Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Drittes Kapitel.

Paul war nach Hause gekommen; seine Erzählungen von dem Zustande der Stadt, um den Bernhard ihn heimlich befragte, konnten wenig Trost erwecken. Überdies brach die Nacht an; man mußte mit der Sonne des nächsten Tages die Wiederkehr der Hoffnung erwarten.

Die Frauen befanden sich bei Bianka im Gemach, der Ludwig sie jetzt zugeführt hatte. Welche glückselige Stunden der Liebe, der Freundschaft, des heiligsten Dankgefühls hätten sie jetzt feiern können, wenn nicht dieser jüngste Schmerz um die Vermißten alle Herzen so tief zerrissen hätte! Um den Besorgten wenigstens einigen Trost zu schaffen, und damit sie die Nacht nicht in zu banger Spannung durchwachen möchten, beredete Bernhard den wohlwollenden Paul, den Zustand der Stadt günstiger zu schildern, und führte ihn deshalb hinauf in Biankas Zimmer. Dort berichtete Paul der Gräfin, daß nur die erste Verwirrung so schreckenvoll gewesen sei, daß sich jetzt schon alles zu ordnen beginne, die Leute in den Häusern der Bürger wohl aufgenommen der Ruhe pflegten und morgen neu gestärkt erwachen würden. Heute sei das Wiederfinden eines Verlorenen schon um dessentwillen unmöglich, weil jeder, der ein Obdach erreicht habe, sich dort der tiefsten Ruhe, die von allen Bedürfnissen das dringendste sei, überlasse. Die Gräfin hörte diese Mitteilungen schweigend an; sie ergab sich in ihr Geschick, doch drang kein belebender Hoffnungsstrahl in ihre Brust.

Die unabweisbaren Rechte der irdischen Natur hatten sich an den Übermüdeten geltend gemacht. Bernhard, Ludwig und Bianka lagen in festem Schlaf; doch die Gräfin und Lodoiska wachten in bangem Schmerz. Marie teilte ihre Sorgen, und nicht allein aus innigster Teilnahme der Freundschaft, sondern auch weil ihr Herz, wie mächtig sie es bekämpft hatte, in stummer, heiliger Wehmut noch immer für Rasinski schlug. Paul und Axinia blieben teilnehmend wach, wiewohl sie sich bescheiden von ihren Gästen zurückzogen. In den Straßen der Stadt war es völlig still geworden; auch nicht ein leiser Laut ließ sich vernehmen. »Horch!« sprach Paul plötzlich auffahrend zu Axinien, »war das nicht, als ob jemand ächze und wimmere? Wahrhaftig, schon wieder.« Er öffnete ein Fenster und lehnte sich lauschend hinaus. »Es kommt von dort drüben aus der schmalen Gasse her, wo die Juden wohnen! – Mir ist auch, als ob ich ihre murmelnden Stimmen hörte.« Beide horchten ängstlich beobachtend auf. Nach einigen Augenblicken hörte man den dumpfen Schall eines schwer fallenden Körpers und zugleich einen kreischenden Laut des Jammers, der durch die stille Nacht herüberdrang. »Was ist das?« rief Paul. »Was geht dort vor? Hörst du, wie es jammert und winselt? Sollten diese grimmigen Teufel –«

Eine männliche Stimme rief, laut wehklagend, um Hilfe. Axinia rang geängstet die Hände. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen, und die Gräfin trat, ein Licht in der Hand, ein. »Was bedeuten jene fürchterlichen Töne?« fragte sie ahnungsvoll grausend. »Sie dringen schauerlich durch die Nacht; es klingt wie der Jammerlaut hilflos Sterbender. O geht, Freund seht zu, was es gibt!« Paul warf seinen Pelz über und griff nach einer Laterne. Doch Axinia hielt ihn ängstlich an und bat: »O geh' nicht allein! Wer weiß, welche Greuel sich dort begeben und ob die Wütenden nicht wieder einen ums Leben bringen! Geh' nicht allein.« – »Ich muß!« rief Paul; »die Menschlichkeit gebietet es.« – »So wecke ich wenigstens die Herren, daß sie dich begleiten«, entgegnete Axinia. – »O laß den Entkräfteten doch ihren Schlummer; und wir kämen vielleicht zu spät!« – »Nein, nein, sie sind ja angekleidet und liegen in ihren Pelzen,« erwiderte Axinia rasch und eilte in das Nebengemach, wo Bernhard und Ludwig, da es an Betten im Hause mangelte, angekleidet auf dem Strohlager fest schliefen. Die kriegerische Gewohnheit war noch so lebendig in ihnen, daß sie auf den ersten Ruf emporsprangen und sogleich ermuntert waren. »Wir begleiten euch«, rief Bernhard auf das erste Wort Pauls, und bereits hatte auch Ludwig die Pistolen ergriffen und den Hirschfänger umgeschnallt.

Paul ging mit der Laterne voran, der Gegend, aus der der Jammerruf ertönte, zu. Es war eine enge Seitengasse, die, längs der Stadtmauer hinziehend, nur von Juden bewohnt wurde. Eben wollten sie in diese einbiegen, als eine feste Männerstimme sie von hinten her anrief: »Wer da, wer seid ihr, was gibt's hier?«– »Rasinski!« rief Ludwig beim ersten Laut, und als der Laternenschein des sich rasch umwendenden Paul auf das Antlitz des Kommenden fiel, erkannte auch sein Auge den Freund. – »Rasinski! du hier und am Leben!« rief er außer sich und lag in seiner Umarmung.

»Ich habe euch wieder, euch, die ich verloren gab! Und ihr lebt! Bianka lebt?« – »Wir alle, alle«, rief Bernhard und drängte sich zu, der Umarmung. »Wir suchten dich auf, aber vergeblich!« – »Ich euch gleichfalls!« erwiderte Rasinski. Sie würden sich im Drange des Herzens ihre gegenseitigen Schicksale erzählt haben, wenn nicht eben wieder der jammernde Hilferuf aus der Gasse ertönt wäre. Rasinski entwand sich dabei sogleich den Armen Bernhards. »Diese Töne,« rief er, »haben mich aus dem Schlafe aufgejagt. Laßt uns jetzt zuerst der Hilfsbedürftigen gedenken.«

Paul mit der Laterne schritt voran, die übrigen folgten. Die Gasse war eng und gekrümmt, so daß man nicht weit vorwärts blicken und daher auch nicht so bald gesehen werden konnte. Als man die erste Biegung erreichte, und der Lichtschimmer den vorgelegenen Raum erhellte, sah man deutlich einige Gestalten, die aufgeschreckt zu flüchten schienen, an die Mauer gedrückt hineilen. »Wer da?« rief Rasinski russisch. »Steht oder ich schieße!« Aber die Schatten flogen an der Mauer hin und glitten über den Schnee hinweg. Rasinski sprang hastig nach; doch er stolperte über einen im Wege liegenden Gegenstand, fiel, und im Fallen ging seine Pistole los. Ludwig und Bernhard waren ihm rasch gefolgt und wollten ihm emporhelfen, doch er rief ihnen zu: »Vorwärts, vorwärts, verfolgt nur die Flüchtenden.«

Sie eilten nach, sahen aber nur noch eine einzelne Gestalt hastig flüchten; sie riefen ihr zu zu stehen, doch vergeblich. Ein Schuß, den Bernhard tat, ging fehl, doch da der Fliehende sich unwillkürlich, oder weil er die Kugel pfeifen hörte, bückte, glitt er aus und fiel zu Boden. Ludwig packte ihn zuerst. »He! Wer seid ihr?« rief er den Verdächtigen an, der eine Art von langem, schwarzem Kaftan trug, »weshalb flüchtet ihr?« – »Gott meiner Väter!« bat der Fremde mit kläglichem Ton. »Habt Erbarmen, gnädiger Herr! Was verfolgt ihr einen armen Juden, da er dem Greuel entflieht?« – »Leuchtet her, Paul,« gebot Bernhard, der jetzt ebenfalls herbeigekommen war; »wir müssen zuvor sehen, was das für ein Geschöpf ist, das hier so angstvoll um Erbarmen jammert. Er scheint nicht das beste Gewissen zu haben.«

Paul hob die Laterne empor, daß der helle Schein derselben auf das Gesicht des Juden fiel. »Teufel! diese Larve sollte ich kennen!« rief Bernhard erstaunt. »Wo habe ich denn dies vermaledeite Gesicht schon gesehen? Freilich die litauischen Rotbärte sehen alle einander ähnlich! Aber ich glaube doch, Jude, du bist der Spion, mit dem wir noch eine Rechnung abzumachen haben, die seit fünf Monden läuft.« Rasinskis Ruf unterbrach diese Worte. »Kommt hierher, Freunde,« gebot er, »hier gilt es, noch Hilfe zu bringen.« Sie wendeten alle drei um und zogen den Juden trotz seines Sträubens und Jammerns mit sich fort.

»Seht hier das schauderhafteste Verbrechen, das die Menschheit erlebte«, sprach Rasinski bebend vor Zorn und Grausen, als sie näher traten. »Leuchtet hierher! – Seht unsere Kameraden halb nackt herausgetrieben in diese Kälte, geplündert, erwürgt, aus den Fenstern gestürzt! – Ungeheuer,« rief er mit furchtbarer Stimme den zitternden Juden an, »wenn du Schuld hieran trägst, so lasse ich dich lebendig von Hunden zerreißen! Seht hier – hier liegen sie. Es ist namenlos entsetzlich!«

In einem Winkel, wo ein Haus ein wenig hinter der Reihe der übrigen stand, sah man acht Leichname, halb nackt, nur mit einem Hemd und etlichen zerlumpten Kleidern bedeckt, am Boden liegen. Auf einen dieser Unglücklichen, der noch am Leben war, hatte Rasinski seinen Pelz geworfen, um ihn gegen die schneidende Kälte zu schützen.

Alle schauderten bei diesem Anblick, an dem sie zuvor in der Eile der Verfolgung vorübergestürzt waren. »Gott Abrahams, ich hebe meine Rechte zu dir auf, ich bin unschuldig an dieser Tat!« rief der Jude. »Verflucht will ich sein mit Kindern und Kindeskindern, wenn ich Anteil daran habe! Sollen mir doch die Raben lebendig die Augen aushacken, soll mein Fleisch verdorren an meiner Hand, wenn mein Eid falsch ist!« – »Er war unter den Mördern,« stöhnte der Verwundete am Boden matt; »er wollte mir die Kehle abschneiden, da der Sturz aus dem Fenster mich nicht getötet hatte und ich um Hilfe rief. Nur euere Ankunft wurde meine Rettung!« – »Scheusal du, entmenschtes, grinsendes Scheusal! Das unnennbare, grausenvolle Elend, das einem Teufel Tränen auspressen muß, konnte dich nicht rühren?« knirschte Rasinski und erhob den Säbel über das Haupt des Juden, um ihm den Schädel zu spalten. Doch dieser warf sich in konvulsivischer Angst auf die Knie und rief händeringend: »Gott Jehova, Erbarmen, Herr Graf, Erbarmen!«

Ludwig war Rasinski in den Arm gefallen und hielt ihn zurück. »Besudle dich nicht mit diesem Elenden,« bat er dringend; »überlaß ihn dem allwaltenden Rächer!«

»Du hast recht, ich muß anders verfahren«, erwiderte er schnell gefaßt. – »Wähnst du, ich erkenne dich nicht?« sprach er mit dem Ausdruck des tiefsten Abscheues zu dem Juden, der seine Füße umklammerte. »Ich erkenne dich, wie du mich erkanntest, feiler, erkaufter, elender Betrüger, der schon einmal der gerechten Rache entrann! Nichts könnte dich retten, wenn nicht selbst ein Ungeheuer wie du ein Werkzeug des Himmels werden könnte. Ich weiß, der ganze Auswurf der Deinigen brütet hier Taten der Hölle aus, zu denen die Megäre der Habgier euch stachelt. Gehe denn hin und verkünde deinen Mordgenossen, daß, wenn ich morgen hier in diesen Häusern auch nur einen Leichnam, nur eine Spur der Gewalttat entdecke, so lasse ich sie alle in Asche legen, und euere Gebeine soll die Flamme vertilgen, und ich selbst will den Säugling in die Glut schleudern! Fort, Ungeheuer! Doch zeichnen will ich dich, daß du nicht entkommst!« Bei diesen Worten trat er ihm dreimal mit dem Fuße ins Antlitz, daß der Jude brüllend wie ein Tier aufheulte und das Blut in den Schnee strömte. Dennoch raffte er sich auf und wankte mit Jammergeschrei der nächsten Haustür zu, an die er voll krampfhafter Angst pochte und zu seinen Glaubensgenossen um Hilfe und Erbarmen rief.

»Helft mir diesen Gemißhandelten hinwegtragen«, bat Rasinski und wandte sich zu dem Unglücklichen, der mit erstarrenden Gliedern noch lebend auf dem Schnee lag. Sie hoben ihn empor. Sein jammervolles Stöhnen erfüllte die Lüfte; doch noch ehe sie die große Straße erreicht hatten, verstummte es, denn seine Lebenskraft war erschöpfte »Dank euch, Kameraden, es war zu spät!« das waren die letzten Worte, die seinen Lippen entflohen.

