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Seit einem Tage rollte der Karren langsam auf der Straße nach Czernowitz. Angehalten hatte man nur in einer armseligen jüdischen Schenke, um Wagen und Insassen in einer Scheune zu bergen. Schwere Regentropfen fielen mit einförmig schluchzendem Geräusch, und heftige Windstöße peitschten die hohen Pappeln. Der Mann, der kutschierte, drehte sich um und sagte leise zu der jungen Frau, die hinter ihm kauerte und ein kleines in ein Bettstück gewickeltes Kind auf dem Arm hielt: »Höre, Tatiana, ich habe mir das überlegt: statt zu meiner Mutter werden wir zum Spielmann fahren ... ein wenig früher, ein wenig später muß sie doch hin ... da denke ich, tun wir es lieber gleich ... und darum habe ich Lukasz zu Pferd vorausgeschickt, damit er sie vorbereite.«
»Ja, Spiridon, das ist das Beste. Sie ist so schwach. Wollte Gott, daß wir sie lebend hinbringen.«
Und die junge Frau beugt sich über die Gestalt, die aus dem Boden des Wagens ruht. Leicht lüftet sie einen Zipfel des Tuches: »Malva, Seelchen, willst du trinken?«
Zwei große, verstörte Augen scheinen aus einem bösen Traum aufzuwachen, und eine Stimme flüstert: »Janek!«
»Beruhige dich, der kleine Jan braucht nichts. Du aber, Liebchen, mußt Kräfte sammeln für ihn, für den kleinen Engel.«
Die junge Frau antwortet mit einem jammervoll traurigen Ausdruck auf ihrem wachsbleichen Gesicht, und zwei Tränen rollen ihr über die von Fieber verzehrten Wangen.
Da hält Tatiana eine Flasche an ihre weißen Lippen.
»Danke, danke! Wie gut ihr beide seid!« Und sie schließt die Augen wieder.
War das wirklich Malva? War der arme, kleine Körper dieser Märtyrerin wirklich einmal das fröhliche Kind, die sorglose, hübsche Musikerin gewesen, die überall auf ihrem Weg Freude verbreitete und deren kindliche Koketterie die strengen Rudowitzschen Damen so empörte? Ach, wenn sie gefehlt hatte, so hatte das Leben ihr eine unbarmherzige Strafe auserlegt. In ihren fiebergroßen Augen las man das Entsetzen über das, was sie durchlebt hatte, die schreckliche Erinnerung an die langen Monate harter Kälte, die sie mit der Kapelle umhergezogen, seitdem sie von allen, selbst von dem unbekannten Vater verstoßen, der ihr seine Existenz nur durch ein hartes Nein kundgetan, sich in den Schutz des braven Walachen gestellt hatte.
Den ganzen Winter hatte sie mit der Truppe Galizien durchwandert, in elenden Schenken geschlafen, das Los der Gefährten geteilt, die der Zufall ihr gegeben. Sie durchlebte von neuem die angstvollen Abende, an denen sie das goldbesetzte Gewand anlegen und lächelnd vor dem Publikum erscheinen, bald im Orchester unter den andern, bald alleinstehend spielen mußte. Da hieß es improvisieren um jeden Preis und ihrer Violine, die früher so fröhlich geklungen, Melodieen entlocken, die sie mit ihrem Herzblut und bitteren Tränen bezahlte. Das Publikum bewunderte ihren tragischen Schwung, rief: »Da capo, da capo!« und ahnte nicht, daß es sich an der Todesqual eines Menschenherzens ergötzte!
Eines Tages war zu all diesen Martern eine neue gekommen. Die Unglückliche war nun sicher, daß sie Mutter werden werde. Doch statt der Freude, die sonst bei diesem Gedanken das Herz der jungen Frauen erfüllt, hatte sie etwas wie den eiskalten Hauch eines Todesurteils verspürt. Großer Gott, was sollte aus diesem kleinen, schon vor seiner Geburt von allen verstoßenen Wesen werden! Ihre einzigen Freunde auf der Welt waren der arme Spiridon, seine junge Frau, die er letzte Weihnachten geheiratet, und ihre rauhen Wandergenossinnen. Die bedauerten sie von Herzen: »Armes Frauchen,« sagten sie leise, »so jung und schon von ihrem Mann verlassen ... was für Canaillen sind doch die Männer!« – In ihrem Elend waren diese bitteren Worte Malva doch noch ein Trost, ein Balsam: hielten ihre Kameradinnen sie nicht für verheiratet? Ach, wenn sie es doch wirklich gewesen wäre! Hätte Jan sie dann verlassen? Und sie selbst, hätte sie, auf ihrem Recht fußend, sich nicht energischer verteidigt? Hätte sie ihm nicht jetzt noch geschrieben, ihn zu Hilfe gerufen? »Jan, komm zu deiner kleinen Malva! Jan, uns ist ein Sohn geboren! Willst du das Kind unsrer Liebe und Zärtlichkeit von deinem Herzen verstoßen?«
In den fürchterlichen Nächten dieses grausamen Winters hatte sie oft geträumt, er drücke sie freudig ans Herz, eile mit ihr in eine Kirche ... der Priester wartete, die Papiere waren bereit ... Aber wenn sie sich dem Altar nahten, stand an der Stelle des Priesters ein kleiner Sarg.
Heute begriff sie, daß man sein Glück nicht auf einer Lüge aufbauen kann. Manchmal, wenn sie eine der Brücken des von der Schneeschmelze angeschwollenen Dnjestr überschritt, kam ihr plötzlich der quälende, verfolgende Gedanke an den Tod, und sie mußte den Kopf wegwenden.
Eines Tages in der Karwoche hielt sie es nicht mehr aus; sie war in die einfache Kirche des Städtchens geeilt, wo die Truppe sich gerade aufhielt, und in dem Beichtstuhl aus Granit, wo der Priester saß, war sie hingesunken, dort, wo Jahrhunderte kniebeugender Generationen den Stein abgewetzt hatten: »Mein Vater, ich habe gesündigt ...« Und endlich hatte sie, alle Scham, allen Stolz beiseite werfend, ihr Herz in Gottes Schoß ausgeschüttet. Geneigten Hauptes, die Seele von Dankbarkeit geschwellt, hatte sie dann die Worte der Verzeihung und des Friedens getrunken, die der Priester geflüstert, und etwas wie ein Hoffnungsschimmer hatte leuchtend ihre Stirn umgeben. Ja, