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Fünfzehntes Kapitel.
Der alte Freundeszwist – Einer der Auserwählten

Hilarius traute seinen Augen kaum.

»Wie?« rief er aus. »Du hast die Gerichtsverhandlung verlassen und bringst die Zeugin zurück, deren Aussagen vor einer Stunde noch so wichtig schienen?«

»Die Verhandlung ist vertagt«, sagte der Staatsanwalt. »Ich wollt die Zwischenzeit benützen, die Du mir so angelegentlich empfohlen hast.«

Hilarius was aufgestanden, reichte dem Freunde die Hand und sagte dann zur Frau vom Lande:

»Ist das nicht der wackere Freund, dem ich Euch empfohlen habe? Ihr könnt also, wenn man Euch wieder vorladet, ruhig erscheinen. – Wann dürfte die Zeugin wieder nötig sein?« fragte er, zu dem Staatsanwalt gewendet.

»Vielleicht gar nicht mehr«, erwiderte der Gefragte.

»Dann geht nur gleich, liebe Gute, und meldet es der Ahnfrau, sie wird erfreut sein, Euch wieder zu sehen.«

Die arme Frau ging. Ein Blick der Freude und des Dankes lohnte Hilarius für sein Wohlwollen und seine Teilnahme.

»Sage mir nur«, begann Hilarius, als er den Freund nochmals begrüßt und sich neben ihn auf dem großen, altväterischen Sofa niedergelassen hatte, »was ist vorgefallen, dass ihr in der letzten Stunde, kurz vor dem Urteilsspruch, die Verhandlung unterbrecht und sozusagen auf Urlaub geht?«

Der Staatsanwalt erwiderte, dass der Angeklagte, nachdem er bis vor wenigen Stunden hartnäckig geleugnet, mit verwegener Festigkeit und überraschender Sicherheit sich verteidigt hatte, während der letzten Sitzung in jähes Nachdenken versunken sei, in welchem er oft die Fragen des Präsidenten überhörte. Plötzlich habe er sich erhoben und um das Wort gebeten. Der Präsident habe ihn auf die Ordnung verwiesen, bloß zu antworten, wenn er gefragt werde; er aber wiederholte mit jähzornigem Eigensinn, der in seinem Leben eine große Rolle gespielt zu haben schien, sein Ansuchen, und auf Verwendung des Verteidigers sei ihm das Wort gegeben worden. Straff dastehend, mit düsterem, fast schwärmerisch-glühendem Blick habe er nur gesagt: »Ich bitt die Sitzung zu unterbrechen und mir den Staatsanwalt und Verteidiger in die Zelle zu senden, ich will Geständnisse machen!« Dies sei zugestanden worden. Zu der Zelle sei der Angeklagte einige Male auf und ab gegangen, dann am Gitterfenster stehen geblieben und habe das zuckende Auge auf das kleine Stück blauen Himmels gerichtet, das durch die schmale Öffnung hereinsah; den Begleitern nur halb zugewendet, habe er nun wie in Gedanken, aber rasch und mit unverkennbarer Bewegung gesagt: »In drei Tagen sind es fünfundzwanzig Jahre, dass eine Anzahl Freunde, darunter auch ich, sich feierlich gelobt haben, im Klosterhof bei Thalbrücken zum Wiedersehen sich einzufinden. Ich lege Wert darauf, in diesem Falle mein Wort zu halten. Man gestatte mir, bevor das Urteil gefällt ist, im Kreise ehemaliger Freunde zu erscheinen, ich werde diese bewegen, solange ich dort verweile und Rechenschaft über mein Leben ablege, auch den Staatsanwalt und Verteidiger nebst Zeugen gegenwärtig sein zu lassen; dort soll alles offenbar werden!« Von dieser Äußerung wurde der Gerichtshof verständigt, und er beschloss nach längerem Für und Wider, die Schlussverhandlung für einige Tage zu unterbrechen.