»Ein Grab kann ich dir nicht schaffen,« sprach Rasinski finster, während sie den Leichnam auf den Boden niederlegten; »ruhe hier aus bei den Tausenden, denen die grausame Härte dieses Bodens alles, selbst die Grabstätte verweigert. Ist es denn nicht genug, daß die Natur uns mit allen ihren Schrecken unerbittlich verfolgt? Muß auch noch der Mensch zur Hyäne werden und in das Heiligtum des wehrlosen Schlafes einbrechen? « Ludwig trat teilnehmend zu ihm. »Dir soll ein sanfter Balsam des Trostes auf diese Wunden werden, sprach er; »wir haben dir eine frohe Kunde zu bringen!«–»Ihr? eine frohe Kunde?« fragte Rasinski fast bitter betonend. – »Deine Schwester und Lodoiska sind uns nah – sie sind hier, in wenigen Minuten kannst du sie umarmen.« – »Meine Schwester hier?« rief er mehr erschrocken als freudig und sah Ludwig staunend an. »O Johanna, zu welchem Anblick kommst du hierher! Also kannte man in Warschau unser Geschick! Ludwig, Ludwig, deine Nachricht ist so herb als süß! Ich war nicht gefaßt, sie jetzt zu sehen! Und doch,« setzte er weich hinzu, »daß ich sie noch sehe, welch ein unaussprechliches Glück ist das für mich!«

Die Freunde führten ihn nach Pauls Hause; bevor sie eintraten, stand Rasinski still. »Und Lodoiska begleitet sie? Was sollen wir der Armen sagen? Jaromir liegt in düstern Träumen des Wahnsinns, sinnberaubt, rasend – vielleicht schon erlöst!« – »Und wäre sie nur gekommen, seinen letzten Seufzer zu vernehmen,« sprach Ludwig aus innerster Überzeugung, »dennoch würden ihr alle Schätze der Erde dieses Glück im tiefsten Schmerz nicht aufwiegen. Weißt du denn aber, ob ihr Anblick nicht eine heilende, rettende Wunderkraft auf den Unglücklichen ausübt?« – »So oder so! Es muß getragen sein; laß uns ein männlich gefaßtes Antlitz zeigen.« Mit diesen Worten schritt Rasinski entschlossen die Stufen hinan, und die hohe Kraft des Mutes und des Duldens thronte wieder auf seiner edeln Stirn. Indem er die Tür öffnen wollte, hielt er noch einmal inne und fragte Ludwig mit beklemmter Stimme, als zittere er vor dem Nein: » Ist auch deine Schwester hier?« – »Auch sie«, entgegnete dieser.

Das Dunkel verbarg den Schmerz, der über sein Angesicht zuckte, und niemand gewährte die fliegende Röte, welche die Nähe dieses holden Wesens auf seine gramgebleichte Wange hauchte. Da er keinem der Freunde das Geheimnis seiner tiefsten Brust eröffnet hatte, ahnte auch keiner seine innerste Erschütterung. Er besiegte sie durch die mächtige Herrschaft des Willens, mit der er seinem ganzen Leben gebot. »Laß mich zuerst eintreten,« bat Bernhard; »dein Anblick könnte die Frauen zu heftig überraschen.« – »Meine Schwester nicht,« erwiderte Rasinski, »doch die jüngern Mädchen vielleicht. Geh' denn und erzähle, daß ihr mich gefunden.«

Bernhard trat zu der Grafin ein; einige Augenblicke danach öffnete er Rasinski die Tür, Lodoiska flog mit einem lauten Schrei auf ihn zu und sank, das Antlitz verbergend, an seine Brust; er hielt sie mit der Rechten innig umfaßt. Die Schwester trat bebend zu ihm, lehnte sich, von seinem linken Arm fest umschlungen, gegen seine Schulter und ergoß Schmerz und Liebe in einen stummen, tränenlosen Kuß. Marie blieb beklommen, leise weinend im Hintergründe stehen. »Schwester!« sprach Rasinski nach langer tiefer Stille und löste die Umarmung. – »So müssen wir uns wiedersehen!« rief sie mit einem Ton des Schmerzes aus, der in die tiefste Seele drang. »So!« Und als sei die düstere, Wolke der beklemmenden Angst mit diesem Ausruf zerrissen, atmete sie jetzt freier auf und ein Strom von Tränen brach aus ihren Augen.

»Tröste dich, du Edle, über das Grab hinaus reicht kein Schmerz«, sprach Rasinski mit jener Stärke, die selbst der Hoffnung zu entsagen vermag. »So lange werden wir's zu tragen wissen. Aber du, Arme,« wandte er sich jetzt mitleidsvoll zu der bleichen, zitternden Lodoiska, die in seinen Armen hing und ohne Bernhards sanfte Unterstützung längst in die Knie gesunken wäre, »was soll ich dir für Trost bringen? Du bist noch so jung, du hast eine zu lange Bahn vor dir!« Sie hing mit forschenden Blicken voller Angst an seinen Lippen; doch gewann sie nicht die Kraft zu einer Frage nach Jaromir. »Ich verstehe dich, holdes Kind,« sprach er mit gerührtem Ton; »du fragst nach Jaromir. Lodoiska, du bist eine Tochter Polens. Festigkeit im Schmerz muß dein Erbteil sein, denn wir werden gesäugt mit Gram und genährt mit Kummer. Du sollst die Wahrheit hören. Dein Freund lebt, aber er ist krank, schwer erkrankt; düstere Fieberträume verschleiern seine Seele! Bereite, dich, ihn zu verlieren!«

Ihre Brust flog von heftigen Atemzügen, endlich brachte sie mühsam die Worte hervor: »Wo ist er? Laßt mich zu ihm!« – »Morgen, liebstes Herz,« beruhigte sie Rasinski; »jetzt mitten in der Nacht ist es unmöglich!« Aber als durchdränge sie ein höherer Geist mit plötzlich neubelebender Kraft, rief sie aus: »Morgen! Morgen! Und sein Leben hängt an der Minute! Vielleicht haucht er in der nächsten Stunde den letzten Atemzug aus. Und ich soll warten, diese ewige Nacht hindurch! O Mutter, Mutter, du kennst mein Herz, du weißt, ob es möglich ist, ob ich nicht erliege in Angst und unnennbaren Qualen. Mutter, hilf du mir ihn erbitten!«

Flehend hob sie die schönen Arme zu der Gräfin empor, wankte zu ihr hin und sank vor ihr nieder, mit dem Haupt in ihren Schoß. Jetzt trat auch Marie schüchtern näher und redete Rasinski an. »Wir haben uns noch nicht begrüßt. Mein erstes Wort sei die Unterstützung ihrer Bitte. Sie liebt, und ein liebendes Herz muß brechen auf solcher Folter.« Die letzten Worte waren kaum vernehmbar.

»Marie!« erwiderte Rasinski mit einem unnachahmlichen Ton der Stimme, in dem seine männliche Kraft zusammenzubrechen schien, »Marie! Beim allmächtigen Gott,« rief er endlich mit jener heftigen Anstrengung, durch die er sich gewaltsam wieder emporzureißen suchte, wenn das Gefühl die Klarheit seines Tuns zu überwältigen drohte; »beim Allmächtigen, ich vermag nichts. Jaromir liegt im Lazarett. Nachts wird keinem dort die Pforte geöffnet; sonst würde ich die Arme ja sogleich selbst zu ihm führen. Aber ich müßte den Marschall im Schlafe aufstören, müßte –«

»In welchem Lazarett liegt der Kranke , von dem Sie sprechen, Herr Graf?« fragte Paul rasch. – »Hier gleich am Tore, zur Linken in dem großen Gebäude.« – »Dazu hab' ich die Schlüssel,« fiel Paul freudig ein; »ich führe die junge Gräfin selbst dahin.«

»Dank der Mutter Maria,« rief Lodoiska aufspringend; »Dank, heißer Dank – so soll ich ihn noch einmal sehen!«

»Ich begleite dich«, sprach Rasinski fest entschlossen. – »Und ich«, fiel die Gräfin ein. »Wir alle«, sprach Marie voll schwesterlicher Teilnahme. – »Nein, Marie,« erwiderte Rasinski mild verweisend; »der Gang ist nicht leicht und nicht erfreulich. Wir müssen ihn allein tun, ich bestehe darauf.«

Es währte nicht zwei Minuten, bis die Gräfin und Lodoiska zu dem traurigen Wege gerüstet waren. Rasinski drang auch darauf, daß Ludwig und Bernhard zurückblieben; diese dagegen forderten, daß er sich die notwendige Ruhe gönnen solle. »Handelt zum letztenmal nach meinem Befehl«, sprach er endlich sanft, aber gebietend. »Ihr bleibt zum Schutz des Hauses; ich muß der Führer der Unglückseligen sein, da sonst niemand seine Lagerstätte auffindet.« Sie gingen durch die düstere Winternacht hinaus.


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