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Zehntes Kapitel.
Ein zweiter Fall der Engel

Hilarius war außer sich. Nach langer, dumpfer Erstarrung versuchte er mit lebhaften Worten und in tiefbewegtem Tone seine Zweifel gegen die Möglichkeit eines solchen Verbrechens der Schwestern vorzubringen. Der Untersuchungsrichter lobte diesen edlen Eifer der Verteidigung und gestand seine eigene Trauer über eine solche Verirrung zweier von Natur mit bezaubernder Vollkommenheit geschaffener Wesen. »Aber«, fügte er hinzu, »was mein Herz spricht und was mein Amt erfordert, ist nicht dasselbe. Es reden zu gravierende Beweise für die Schuld der Unglücklichen, als dass dem Rechte nicht sein voller Lauf gelassen werden müsste!«

»Dann hat die Tugend keine Gestalt mehr, in welcher sie vertrauenerweckend auf Erden wandeln kann – wenn diese Schwestern schuldig sind!«

Mit diesem Ausruf des gepressten Herzens war Hilarius auf sein Zimmer geeilt und suchte nach Trost und Halt für sein erschüttertes Gemüt; allein vergebens.

Unglücklich drückte jetzt die Lust des Klosterhofes auf ihn, er fühlte die Beklemmung eines Erstickenden; seine Mission, das Interesse an dem feierlichen Wiedersehen so vieler Freunde seines Vaters erblasste vor den Augen seines aufgeregten Geistes; er besorgte, von neu Angekommenen und sich Meldenden in dieser Stimmung getroffen zu werden, namentlich erbebte er bei dem Gedanken, dass der Staatsanwalt in dieser bedenklichen Aufregung ihn überraschen könnte.

Welch eine Waffe für diesen oft in bitterem Gegensatz zu ihm stehenden Freund! Unter den Augen des musterhaften Schulmannes, in der eigenen Familie, aus dem eigenen Blute desselben war das Verbrechen in grässlicher Gestalt emporgeschossen! Die Sonne edelster Grundsätze, der segensreiche Familienboden guter Sitte konnten nicht hindern, dass statt der Blume der Tugend das Unkraut des Lasters erwuchs! Und von der Erziehung hatte Hilarius gegen den Staatsanwalt vor einigen Stunden noch das Heil der Welt erwartet! …

Hilarius griff nach seinem Hut und beschloss, allen Begegnungen so lange sich zu entziehen, bis sein Blut sich etwas abgekühlt, seine Fassung wieder gesammelt haben würde. –

Als er von einem längeren Ausfluge durch die wildesten Partien des an den Klosterhof grenzenden Waldes zurückkam, fand er Besuchs- und Meldungskarten vor von dem Justizrate, von dem Freigutsbesitzer Roland, von dem Theaterdirektor ** und von Seiner Exzellenz dem Minister. Auch wurde gemeldet, dass neue Gäste angekommen seien und dass der Staatsanwalt wiederholt und angelegentlich sich nach Hilarius erkundigt habe.

Sollte der Untersuchungsrichter dem Freunde ebenfalls vertrauliche Eröffnungen über den Verdacht gegen die schönen Schwestern gemacht haben?

Hilarius suchte sich nach Möglichketi zu fassen; wenigstens wollte er sich nicht so leichter Mühe von seinem Standpunkt verdrängen und in die Kategorie jener Wankelmütigen werden lassen, welche über jedem bedenklichen Einzelfalle ihre Gesamtauffassung verlieren und fort und fort der widerwärtige Spielball entgegengesetzter Gesinnungen werden.

Während dieses Rüstens und Sammelns wurde geklopft, und der Staatsanwalt trat ein.


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