Zweige der Karpathen erheben. Ich bin niemals dort gewesen.«

Ein Teil der Gesellschaft hatte, während beide sprachen, schon den Weg, die Felsenhöhe hinauf, angetreten; Benno reichte daher seiner schönen Kranzwinderin den Arm und führte sie gleichfalls den steilen Pfad hinan. Als sie die Höhe bald erreicht hatten, wollte sich Lodoiska umwenden, um des Rückblickes zu genießen, doch Benno bat sie, es zu lassen. »Gönnen Sie mir die Freude, Sie oben auf dem schönsten Punkte mit dem Überblicke des Ganzen zu überraschen. Ich würde Sie bitten, die Augen ganz zu schließen, wenn der Weg nicht von der Art wäre, daß selbst der aufmerksamste Führer nicht vor kleinen Unfällen schützen kann. Der Boden ist zu rauh, es liegen hier viele Steine im Wege, die Richtung ändert sich oft zu schnell, um mit geschlossenen Augen festen Fuß zu fassen. Aber heften Sie nur die Blicke gerade auf den Pfad vor sich, und gewinnen Sie es über sich, weder rechts noch links zu blicken, so werden Sie einen reichen Lohn für diese Enthaltsamkeit empfangen.«

Lodoiska versprach es gutmütig und ließ sich nun ganz durch Benno, der sie bei der Hand ergriffen hatte, leiten. Die übrigen Mitglieder der Gesellschaft neckten sie mit ihrem Gehorsam, doch ließ sie sich nicht irre machen, sondern lächelte still vor sich hin und sprach: »Ich traue meinem Führer, denn er kennt diese Gebirge genau und weiß ihre Schönheiten zu empfinden.« Vergeblich suchten einige junge Leute mutwillig ihre Neugier rege zu machen, und rühmten bald diesen Blick in die Tiefe, bald jene Aussicht das Tal herunter; sie blieb standhaft. Nach kurzer Wanderung stand sie auf dem Gipfel, und Benno führte sie nun durch das Gemäuer hindurch in einen Eckturm, wo man einige halb verfallene Stufen hinanzusteigen hatte, sich aber alsdann in einem kleinen Raume mit weit ausgebrochenen Fensterhöhlen befand, der so auf der äußersten Grenze des Felsens liegt, daß man gar keinen Boden unter sich gewahr wird, sondern frei über dem Elbspiegel zu schweben scheint. Bevor sie hier eintrat, hatte Lodoiska das Auge auf Bennos Rat ganz geschlossen und ließ sich nun von diesem an das Hauptfenster stellen, von dem sie zugleich den schauerlichsten Blick in die Tiefe und den reizendsten in die Ferne, das Tal hinab, hatte. »Jetzt,« sprach Benno, »jetzt öffnen Sie die Augen! Nun ist es Zeit, sich umzuschauen.«

»Heiliger Gott!« rief Lodoiska und trat erschreckend einen Schritt zurück, als sie in den schwindelnden Abgrund vor sich blickte. Doch einen Augenblick darauf hatte sie sich schnell gefaßt, und obwohl sie noch ein wenig zitterte, trat sie doch, aber ohne Bennos Hand loszulassen, wieder dicht an die niedrige Fensterbrüstung und beugte sich hinab. »Welch schauerliche Wonne!« sprach sie beklemmt. »Wie paaren sich hier Reiz und Schrecken so mächtig miteinander!« – »Nun,« fragte Benno, »ist der Fels hoch? Verdient er seinen Namen Schreckenstein?« – »Gewiß, gewiß! O es ist überaus herrlich hier!« rief Lodoiska, deren Bangen jetzt nach und nach in ein Staunen überging. »Wie klein unsere Gondeln dort in der Uferbucht erscheinen! Schon das Gärtchen des Türmers hier dicht unter uns liegt tief, und von dort senkt sich doch erst der Fels hinunter. Sehen Sie nur, wie die Schwalben fast so tief unter uns schweben als sonst über uns!« – »Die Raubvögel aber bleiben noch immer hoch über unserm Haupte«, bemerkte Benno, und deutete auf einen Habicht, der eben quer über das Tal hinschwebte und sich auf breiten Fittichen wiegte.

Lodoiska hob das Auge aufwärts. Eben stand der Raubvogel fast unbeweglich und ließ sich nur von den breit ausgedehnten Schwingen tragen. Plötzlich schoß er pfeilgeschwind auf einen Flug Bergtauben herab, der tief unter ihm gesellig kreiste. Die verscheuchten Tiere flatterten hastig nach allen Seiten auseinander; eine jagte der Stößer vor sich her und verfolgte sie mit mächtig geschwungenen Fittichen. Sie nahm ihren Flug nach dem Turme zu, doch fast in dem Augenblick, wo sie die sichere Zuflucht erreichte, war auch der Feind ihr nachgekommen und packte das ängstlich flatternde Tierchen mit seinen grimmigen Fängen dicht vor Lodoiskas Augen. Sie sah einige durch den krallenden Griff ausgerupfte Federn fliegen und hörte das angstvolle Kreischen des Täubchens. Der Habicht strich im Schuß des Fluges so nahe an den Turm, daß er mit den breiten grauen Flügeln gegen das Gestein schlug, dann aber scheu vor den Menschen, jedoch ohne den Raub fahren zu lassen, sich wieder hoch in die Lüfte schwang.

Die Frauen – denn auch Marie, die Gräfin und einige andere Damen der Gesellschaft waren nach und nach in den Turm getreten – hatten mit ängstlicher Teilnahme dem Schauspiel zugesehen. Das Mitleid mit dem gequälten Tierchen, dem niemand helfen konnte, und selbst der Schrecken vor dem wilden, heiser kreischenden Raubvogel, hatte alle mehr oder weniger ergriffen. Lodoiska aber sah bleich aus wie der Tod und zitterte heftig. Sie war noch zu aufgeregt von dem schauerlichen Gefühl, das der schwindelnd hohe Standpunkt, auf dem sie sich so plötzlich erblickt hatte, in ihr hervorbrachte, um nicht durch eine neue ähnliche Empfindung heftig erschüttert zu werden. Das Gesicht abwendend, trat sie zurück, und als ihr Auge auf die Gräfin traft warf sie sich mit einer Art von Zucken an die Brust derselben und rief einige Worte in polnischer Sprache. Ihre mütterliche Freundin antwortete ebenso, aber mit sanftem, tröstendem Ausdruck. Dann wendete sie sich zu den Umstehenden und sprach, um gewissermaßen den Gebrauch der fremden Sprache zu entschuldigen: »Sie hat etwas Ähnliches geträumt, darum ergriff der Vorfall sie so heftig:« – »Ja es war ein Traum, ein recht böser Traum,« setzte Lodoiska mit einem mühsamen Lächeln hinzu; »aber ich will nicht weiter daran denken«, sprach sie gefaßter und trat wieder zu den übrigen.


 << zurück weiter >>