Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Zweites Kapitel.

Es dunkelte schon, als die vorläufigen Anordnungen getroffen waren. Man befand sich denn nun in der Hauptstadt des Feindes, man hatte sie förmlich in Besitz genommen; ja mehr als man glaubte, da alles darin, was nicht fortzuschaffen war, den Einrückenden gewissermaßen als Erbe überlassen blieb. Das Schloß, welches Rasinski mit seinen beiden jungen Freunden bezogen hatte, war von altertümlicher, würdiger Bauart. Das Tor, hoch, gewölbt, mit Eisen stark beschlagen, hatte man erst sprengen müssen; man fand es von innen verriegelt, ein Beweis, daß entweder noch Leute im Schlosse befindlich oder, durch den Garten geflüchtet sein mußten. Das letztere war am wahrscheinlichsten. Als man die beiden symmetrischen Wendeltreppen, welche von jeder Seite der Hausflur in das mittlere Stockwerk führten, hinanstieg, gelangte man in weite Korridore, an denen eine lange Reihe von Gemächern und Sälen hinunterlief. Sie zeugten von großer Pracht, von selbst in Rußland nicht gewöhnlichem Reichtum; doch war, wie Möbel, Form der Spiegel, Tapeten und Vergoldungen bewiesen, die Ausschmückung mindestens schon durch die Väter der jetzigen Besitzer geschehen.

In dem Zimmer zunächst der Treppe richteten Ludwig und Bernhard das Bureau ein. Aus demselben trat man rechts in einen geräumigen Saal, und neben diesem hatte Rasinski sich in einem kleinern Gemach, das eine Art Boudoir gewesen zu sein schien, eingerichtet; zur Linken des Bureauzimmers hatten Ludwig und Bernhard in zwei großen Gemächern ihre Schlafstätten aufgeschlagen. Es fing an zu dunkeln; draußen auf der Straße flackerten die hellen Wachtfeuer, an denen die Leute biwakierten. Der Widerschein der Flammen spielte gegen die Decke der noch unbeleuchteten Gemächer und brachte, gemischt mit der tiefen Dämmerung, ein seltsames Licht hervor. Rasinski war hinuntergegangen, um die Truppen zu besichtigen und für ihre Bedürfnisse zu sorgen. Ludwig saß in dem geräumigen Gemach, welches er zur Wohnung gewählt hatte, allein auf einem alten Lehnsessel, denn Bernhard, von einer ihm eigenen Lust, fremde große Gebäude gleich nach allen Richtungen hin zu durchkreuzen, hatte, wie er sich ausdrückte, eine Entdeckungsreise in die weitläufigen Seitenflügel des Palastes unternommen.

In dem Halbdunkel des herbstlichen Abends, bei dem Spiel des Feuerscheins vor den Fenstern, bei dem gedämpften Schall verworrener Stimmen und Waffengeräusches von draußen her hing Ludwig seinen Träumen nach. Die schönen Bilder der Vergangenheit schwebten als glänzende Gestalten auf dem dunkeln Grunde der Gegenwart vorüber. Es war die erste einsame, ruhige Stunde, seit er die Nachricht von dem Tode der Mutter erhalten, die das Getümmel des Kriegs ihm gönnte. Eine düstere Schwermut bemächtigte sich seiner Seele; das Haupt auf der Seitenlehne des Sessels in die Hand gestützt, saß er, in Erinnerungen versunken, und sein Auge irrte bewußtlos in den hohen dunkeln Räumen des Gemachs umher. So bemerkte er es nicht, daß Bernhard eingetreten war und, in der halboffenen Tür stehen bleibend, ihn beobachtete. Dieser aber sah durch die tiefe Dämmerung die Tränen in Ludwigs Auge glänzen, in denen sich der flackernde Feuerschein spiegelte. »So in düstere Gedanken versunken, Kriegskamerad?« redete er ihn an. – »Ach, Bernhard,« sprach Ludwig, »du bist es? Jawohl, in düstere Gedanken versenkt! Wie könnte man es anders an diesem schauerlichen Orte, und mit einer Brust voll Erinnerungen und Schmerzen wie die meinige!«

»Hm,« warf Bernhard hin, »mein Herz ist auch gerade kein Füllhorn der Wonne und des Glücks, und wenn ich mit meinen Erinnerungen laterna magica spiele, so zieht der Teufel und seine Großmutter an der Wand vorüber. Aber was den schauerlichen Ort anlangt, so muß ich dir sagen, daß er mir noch eher unheimlich vorkommt.« – »Wieso?« – »Wir wohnen nicht allein im Hause, darauf möchte ich schwören.« – »Was hast du für Gründe zu dieser Vermutung?« – »Mancherlei. Ich ging durch die langen Korridore nach dem Querflügel, der auf den Garten stößt. Wie ich so eine Tür nach der andern anklinke, die alle verschlossen oder verriegelt waren, komme ich auch an eine, die sich sogleich öffnet. Ich trete ein und fühle mich durch eine behagliche Wärme überrascht; das fällt mir auf, ich schaue umher und finde, daß ich in einer Art von Küche stehe, wo auf dem Herde noch Asche liegt. Ich trete hinzu; die Asche ist warm, ja ich entdecke, als ich mit meinem Säbel darin schüre, noch einige schwach glimmende Kohlen.«

»Die Bewohner werden diesen Morgen noch hier gewesen sein.«

»So dachte ich auch; da aber höre ich plötzlich unter mir ein dumpfes Geräusch, wie wenn etwas Schweres fiele. Das macht mich stutzig. Ich eile wieder auf den Korridor, entdecke eine kleine Treppe, die ins untere Geschoß hinabführt, und finde dort ebenfalls einen Korridor, an welchen sich eine Reihe Gemächer mit verschlossenen Türen anschließt. Ich versuche sie zu öffnen, zu sprengen; sie sind, scheint es, fest verrammelt. Ich poche, rufe, lärme; keine Antwort. Endlich bin ich des Dinges überdrüssig und gehe. Als ich die kleine Treppe wieder hinaufsteige, höre ich aber etwas rauschen und zugleich Schritte wie von einem weiblichen Fuß. Schnell eile ich hinauf, entdecke aber nichts. Überzeugt, daß mein leises Ohr mich nicht getäuscht hat, spähe ich überall umher. Da sehe ich am Boden, dicht vor der Tür der Küche, wo ich zuvor gewesen war, etwas Weißes schimmern; ich hebe es auf, und siehe, es ist diese Bandschleife, die zuvor, darauf wollte ich einen Eid schwören, nicht dort gelegen hat. Ich forsche und spähe darauf ringsumher, um die Schöne zu entdecken, die das Band verloren haben müßte, doch vergeblich. Alles blieb stumm, alles verschlossen. Ob es nun ein guter oder böser Geist, eine Ahnfrau oder gar die berüchtigte Weiße Frau gewesen sein mag, die in den öden Gängen umhergewandelt ist, das will ich unentschieden lassen.«

»Hm, sonderbar!« sprach Ludwig sinnend. »Sollten sich vielleicht die unglücklichen Einwohner versteckt halten aus Furcht vor Mißhandlungen?«

»Möglich! Doch halte ich's lieber mit Gespenstern, verwünschten Fräuleins, die auf Erlösung harren, eingemauerten Nonnen, deren Seele keine Ruhe finden kann und die in den öden Gängen umherkreuzen. Um Mitternacht müssen wir eine zweite Rekognoszierung vornehmen; bist du dabei?« – »Wenn deine eigene Müdigkeit dich nicht eines Bessern überredet,« erwiderte Ludwig lächelnd, »herzlich gern.«

