Ludwig Rellstab
1812 – Ein historischer Roman
Ludwig Rellstab

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Siebentes Kapitel.

Eine nährende Mahlzeit hatte die Ermüdeten erquickt; jetzt überwältigte die Abspannung des Körpers selbst den tiefsten Schmerz der Seele. Alle sanken sie bald in langentbehrten, süßen Schlaf, der sie, fast dem Tode gleich, in gänzliches Vergessen versenkte.

Der Winter ließ indessen von seinem Grimm nicht nach, sondern sandte seine Schrecken in immer wachsendem Maße auf die Gefilde herab. Ein Heil lag in diesem Unheil; die starren Fesseln der Kälte, die sich den Flüchtenden als Schlingen um die Füße legten, lähmten auch die Schritte der Verfolger. Die Schrecken der Natur überboten die des Kampfes so gewaltig, daß sie einen unverabredeten Waffenstillstand erzeugten.

Ein tobendes Pochen an der Tür und ein wildes Geschrei vor derselben weckte Rasinski aus dem Schlaf. Er fuhr rasch empor, und kriegerisch gewohnt, sogleich seine ganze Besonnenheit beisammen zu haben, horchte er, bevor er auf das Anrufen und Sprechen antwortete, scharf hin, um zu prüfen, ob Freunde oder Feinde sich näherten. Bald unterschied er, daß es Russen waren, die an der Pforte pochten. Er sah rasch nach der Uhr; die sechste Stunde war vorbei. Es mußte draußen noch völlig dunkel sein. Seine Gefährten ringsumher schliefen noch fest, nur der Wirt fing an zu erwachen und fragte halb im Schlafe: »Wer da?«

Rasinski sprang auf, rüttelte ihn vollends wach und raunte ihm leise zu: »Du bist verloren, wenn du uns mit einer Silbe verrätst; laß mich allein handeln.« Der erschrockene Alte deutete durch Zeichen an, daß er gehorsam sein wolle. Rasinski ging hierauf aus dem Gemach gegen die Tür zu und fragte in russischer Sprache: »Wer ist da?« – »Wir sind Russen, Freund«, tönte die Antwort. »Die Kälte bringt uns um, wir haben einen Nachtmarsch gemacht; öffne geschwind, wir sind nur wenige!« – »Bei der heiligen Mutter Marie,« antwortete Rasinski, »so seid ihr verloren, wenn ich öffne; denn das Haus ist voll Franzosen. Reitet ja eiligst zurück.« – »Teufel!« rief es draußen. »Wieviel sind ihrer?« – »O, soviel das Haus fassen kann. Über fünfzig, Herr, und viele Offiziere!«

»So schweig bei deinem Leben. In einer halben Stunde müssen meine Leute heran sein. Ich eile ihnen entgegen. Was dieses Haus an Feinden verbirgt, muß in unsere Hände fallen. Ist der Ort auch noch besetzt?«

»Ich weiß es nicht, Herr! Vielleicht sind sie schon aufgebrochen!« »So müssen wir eilen! In einer halben Stunde sind wir wieder hier. Halte deine Gäste ja so lange auf!« Mit diesen Worten entfernten sich die Reiter. Vorsichtig horchte Rasinski, bis der Hufschlag der Pferde sich verlor; dann rüttelte er die Freunde aus dem Schlafe auf. »Was gibt's?« fuhr Bernhard empor. – »Der Feind ist uns auf der Ferse«, antwortete Rasinski. »Eilt, wir müssen augenblicks fort und hinunter in den Flecken und alles wecken, was noch nicht wach ist. In einer halben Stunde rücken die Kosaken heran.«

Diese Worte brachten die Schlaftrunkenen zur vollsten Besinnung. Ehe drei Minuten vergingen, hatte sich alles aufgerafft und war zur Wanderung durch die grimmige Winternacht bereit. Der Wirt mußte herbeischaffen, was er von Lebensmitteln und Branntwein besaß, um es zu teilen und mitzunehmen. Der zitternde Greis ergriff Rasinskis Hand und sprach: »O, Herr, wie wird mir's ergehen! Wird man mich nicht für einen Verräter halten und Rache an mir nehmen?« – »Nein, Alter, gewiß nicht,« erwiderte Rasinski; »sprich die volle Wahrheit, sie wird dich schützen. Doch halt – ich will dich noch sicherer stellen.« Er nahm ein Blatt aus seiner Brieftasche und schrieb mit Bleistift französisch folgende Worte darauf: »Herr Kamerad! Es lag nur an uns, Sie zu unserm Gefangenen zu machen, wenn wir hinterlistig öffneten. Wir wollten aber nur unsere Rettung; denn die Opfer dieses Kriegs zu mehren erscheint nur als Grausamkeit. Werfen Sie keinen Verdacht auf den greisen Wirt dieses Hauses, denn nicht er, sondern ein Offizier, der Ihrer Sprache mächtig ist, sprach mit Ihnen, während alle übrigen im tiefsten Schlafe lagen.« Hierauf faltete er den Zettel zusammen, gab ihn dem Alten und sprach: »Dieses Blatt sichert dich vollkommen. Vergiß deinen Schwur nicht! Bestatte den Toten, den wir dir zurücklassen. Laß ihn in dem Gewölbe euerer Kirche beisetzen. Nimm diese Börse, sie wird dir die Mittel dazu und überdies einen reichlichen Lohn gewähren. Vielleicht vergönnt es mir der Friede, bald zurückzukehren. Kannst du mir dann den Sarg mit dem teuern Leichnam zeigen, so sollst du zehnfach soviel Gold empfangen. Jetzt leb wohl, Alter! Der Himmel segne dich, wenn du dein Versprechen redlich erfüllst.«

Alle waren bereit; man brach auf, Rasinski schritt voran. Schwarze Nacht umhüllte die Erde. Rings eine lautlose Stille; nur das Knistern des Schnees unter den Füßen der Wanderer war zu hören. Niemand sprach, denn die schneidende Kälte machte jeden Atemzug schmerzlich. Das Antlitz so dicht als möglich verhüllt und verbunden, schritt jeder, nur mit sich selbst beschäftigt, in stummem Grauen vor sich hin.

Als sie an die ersten Hütten des Fleckens kamen, fanden sie die Türen offen, die Häuser leer. Man war schon aufgebrochen. »Es scheint, wir sind allein zurückgeblieben und haben den Feind nahe auf den Fersen«, sprach Rasinski zu Bernhard. »Wir müssen unsere Schritte beschleunigen, damit wir jenseits den Wald erreichen; dort finden wir wohl Schutz genug, selbst wenn der Tag anbricht.« Die eine ruhige Nacht hatte die Kräfte der Wandernden so gestärkt, daß sie neuen Beschwerden gewachsen waren. Nur die entsetzliche Kälte packte diejenigen, deren Kleidung nicht dicht genug war, mit zu mörderischer Gewalt an, zumal als sie jenseit des Fleckens in freiem Felde eine kleine Anhöhe hinanstiegen. Bald trafen sie die Spuren des Heeres; denn der Fuß stieß im Finstern häufig an Leichen, die, zu Stein erstarrt, mitten im Wege lagen. Mit grausender Brust schritten sie daran vorüber, und niemand wagte dem Nächsten seine Empfindungen zu enthüllen. Doch trug jeder das bange Gefühl der Angst in sich, vielleicht bald selbst erschöpft auf diesen unwirtbaren Boden niederzusinken und in den eisigen Armen des Winters fürchterlich zu erstarren.

Rasinski, der diese Gegend genau kannte, bog von der großen Straße ab, um Smorgoni auf einem nähern und sicherern Wege zu erreichen. Zugleich entzog der Wald sie den Blicken des etwa verfolgenden Feindes. Die Kälte trieb zur möglichst raschen Wanderung an, so daß man, als die dunkelrote Scheibe der Sonne am Horizont emporstieg und ihre ersten Strahlen durch die düstern Gitter der Fichten warf, schon eine bedeutende Strecke zurückgelegt hatte. Bianka trug die Beschwerden mit heldenmütiger Entschlossenheit; man hörte keinen Klagelaut, keinen Seufzer von ihr, wiewohl ihr zarter Körperbau unter solchen Anstrengungen erliegen zu müssen schien. Ja selbst ihr Blick wurde nicht traurig und besorgt, und da sie das Sprechen vermeiden mußte, sah sie doch Bernhard und Ludwig oft mit freundlichen Augen an, als wollte sie sagen: »Bekümmert euch nicht um mich; es geht mir wohl.«

Endlich gebot die Erschöpfung einige Augenblicke der Rast, so gefährlich diese bei der Kälte war; denn sobald der Schlaf den ermüdeten Körper übermannte, stand auch schon der Tod lauernd hinter dem sanftern Bruder, um das Augenlid, das dieser mild herabgesenkt hatte, mit eherner Hand auf ewig zu schließen. Rasinski hieß die Freunde sich auf einen starken Baumstamm, der am Wege lag, niedersetzen; er selbst ging auf und nieder und bewachte die ihm Anvertrauten mit sorgender Treue, damit keinen der Schlummer überfalle. Diesen Dienst leisteten alle einander gegenseitig. So brachten sie zwei Mittagsstunden, meist sitzend und somit ruhend zu. Dann setzten sie den Weg fort und erreichten am späten Abend Smorgoni. Die Stadt war voller Truppen, doch Rasinski traf durch einen glücklichen Zufall den Marschall Ney, der ihm für sich und die Seinigen ein Obdach verschaffte und ihn dann sogleich zu sich berief.

Nach einer Stunde kam er zurück. »Um des Himmels willen, was ist dir?« fragte ihn Bernhard, der ihn noch nie so verstört gesehen hatte. – »Ihr werdet's zeitig genug erfahren,« erwiderte Rasinski, »bis jetzt ist es ein Geheimnis.« Schweigend setzte er sich nieder und stützte das Haupt in die Hand. Alle hielten sich still, niemand wagte ihn mehr zu fragen; sie ehrten seinen stummen Schmerz.

Bernhard beobachtete ihn unvermerkt. Sein dunkles Auge heftete sich an keinen bestimmten Gegenstand; er blickte nur starr vor sich hin und schien die Gegenstände, auf die es traf, nicht zu bemerken. Von Zeit zu Zeit erhob er den Blick gen Himmel, und eine große Träne drang daraus hervor und rann über die Wange herab. Endlich stand er auf. Er schien den Kampf mit seinem Schmerz überstanden zu haben. »Und was ist's denn mehr? – Es mußte so sein! – Er hatte recht!« murmelte er vor sich hin. Dann unterbrach er sich plötzlich und sprach freundlich: »Ach ihr Lieben, hört nicht auf mich – ich bin zerstreut. Es liegt mir etwas schwer im Sinn. Der Schlaf wird alles versöhnen.«

Mit diesen Worten hüllte er sich in den Mantel und legte sich auf den Boden nieder, wo die Leute seines Regiments schon seit einer Stunde fest schliefen. Jaromir lag in einer andern Ecke des Zimmers. Er hatte sich, ohne ein einziges Wort laut werden zu lassen, gleich bei seiner Ankunft niedergelegt. Seine Züge glichen denen eines Toten, so unbeweglich und gleichgültig erschienen sie. Ludwig, Bianka und Bernhard waren allein noch wach. Sie blickten einander wehmütig an, aber keiner wagte es, seine Besorgnisse zu gestehen. Eine öde Beklommenheit preßte ihnen die Brust zusammen; nur ihre unendliche Liebe leuchtete mit sanftem Schimmer in diese finstere Nacht hinein und tröstete das verzagende Herz.

So verstrich abermals eine Nacht, bis die Dämmerung zu neuen Gefahren und Qualen erweckte. Als sie zum Aufbruch gerüstet waren, trat Rasinski unter die Freunde und sprach: »Jetzt kann ich euch entdecken, was mich gestern fast zermalmte. Der Kaiser hat das Heer verlassen!« – – –

Alle blickten ihn fragend mit vor Schrecken erstarrten Zügen an. »Und er tat recht!« fuhr Rasinski fort. »Ich war gestern so erschüttert wie ihr jetzt, denn ich weiß, daß nur das unerschöpfliche Zutrauen zu diesem Riesengeiste das Leben in den Trümmern des Heeres erhielt. Aber es mußte sein. Wir können nichts mehr retten als uns selbst; der Kaiser hat größere Aufgaben zu lösen. Paris ist jetzt das Schlachtfeld, wo er gebieten muß. Hier ist alles verloren; er mußte eilen, dort alles zu retten. Wir bleiben uns selbst überlassen und wollen uns selbst genügen.« – So brachen sie auf.


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