Hilarius saß nach dieser Mitteilung stumm da. Eine dunkle Röte der Verlegenheit überzog seine Wangen. Endlich – als verletze er ein weihevolles Geheimnis – gestand er dem Freunde den Zweck jener bevorstehenden Zusammenkunft, um derentwillen er selbst nach dem Klosterhof gekommen sei. Eine unverkennbare Wehmut lag in dem Tone seiner Worte, als er schließlich bemerkte:

»Also wird auch ein Verlorener in der Versammlung erscheinen und durch seien Lebensgeschichte einen tiefen Schatten auf den Tag der Erinnerung werfen! Ich habe lauter erhebende Schicksale erwartet.«

»Es ist wirklich eine schöne, interessante Idee, welche so viele einst begeisterte junge Freunde im männlichsten Alter hier zusammenführt«, sagte der Staatsanwalt. »Ohne Zweifel wird mancher ehrenwerte Charakter, gleich Deinem Vater, aus der Schar der Gelobenden hervorgegangen sein, allein auch mancher gebrochene, verlorene. Du wirst Dich eben gewöhnen müssen, Welt und Menschen zu nehmen, wie sie sind. – Im Ganzen steht es nicht übel um unser Geschlecht. Viel Ausgezeichnetes geschieht, in allem Vortrefflichen ragen einzelne hervor, vielen sind sie ein anregendes Vorbild zu gleichem Streben, vielen ein stärkender Anblick, der sie auf der Linie leidlicher Würde erhält. Die Masse wogt zwischen schlecht und recht dahin. In Momenten, wo diese von edlen Geistern für bessere Ideen gewonnen und fortgerissen wird, erhebt sie sich zu wunderbarer Größe, sinkt aber ebenso in bedenklichen Perioden in eine Tiefe, die den Menschenfreund verzweifeln machen müsste, hätte er nicht den Überblick, den Geschichte und Erfahrung bietet, dass aus den grellen Schwankungen wieder ein Gleichgewicht hervorgeht, das im Ganzen befriedigt. Gedenke der Revolutionen, der Religions- und Bürgerkriege sowie der Friedenszeiten, welche ihnen, freilich oft zu spät, nachfolgen. Der einzelne gleicht dem Ganzen. Wunderbarer Aufschwung und tiefer Fall, Vorzüge und Schwächen in stetem Kampfe, treffliche Klärung und Festigung nach langem Kampfe oder auch rettungsloser Untergang. Ich vertraue erst jenen, welche mit Wunden bedeckt des Sieges sich freuen. Der Unschuld rosiges Gesicht mit schön umlockter Stirne ist mein anziehendster Anblick nicht; das narbenbedeckte Kriegergesicht der Tugend ist mir lieber. Es gibt keinen guten Menschen, der nicht gekämpft hat und einige Male unterlegen ist. Der Wert des Menschen soll nach den Narben des Gemütes geschätzt werden. Wer aus einer Niederlage sich empor gerungen, ist gegen jeden Rückfall gesichert; jeder Schuldlose, den ein gütiges Geschick ängstlich außerhalb der Gefechtslinie hält, bleibt mir nur immer ein Verbrecher in spe!«

»Deine Liebhaberei, ins Trübe zu malen!« sagte Hilarius, seine Fassung wieder gewinnend. »Du vergissest, dass in sittlichen Dingen der Sieg über die Versuchung auch ein Sieg ist, erhabener als das Wiederaufraffen des Gefallenen aus der Tiefe. Ein Feldherr, der nie geschlagen wurde, der durch Märsche und Stellungen den Feind ohne Kampf zum Waffenstrecken zwingt, ist größer als der oft geschlagene, dem endlich einmal ein Sieg gelingt. Ich gebe Deinen Satz nur zu, wenn er heißt: wer nie fehlt, nur weil er nie versucht wird, ist kein Tugendhafter. Aber Dein Tugendhafter erinnert zu sehr an eine Betschwester, die früher der Halbwelt angehört hat. Da lob' ich mir die nie gefallene Schönheit, die nur deshalb nicht gefallen ist, weil sie stärker war als die stärkste Versuchung … Nein, nein, verehrter Freund; lass Du mir meine reineren Ansichten über Welt und Menschen, ich befinde mich wohl dabei und glaube der Wahrheit näher zu stehen.«

»Der Glaube macht selig«, warf der Staatsanwalt hin; es lag ein Zug der Ironie auf seiner Stirne, den aber Hilarius nicht gewahrte, indem er, voll von lebendig gewordenen Gedanken, fortfuhr:

»Gute Erziehung und Bildung werden in zwei Menschenaltern Wunder getan haben. Bist du auf dem Wege nach Sonndorf nicht bei Hohlhausen vorüber gekommen, wo durch großartige Flussregulierung verheerende Überschwemmung verhütet, weite Landstrecken fruchtbar gemacht wurden und zugleich die Gegend an Reiz gewonnen hat? Was diese Regulierung für die Gegend, ist die Erziehung für ganze Geschlechter!«