»Wie? Ihr sitzt so im Dunkeln, Freunde«, tönte plötzlich des eben eingetretenen Rasinski Stimme. »Es wird Zeit sein, daß wir Licht anzünden lassen; aber auch Feuer, denn die Herbstabende sind kalt in diesen Gemäuern.« Er befahl seinem Reitknecht Licht zu bringen und in dem kleinen Gemach, welches er bewohnte, Feuer anzuzünden. Es war dies das einzige Zimmer des Hauses, wo sich ein Kamin befand, der für den Herbstabend eine zweckgemäßere Erwärmung gewähren konnte als die ungeheuern Öfen in den andern Gemächern. »Ich habe eben Briefe für mich und euch erhalten,« fuhr Rasinski fort; »laßt uns hinübergehen und sie zusammen lesen und einander erzählen, was die Lieben von der Heimat her uns schreiben. Es ist mir ein erfreuliches Zeichen, daß uns gleich am ersten Tage in dieser Hauptstadt eine so willkommene Begrüßung wird.« Sie gingen.

Rasinskis Reitknecht hatte eine Lampe angezündet, die in dem Gemach hing; bald flackerte auch das Feuer im Kamin. Er reichte jetzt Ludwig zwei Briefe von verschiedenem Datum hin, die jedoch, wie dies bei Feldposten zu geschehen pflegt, zu gleicher Zeit eingetroffen waren. Bernhard pfiff ein Soldatenlied und störte mit der Zange in dem Kamin umher, während Ludwig und Rasinski lasen. »Man ist sehr glücklich, wenn man keinen Korrespondenten hat,« warf er hin; »man braucht kein Porto zu zahlen, nicht zu antworten, ja nicht einmal zu lesen. Das letztere ist besonders für einen Maler, der gern seine Augen schont, ein höchst erfreulicher Umstand.« Er pfiff weiter, da ihm niemand antwortete. »Ich hab' mein' Sach' auf nichts gestellt – und mein gehört die ganze Welt«, summte er und heftete sein Auge starr in die Glut.

»Ja, ja, du bist glücklicher als wir,« rief Ludwig plötzlich und heftig aus, indem er die Hand sinken ließ, in welcher er den Brief, den er soeben gelesen, hielt, »denn solche Briefe zu empfangen, das hat der Himmel dir erspart!« – »Was ist dir? Was hast du?« fragte Bernhard von seinem Sitze aufspringend. – »Ich kann's vermuten, nach dem, was mir meine Schwester meldet,« sprach Rasinski; »es ist ein namenloses Bubenstück, aber es soll nicht gelingen.« – »Schwarz wie die Nacht, und giftig wie die Brut der Natter«, rief Ludwig, außer sich. »Und um meinetwillen muß die Hilflose das leiden!«

»Was denn, was? So redet doch in des Satans Namen«, rief Bernhard mit rollenden Augen, denn er ahnte etwas von der Wahrheit. – »Lies, lies«, sprach Ludwig und reichte ihm den Brief hin. Bernhard ergriff ihn hastig und wollte ihn rasch überfliegen, doch warf er ihn ebenso hastig wieder weg und rief: »Es sind mir zu viel Buchstaben, sie kreuzen durcheinander wie ein ganzer Haufen giftiger Spinnen. Sagt mir's mit zwei Worten, denn ich habe die Ruhe nicht, das Gift da langsam herauszusaugen.«

»Es empört jeden, dem jemals ein männliches Herz in der Brust schlug,« sprach Rasinski und ging in Wallung mit großen Schritten auf und nieder; »die Buben, die euch verfolgen, sind auf seine unglückliche Schwester gestoßen, der Zufall oder ihre arglistigen Höllenkunstgriffe brachten das Geheimnis an den Tag, und –« – »Sie ist im Gefängnis?« rief Bernhard hastig unterbrechend und sein Auge flammte ergrimmt auf. – »Nein, das zum Glück nicht,« fuhr Rasinski fort; »aber empörende Anträge hat ihr der Bube gemacht, und des Bruders Haupt zum Preise –«

»Rede nicht weiter, Rasinski!« rief Bernhard halb befehlend, halb flehend. »Soll es der Bruder zweimal hören?« Zugleich faßte er Ludwig und drückte ihn mit krampfhafter Heftigkeit an die Brust. »O die holde Rose! Welche Qualen des Schauders mußten ihr liebendes Herz erfüllen, als die stachelige Giftraupe sich scheußlich heranringelte! – Aber wir wollen Gott danken, daß sie gerettet ist, denn ich sehe es an euern Blicken, sie muß es sein, sonst könntet ihr so nicht hier stehen. Doch noch schauert mich in innerster Seele! Mein Ludwig!« Sie hielten sich aufs neue umfaßt. Rasinski legte die Hände auf ihre Schultern und sprach gerührt: »Wir haben wohl Gott zu danken!«

»Laß mich nun lesen, was die gemarterte Heilige dir schreibt«, unterbrach Bernhard mit bewegter Stimme die Umarmung. Er nahm den Brief und setzte sich damit gegen das Feuer. »Hm!« sprach er ruhiger, doch noch von Ingrimm erfüllt, als er gelesen; »der eine Todesstreich wäre zwar abgewendet, aber noch droht ja das Schwert über ihrem Haupte. Auch über dem unserigen – doch diese Lumperei ist nicht der Rede wert. Ich sollte den Buben nur hier haben –, er müßte ein anderes Lied hören!« Nach diesen Worten ging er unruhig auf und nieder.

»Ich habe den zweiten Brief noch nicht geöffnet,« sprach Ludwig, »der erste hatte mich zu gewaltig erschüttert. Er gibt uns vielleicht Auskunft.« – »Laß hören!« –

»Dresden, am 19. August.

