Autorenseite

 << zurück weiter >> 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

Vierzehntes Kapitel.
Regina – der schöne Postillon

Hilarius hatte dem Lucian einige Aufträge gegeben und stand noch unter dem Torbogen, als ein Bote von der nächsten Telegraphenstation kam und ein Telegramm überbrachte.

Es kam von Hilarius' Vater, war sorgfältig abgefasst und legte dem Sohne mit unverkennbarer Dringlichkeit ans Herz, nach einer angeblich in der Gegend lebenden armen Frau, Namens Regina Linbach, sich angelegentlich zu erkundigen und im Falle ihrer Auffindung ihr in jeder Weise hilfreich zu sein.

Hilarius, der seinen Vater über alles verehrte, schätzte sich glücklich, sofort mitteilen zu können, dass die gesuchte arme Frau bereits gefunden sei, da er keinen Augenblick im Zweifel war, die Betreffende, die ebenfalls Regina Linach hieß, soeben nach Sonndorf befördert zu haben. Sogleich setzte er sich hin, um zu berichten, was er über die arme Frau wusste.

Nachdem er seines Zusammentreffens mit derselben und seiner Hilfeleistung am Kleewägelchen erwähnt, fügte er ausführlicher hinzu, was er über das Jugendleben Reginas durch die »Ahnfrau« des Klosterhofes erfahren hatte, und schloss mit der Erzählung eines Herzensabenteuers, welches für alle Zukunft der Armen entscheidend war.

»Noch jetzt«, lautete dieser Teil des Briefes, »zeigt das Angesicht der von Unglück Gebeugten Spuren jener außerordentlichen Schönheit, welche nach den Aussagen ihrer Jugendgenossen bewundert wurde. Sie war die Tochter eines Postmeisters im Gebirge und versah in frischer, fröhlicher Weise den Dienst eines Postillons, indem sie täglich Briefe und Pakete auf einem Wägelchen in die Stadt und zurück brachte.

Bei einem Ausflug ins Gebirge traf eines Tages der Sohn einer angesehenen Familie die in ihrer schönsten Blüte prangende Regina, wie sie, den Steierhut auf dem Kopfe, mit der Peitsche knallend und ein Liedlein trällernd, aus der Stadt nach Hause fuhr.

Der Wanderer, angezogen von der strammen, munteren Wagenlenkerin, benützte eine hügelan führende Wegstrecke, um sich zu nähern, neben dem Wägelchen herzugehen und nach artigem Gruß ein Gespräch anzuknüpfen, was ohne Umstände wohl gelang. Der flotte Postillon blieb keine Antwort schuldig und ließ es endlich lachend geschehen, dass der Begleiter mit raschem Schwung auf ein Vorderrad den Kutschenbock erstieg und, so knapp dieser war, neben ihr Platz nahm.

Die sacht aufsteigende Strecke dauerte ziemlich lange, und das sich wohlbehagende Paar fand Muße, unter wachsender Teilnahme sich kennen zu lernen und recht gut Freund zu werden. Daher trennte man sich auch nicht, als die Straße jenseits wieder talwärts ging, ja man vergaß auf das Abschiednehmen endlich so sehr, dass der lustige Postillon mit dem blinden Passagier kurz und gut am Posthause vorfuhr und dem verwunderten alten Vater zurief: ›Da bring' ich wen, ich werd' ihn nicht mehr los, macht mit ihm, was Ihr wollt!‹ Der Fremde stieg ab und reichte dem Postmeister freundlich die Hand, indem er sagte: ›Ja, macht mit mir, was Ihr wollt, haltet mich vierundzwanzig Stunden – auch länger gefangen in Eurem Haus, bei Wasser und Brot – aber bei Eurem Töchterlein!‹ Der Postmeister erwiderte: ›Es ist meines Amts, Gäste zu beherbergen; wenn es dem Herrn gefällt, mein Haus steht offen!‹

Der Fremde quartierte sich ein, blieb über Nacht und noch einen Tag; kam nach einem Ausflug ins Gebirge abermals in das Posthaus zurück, um daselbst den Rest seines Urlaubs zuzubringen.

Diese wenigen Tage reichten hin, den bejahrten Postmeister ganz einzunehmen und im Herzen des schönen Postillons sich für immer siegreich festzusetzen.

Der Fremde, der sich Alphons nannte und aus seiner Familie kein Geheimnis machte, schied als offener Bewerber um die Hand Reginens und versprach, sich baldigst wieder einzufinden mit der Einwilligung der Eltern. Es lief auch in den nächsten Tagen schon als ermunternder Vorbote ein Schreiben ein, welches meldete, dass die Mutter bereits gewonnen und mit deren Hilfe der Widerstand des Vaters bald beseitigt sei. Ein zweiter Brief bestätigte diese Erwartung, und es war nur noch eine Schwierigkeit zu beheben, welche darin bestand, dass Alphonsens Vater dem befreundeten Landespräsidenten, einer für die Familie sehr wichtigen Persönlichkeit, einmal die Zusicherung gegeben hatte, eine Verbindung seines Sohnes mit dessen Tochter zu begünstigen. Alphons suchte die Geliebte durch die Mitteilung zu beruhigen, dass die Tochter des Präsidenten eine heftige Neigung für einen jungen Offizier hege und jedenfalls bereit sein werde, zur Lösung des Wortes, das sich die Väter gegeben, erfolgreich mitzuwirken. Statt eines dritten Briefes erschien Alphons persönlich im Posthause und wurde von Vater und Tochter auf das Wärmste begrüßt.

Er hatte drei Tage Urlaub, die er auf das Beste ausnützte. Da der Postmeister in Folge seines Gichtleidens das Bett hüten musste, besorgte Alphons die Postgeschäfte, Regina Hauswesen und Küche, und ein alter Postknecht musste die Fahrten nach der Stadt ausführen. Was die Liebenden an Zeit erübrigten, wurde der Pflege des Kranken, reichlich aber auch im Garten, in Wald und Flur den Schäferstunden voll berauschender Wonne gewidmet. Am Tage der Trennung schied man in gehobener Stimmung, der alte Postmeister vertrauensvoll, Regina mächtig durchzuckt von Hoffnungsschauern, Alphons in voller Zuversicht auf die nahe, glückliche Entscheidung.

Es war der Höhepunkt dreier Leben, neben welchem ein Abgrund gähnte.

Das Fußleiden des Postmeisters verschlimmerte sich; Regina erkannte mit Schrecken, dass die berauschenden Stunden des Glücks unabweisliche Folgen nach sich ziehen werden, und – von Alphons ließen die Nachrichten länger auf sich warten, als versprochen worden war. Als endlich der erste Brief ankam, lautete er auch nicht trostvoll genug, um die aufsteigenden Sorgen zu beseitigen. Der Vater Alphonsens war rückfällig geworden, seine Abhängigkeit vom Landespräsidenten, die Furcht vor dessen jäher, rachsüchtiger Natur, ganz besonders aber die am wenigsten erwartete Sinnesänderung der Tochter des Präsidenten, welche, nachdem sie von Seite ihres Offiziers eine Untreue erfahren, mit auffallender Lebhaftigkeit dem väterlicherseits auserkorenen Alphons sich zuneigte, hatten die Lage der Liebenden bedenklich verändert, und wenn Alphons am Schlusse des Briefes hoch und teuer schwur, sich der Gewalt der Umstände nicht fügen zu wollen und äußersten Falles, seine Großjährigkeit benützend, Regina ohne väterlichen Segen heimzuführen, so war dies für den alten Postmeister, dessen Zustand sich rasch verschlimmerte, nur ein schwacher Trost und für Regina eine Quelle heftig aufsteigender Sorgen.

Um den Geliebten nicht vor der Zeit zu einem entscheidenden Schritte zu drängen, schrieb Regina nichts über ihren Zustand, sondern behielt sich das schwere Geständnis vor bis zu seinemnächsten Besuche, den sie binnen kurzer Zeit – freilich vergebens – erwartete. Eines Tages, als der Zustand des Postmeisters sich rettungslos verschlimmerte – die Gicht hatte sich von den Beinen rasch über den ganzen Körper verbreitet und den Kopf mit besonderer Heftigkeit ergriffen – kam statt des erwarteten Geliebten ein Brief, welcher allen Hoffnungen ein jähes Ende bereitete. Alphons schrieb, dass alles verloren sei. Er hatte erst jetzt erfahren, dass von seiner Heirat mit der Tochter des Landespräsidenten die Ehre und das Wohl seiner ganzen Familie abhänge, dass er den überwältigenden Umständen weichen müsse und sich verpflichtet halte, der Geliebten lieber jetzt als später alles, wenn auch mit dem größten Schmerz, zu gestehen.