»Was ich Dir nur teilweise zugeben kann«, erwiderte der Staatsanwalt. »Es ist wahr, das Erziehung und Bildung vieles Übel hintanhalten können, aber die Natur des Menschen von Grund aus zu verändern, sind sie nicht im Stande. Du wirst ja Gelegenheit haben«, fuhr er fort, »binnen wenigen Stunden Dich zu überzeugen, was aus all' den edlen begeisterten Jünglingen, die nach fünfundzwanzig Jahren hier zusammentreffen geworden ist. Und sie haben die beste Erziehung ihrer Zeit genossen! Der Verbrecher in Sonndorf …«

»Führe mir den einen Verlorenen nicht gegen die Übrigen ins Gefecht!« rief Hilarius mit glühenden Wangen. »Du ersparst Dir ein Geständnis der Täuschung. Denn ist dieser eine wirklich verloren – was erst festzustellen ist – so wird die Versammlung doch, dessen bin ich gewiss, den Verein edelster Männer darstellen, den unsere Zeit aufzuweisen hat!«

Hier wurde Hilarius durch den Eintritt Murmelmayers unterbrochen, welcher mit jovialer Leichtigkeit hereinschwebte und beide Freunde zutraulich grüßte.

Er kam Hilarius nicht gelegen, der noch manches für den Freund auf dem Herzen hatte; doch bezwang er sich und empfing den Kauz mit Artigkeit.

»Bleiben Sie über Nacht, oder werden Sie Ihren Aufenthalt noch weiter verlängern?« fragte Hilariaus nach einer Pause.

»Über Nacht und länger«, erwiderte Murmelmayer, den Freunden gegenüber Platz nehmend und sich vergnügt die Hände reibend. »Seit ich dem Herrn Staatsanwalt mit dem Ringe, wie er sagt, ein so wichtiges Beweisstück überliefert, gehöre ich sozusagen zum Prozess und will das Ende mit deutschester Geduld abwarten!«

»Das ist sehr schön«, entgegnete der Staatsanwalt, »und mich freut es, Ihnen als Freund von Altertümern eine Gegengefälligkeit erweisen zu können, die Sie interessieren wird. Ich habe ein altes Manuskript«, fuhr er, zu Hilarius gewendet, fort. »Es enthält die Ordensregeln der Mönche, welche einst im Klosterhofe hier gewaltet haben. Der alte Justitiar in Sonndorf, der ein Sammler ist, hat es mir leihweise mitgegeben zur Belehrung und Unterhaltung während meines hiesigen Aufenthaltes. Ich habe es unterwegs durchgelesen und nichts weniger als Erbauung darin gefunden.«

»Erbauung oder nicht!« rief Murmelmayer mit freundlichen Gesicht. »Wo ist das Manuskript? Das Altertum desselben allein bietet Behagen genug!«

»Ich werde Ihnen das Manuskript holen«, erwiderte der Staatsanwalt lächelnd und stand auf. »Ich bitte es aber auch meinem Freunde nicht vorzuenthalten; denn es enthält – und dabei sah er Hilarius bedeutungsvoll an – eine merkwürdige Illustration zu unserer Unterredung über die Umwandlung des Menschen durch die Erziehung. Die Ordensregeln sind vom Tage des Eintritts bis zum Sterbetage eine Kette der ausgesuchtesten Gewalttätigkeit gegen die menschliche Natur; die Regungen des Fleisches, des Herzens, der freien Willens werden mit wütender Rücksichtslosigkeit bekämpft, zu Tode gemartert – und siehe da, statt völlig willenlosen Werkzeugen und stummen, harmlosen Schäflein beherbergten diese Mauern, wie die Chronik erzählt, fort und fort die ungebärdigsten Naturen, einer der Mönche, bis zu seinem sechsundzwanzigsten Jahre scheinbar das Muster stillen Duldsinnes und reinster Frömmigkeit, ist ein Jahr später den Klostermauern entsprungen und spielt heute noch in den Mustersammlungen von Verbrechern für Untersuchungsrichter und Staatsanwälte einer der merkwürdigsten und lehrreichsten Beispiele von Verruchtheit und erschreckender – man ist versucht zu sagen – genialer Verworfenheit!«


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