»Teurer Bruder! Welch eine Zeit ist das? In Stunden geschieht mehr als vormals in Jahren. Die wichtigsten Ereignisse meines Lebens drängen sich alle in einen Punkt zusammen. Wir verließen Teplitz gleich am andern Morgen nach dem entsetzlichen Vorfall, den ich Dir noch abends flüchtig meldete. (Sei nur auf Deiner Hut, Teuerster!) Diese Nacht brachten wir auf dem Gute der Tante zu; heute fuhren wir alle in der Stille hierher. Auf dem Totenbette sprach mir die Mutter von einem Geheimnis; doch der Schmerz hatte mich damals so überwältigt, daß ich kaum darauf achtete; denn was sollte mir noch wichtig sein in der Welt! Und doch – aber höre. Die Mutter hatte mir die geheime Lade ihres Schreibtisches als wichtige Papiere enthaltend bezeichnet. O Ludwig, mit welcher Bewegung habe ich sie gelesen! Sobald es auf sichern Wegen möglich ist, sollst Du das ganze Dokument der rührenden Erzählung erhalten; jetzt gebe ich Dir nur den Auszug, den die flüchtigen Minuten mir gestatten. Unser wahrer Name ist nicht Rosen, sondern der Vater hieß Sternfels und war Gutsbesitzer in Franken. Die treueste Freundschaft war sein Unglück. Im März des Jahres 1793 besuchte er einen Jugendfreund, namens Waldheim, der Offizier gewesen, aber von den Franzosen gefangen genommen war und sich zu Straßburg aufhielt, wohin ihm seine Gattin, eine holdselige Frau sondergleichen, wie die Mutter sie schildert, nachgefolgt war. Ein Franzose, Rumigny, beleidigte die junge, reizende Frau durch ehrlose Anträge.« Hier hielt Ludwig einen Augenblick inne, weil Rasinski eben durch eine eintretende Ordonnanz, die ihre Meldungen machte, unterbrochen worden war. Auf einen Wink fuhr er jedoch sogleich fort: »Da sie zurückgewiesen wurden, rächte er sich durch die schwärzesten Verleumdungen. Dies erfuhr der beleidigte Gatte, der sein getreues Weib kannte. Er forderte den Verleumder, zwang ihn zum Duell; unser Vater war Sekundant. Doch der Elende, der sich mit mehreren Begleitern versehen hatte, tat einen Schuß gegen die Gesetze des Duells, der den unglücklichen Waldheim zu Boden streckte. Unser Vater war außer sich; da in dem Augenblick jedoch die Sorge, das Leben des Getroffenen vielleicht noch zu retten, dringender war als das schwer überwundene Gefühl der Rache, konnte er den Täter nicht sogleich züchtigen. Der Freund starb nach wenigen Minuten. Unser Vater forderte den Mörder; dieser verhöhnte ihn. Da überwältigte ihn ein menschliches Gefühl – Ludwig! wer wollte ihn verdammen – er suchte den Elenden auf, um Rache an ihm zu nehmm, oder ihn zum Zweikampf zu zwingen. Sein treuer Diener Willhofen begleitet ihn; doch der Verbrecher ist gewarnt und lockt den Gegner ins Netz. Durch Hohn weiß er ihn zu reizen, der Vater vergißt sich, dringt mit dem Degen auf ihn ein, wird entwaffnet und mit dem treuen Willhofen gefangen. Um sein Opfer gewiß zu verderben, sucht der Verbrecher den Vater als Späher und fremdbesoldeten Verräter gegen Frankreich verdächtig zu machen. Er wird nach Paris gesandt. Die Guillotine bedroht ihn. Doch Willhofen, der alle seine Schicksale teilt, findet in dem Kerkermeister einen Landsmann aus dem Elsaß. Dieser begünstigt ihre Flucht, und beide gelangen glücklich nach dem Havre auf ein holländisches Schiff. Von dort schreibt der Vater erst der Mutter, was alles geschehen ist, und beschwört sie, sofort mit uns nach Hamburg zu gehen, wo er sie treffen will. Sie kommt dahin und erwartet vergeblich die Ankunft des Vaters. Tage und Wochen verstreichen, endlich ist ein Monat vorüber, ohne daß ihre tödliche Ungewißheit sich endet. Indessen erfährt sie, daß durch die schon damals überallhin sich erstreckende Gewalt der französischen Machthaber der Prozeß gegen den Vater als Mörder auch schon in seiner Heimat anhängig gemacht ist, daß man ihn auffordert, sich dem Gerichte zu stellen. Was soll ich Dir noch alles sagen? Der Vater ist niemals mehr wiedergekehrt; seine Güter wurden eingezogen, und als die Franzosen Franken besetzten, sein Name geächtet, weil er sich in den Polizeilisten von Paris unter der Zahl der Hochverräter fand. Dies bewog die Mutter, den Namen Rosen anzunehmen und sich mit uns nach Dresden zurückzuziehen, wo unsere Tante, ihre Schwester, bereits als Witwe wohnte. Noch tausend Umstände hätte ich Dir zu melden, teurer Bruder, wenn es in diesem dringenden Augenblicke möglich wäre. Vor allem die unendlich rührenden Gründe der Liebe und Besorgnis, welche nebst manchen andern wichtigen Bedenken unsere Mutter bestimmten, ihre Kinder nicht zu Mitwissern des Geheimnisses, zu machen, das um das Haupt des Vaters schwebte. Doch es wird ja ein Tag kommen, wo die Schwesterbrust sich einmal wieder ganz frei und ungehindert gegen Dich ergießen kann. Jetzt stürmt und dringt freilich alles auf uns ein! In der nächsten Viertelstunde schon reise ich mit der Gräfin Micielska nach Warschau ab, wo ich ganz sicher gegen jede Verfolgung sein werde. O wärest auch Du es nur! Aber Dich bedroht das Unheil des Krieges im Antlitz und schwarzer Verrat im Rücken! O Ludwig, und Du führst die Waffen für die, welche so namenloses Elend über Deinen Vater und über Dein Vaterland gebracht haben! Ich mache Dir keine Vorwürfe, Du Lieber; aber kann das Unglück höher steigen, können wir tiefer sinken in der Schmach? Meine heißen Gebete für Dich sende ich täglich gen Himmel! Aus tiefster Seele aber bete ich auch für die Erlösung unsers Vaterlandes von dem ehernen Joche, unter das es sich beugen muß. Ich muß schließen, – grüße Deine Freunde von mir, den treuen Bernhard, den edeln Rasinski – o daß es erst anders würde in der Welt!

Deine Marie.«

Ludwig hatte vor Erstaunen und Überraschung kaum den Brief zu Ende lesen können. Erst jetzt erinnerte er sich lebhaft und deutlich wieder einiger Begebenheiten aus seinen frühesten Knabenjahren – denn er zählte fünf Jahre zur Zeit des unglücklichen Ereignisses –; jetzt erst, wie sie erklärt wurden, traten die mancherlei kleinen Beziehungen, Winke und Worte, die er von der Mutter über das Schicksal des Vaters gehört, gleich hellen Sternen auf dem dunkeln Nachthimmel der Vergangenheit hervor. Aber wie vieles blieb in seinen düstern Wolken verschleiert!

Rasinski wurde vorzüglich durch die letzten Worte des Briefes erschüttert, die eine Wunde seines Herzens trafen, von der selbst Ludwig keine Ahnung hatte, da er mit männlicher Festigkeit seinen Schmerz in verschlossener Brust trug. Er stand mit verschränkten Armen gegen den Pfeiler des Kamins gelehnt und blickte düster vor sich hin.

Auf Bernhard schien dieser Brief den schwächsten Eindruck zu machen, da seine Seele sich nur noch mit dem Ereignis des ersten beschäftigte. Er saß auf der andern Seite am Feuer und spielte mit seinem Ringe, indem er ihn am Finger hin und her drehte. »Im ersten Augenblicke, mein guter Ludwig,« fing er nach einer Pause an, »regen uns solche Nachrichten heftig auf. Aber auf die Dauer ändern sie wenig in unserm Leben: An Wunder glaube ich in der Brust, im Gemüt, wo man will; aber im Leben sind sie selten. Ein Vater, der zwanzig Jahre lang verschollen ist, muß zu den Toten gezählt werden; um einen, den wir so lange entbehrten, kann auch der Schmerz nicht groß sein. Aber Marie in ihrer Lage, in der Entwürdigung, die sie erfahren, in der Angst, die sie dulden mußte, ist ein armes, blutendes Opferlamm!«

»Du bist so gut und treu, Bernhard,« entgegnete Ludwig, »du verstehst das Herz deines Freundes so tief: solltest du nicht begreifen, daß es ihn im Innersten bewegen und ergreifen muß, daß er vielleicht noch einen Vater besitzt, der unendliches Unglück, unendlichen Jammer erduldet haben kann und noch erduldet? Wärest du in diesem Falle –«

»Und bin ich's etwa nicht?« fuhr Bernhard fast wild auf. »Wenigstens in einem ähnlichen, und darum weiß ich, was davon zu halten ist. Ich könnte vielleicht noch eine ganze Sippschaft, Vater und Mutter, Basen und Vettern in der Welt haben und auffinden, aber ich beteuere dir, daß ich mich jetzt auch nicht einen Pfifferling um die kümmern werde, die sich zwanzig Jahre nicht um mich bekümmerten. Es ist freilich anders mit dir – denn du weißt wenigstens, daß dein Vater dich nicht verstoßen hat, du hast ihn früh verloren, und alles bürgt dir dafür, daß er ein edler Mann war. Nun, du weißt, ich fühle auch – aber Marie geht mir jetzt näher ans Herz.«

»Du hast mir nie gesagt, daß du noch lebende Eltern habest«, sprach Ludwig erstaunt.

»Ich erfuhr es selbst erst vor zwei Jahren in London, als mein Pflegevater gestorben war; aber damals hatte ich Kopf und Herz voll anderer Dinge – du weißt ja –, und seitdem hat die Zeit mich gleichgültig gemacht. Da, an diesem Ringe (er warf ihn über den Tisch zu Ludwig hin) sollte ich vielleicht meine wahren Eltern erkennen; und doch hätte ich ihn vor drei Monaten unbedenklich um etwas Gewissern willen, was mir lieber war, weggegeben, wenn ich nicht ein dummer Tölpel gewesen wäre.«

Da Rasinski und Ludwig ihn fragend und befremdet anblickten, fuhr er, während Ludwig den Ring betrachtete, fort: »Mein Pflegevater, den ich für meinen wirklichen hielt, weißt du, war ein armer Landprediger bei Würzburg. Als ich im zehnten Jahre anfing gut zu zeichnen, schickte er mich nach Dresden zu seinem Bruder, den du ja gekannt hast. Daß es mir schlecht genug hier erging bei dem alten, strengen, philisterhaften Kauz, brauche ich dir auch nicht zu wiederholen. Ich zerriß endlich alle Ketten und ging auf Reisen. In dieser Zeit starb mein Pflegevater, der Pfarrer, und sein Bruder beerbte ihn, das heißt, er bekam die nachgelassenen Papiere. Unter ihnen war eins, das er mir nach London schickte. Auf diesem stand ungefähr folgendes, von seiner eigenen Hand geschrieben: «Eines Abends, als ich schon zu Bett war, klingelte es heftig mehrmals an der Haustür. Die Haushälterin öffnete; ein fünfjähriger Knabe, der die Glocke gar nicht hätte erreichen können – das war ich nämlich –, stand davor. Er hatte einen Brief an mich in der Hand. Ich öffnete ihn und fand eine Anweisung von 2000 Gulden auf einen Frankfurter Bankier darin, die man mir unter der Bedingung gab, daß ich das Kind, welches sie überbrächte, erziehen sollte. Man kenne mich als einen redlichen Mann, der ein solches Zutrauen rechtfertigen werde, und wolle nach einiger Zeit sich wieder nach dem Kinde erkundigen. Ich habe meine Pflicht nach besten Kräften getan, obwohl mich bald darauf der Krieg um das brachte, was ich für den Knaben in Besitz genommen hatte. Sein Talent zur Malerei bestimmte mich, ihn zu meinem Bruder nach Dresden zu senden. Seine Wäsche war mit einem B gezeichnet, danach nannte ich ihn Bernhard. Dies und ein goldener Trauring, den wir erst später zufällig in seinem Kleidchen eingenäht fanden und in welchem die Buchstaben B. W. stehen, sind die einzigen Zeichen, an denen man seine wahren Eltern wiedererkennen kann.‹ Dieses Dokument nebst dem Ringe schickte mir mein Oheim, wofür ich ihn wenigstens stets gehalten, nach London, mit dem Auftrage, ich möge nun, dort oder in der Heimat, selbst nach meinen Eltern forschen. Weiter blieb mir auch nichts übrig, denn wie du weißt, starb mein Oheim vor zwei Jahren so plötzlich, daß ihn meine Antwort nicht einmal mehr am Leben traf und daher an mich zurückging. So sind wir in demselben Falle. Aber ich beteuere dir, Ludwig, ich habe auch noch nicht den Finger gerührt, um eine Entdeckung zu machen. Was will ich mit Eltern, die in meinem ganzen Leben nichts von mir gewollt haben? Reich oder arm, vornehm oder gering, mir ist alles eins; Liebe können sie nicht zu mir gehabt haben. Mit dir ist's freilich anders, aber auch weit unwahrscheinlicher – denn welcher Vernünftige zählt auf das große Los im Glücksrade? Ich würde nur dem Schuft Romanay, oder wie er hieß, auf die Spur zu kommen suchen, um ihm etwa den Hals umzudrehen. Aber der Vater –; zwanzig Jahre verschollen ist tot.«

»Nein, Bernhard!« rief Ludwig, »ich kann so nicht fühlen. Mächtig stürmt die Hoffnung in meiner Brust, ich werde einen Vater finden und ihm vielleicht ein heiteres Ziel des Lebens bereiten können. Und diese Liebe steht mir näher als die Rache nach einem, den vielleicht das Maß seiner Schuld schon längst erreicht hat. Nein, ich hoffe noch!«

»Das wird acht Tage dauern, die nächsten Monate hindurch taucht es noch einigemal auf; aber wenn dann Jahre verflossen sind und alles bleibt wie es ist, so wirst du sehen, daß so schwache Hoffnungen verglimmen wie eine Flamme ohne Nahrung.«

»Freilich,« entgegnete Ludwig, »bin ich, so scheint es, darauf angewiesen, meine teuersten Hoffnungen an fast unsichtbare Fäden sich knüpfen zu sehen, und man könnte mir's verzeihen, wenn ich daran verzweifelte, durch sie den Ausweg aus dem Labyrinth meines Schicksals zu finden.«

Rasinski hatte indessen den Ring genommen und betrachtete ihn aufmerksam. »Hm! Welche Buchstaben nanntest du, die in dem Ringe ständen?« wandte er sich fragend an Bernhard. – »B. W.«, erwiderte dieser. – »Wenn man freilich,« bemerkte Rasinski nicht ohne eine etwas verweisende Betonung, »so zarte Fäden nur obenhin betrachtet, dann wird es allerdings unmöglich, sie zu verfolgen und, durch sie geleitet, den Ausweg des Labyrinths, wie Ludwig sagte, zu finden. Ich lese nicht B.W., sondern ganz deutlich L.W. in diesem Ringe.«

»Unmöglich!« antwortete Bernhard, griff hastig nach dem Ringe und hielt ihn gegen das Licht. »Das ist ein Blendwerk der Hölle!« rief er plötzlich erblassend aus. »In meinem Ringe stand B.W., oder ich will ewig verdammt sein. Treibst du dein Spiel mit mir?« fuhr er heftig gegen Rasinski auf.

»Wie kannst du nur glauben!« sprach dieser und stand erstaunt und bewegt auf; auch Ludwig betrachtete den Freund mit äußerster Spannung. In seinen Zügen war eine Bewegung zu lesen, wie er sie nie gesehen, seine Fassung war verloren, er schien ganz überwältigt durch die aufregenden Gefühle seiner Brust. Plötzlich lachte er wild und ingrimmig auf. »Es ist nichts, sage ich, nichts. Eine der riesenhaftesten Albernheiten des Zufalls, über die man aber freilich verrückt werden könnte! Ich glaube, das Schicksal will sich an mir rächen. Ich war ungläubig gegen seine Wunder in diesem nüchternen Leben, nun verhöhnt es mich damit – aber doch fast zu grausam! O« – er drückte sich die Faust vor die Stirn – »wer mir nur dies eine Mal sagen könnte, ob mich die grinsenden Larven eines Traumes quälen, oder ob die Wirklichkeit mir diese höhnischen Gesichter schneidet. Packt mich doch an in Teufels Namen, und schüttelt mich wach, wenn mir der Alp das Herz zerdrücken will!«

»Bernhard, lieber Bernhard,« drang Ludwig in ihn, indem er seine Hand ergriff, »was hast du? Fasse dich, komm zu dir selbst; o sprich, was dich so grauenhaft erschüttert!« Wie jemand, der aus den bewußtlosen Zuckungen eines Krampfes ins Leben zurückkehrt und nun, todesmatt, kaum noch die Augenlider offen halten kann, sank Bernhard jetzt an der Brust des Freundes zusammen, so daß Rasinski ihn unterstützen mußte. »Laßt mir's allein, Freunde!« sprach er matt. »Ihr liebt mich, es muß euch ebenso treffen. Warum soll es mehr als eine Brust zermalmen? Und wenn alles nur ein leeres Spiel wäre! ein Nichts, ein weniger als Nichts, was diese Qualen in mein Herz geworfen hat! Jetzt weiß ich, daß es auch unwirkliche Dinge gibt, vor denen eine Männerbrust zusammenbrechen muß, daß man an entsetzlichen Träumen sterben kann.«


 << zurück weiter >>