Regina wand sich in Verzweiflung und zerfloss in Tränen; ach, diese Tränen flossen zugleich dem Vater, der, ohne das verborgene Unglück der Tochter zu kennen, durch jähen Tod ihr entrissen wurde.

Binnen wenigen Tagen war also der Vater dahingegangen, der Geliebte verloren, das fernere Obdach in Frage gestellt. Denn die Post wurde sofort einem Nachfolger verliehen, der geringe Grund- und Gartenbesitz fiel den Gläubigern anheim, und Regina musste mit weniger habe eine Unterkunft suchen. Schmerz- und sorgendurchwühlt, wanderte sie eines Tages fort und barg in einem Kämmerlein, das ihr eine stille Beschützerin, die damals noch rüstige ›Ahnfrau‹ des Klosterhofes, vorläufig zuwies, ihr trostloses Dasein.

Gerade in dieser Lage zeigte sich ihre Kraft und Liebe in ihrer vollen Größe.

Sie wies die Anträge mehrerer Bewerber – darunter eines jungen Mannes aus reicher Stadtfamilie – energisch zurück; dem Geliebte aber schrieb sie, dass sie ihn seines Wortes entbinde, da sie seinem ›Glücke‹ nicht im Wege stehen wolle. Von den Folgen ihrer Liebe schwieg sie auch jetzt noch, um wenigstens sein Herz zu schonen, während das Ihrige daran war, zu brechen.

Drei Jahre waren vorüber, ein Knäblein hatte das Licht der Welt erblickt, wurde Sever getauft und wuchs und gedieh zur hellen Freude der Mutter. Das Kind war das Ebenbild des verschollenen Vaters und für das unveränderlich treue Herz der Mutter ein lebendes, unschätzbares Andenken, in dem sie Trost suchte in dem stiller gewordenen, aber fortdauernden Weh der Verlassenheit.

Aber auch jetzt war die Heimsuchung der Armen noch nicht erschöpft … Eines Tages, während das Knäblein in der Nähe des Hauses, in welchem Regina beschäftigt war, am Rain eines Kornfeldes schlief, wurde es von unbekannter Hand ergriffen, fortgeführt und war und blieb verschwunden … Ein Brief, der nach einigen Tagen ankam, meldete mit kaum leserlicher Handschrift, dass der Knabe ›bei seinem Vater‹ untergebracht und versorgt sei und fügte hinzu, dass alle Nachforschungen vergeblich und um des Söhnleins willen nicht ratsam seien. Dem Briefe lag eine Summe Geldes bei, groß genug, um die trostlose Regina vor Not zu schützen. Wie vor einer zwischen den Blättern des Briefes lauernden Schlange fuhr die Unglückliche vor dem Gelde zurück und war nicht zu bewegen, es nur anzurühren, viel weniger anzunehmen.

Nur der ruhigen, kräftigen Zurede der Freundin im Klosterhofe gelang es, begreiflich zu machen, dass das Geld dem Sender nicht zurückgegeben werden könne, da er nicht bekannt sei. Auf die heftige Bemerkung Reginas: ›So solle es den Armen gehören!‹ erwiderte die ›Ahnfrau‹: ›Du bist die Ärmste! So lass mich für Dich sorgen!‹ Sie kaufte das Häuschen mit einigem Acker- und Gartengrund in der Nähe von Hallbach, und Regina ließ sich endlich bewegen, daselbst zu wohnen und unter kräftig-liebevoller Leitung der Klosterhoffreundin ihr kummervolles Leben fortzuführen …«

Hilarius schloss den Bericht mit der Mitteilung über das heutige Erlebnis der Armen, die als Zeugin nach Sonndorf berufen war, und fügte hinzu, dass er ihr sofort folgen werde, um die von Leiden so hart Mitgenommene vor Unbilden zu bewahren und ihr mit Rat und Tat an die Hand zu gehen.

Eben wollte er noch seine früheren Berichte über den Stand seiner Jubiläumsmission ergänzen, als er durch einen Besuch aufs Höchste überrascht wurde; denn der Staatsanwalt, von Sonndorf kommend, trat herein und führte die arme Frau vom Lande an der Hand mit sich.


 << zurück weiter >>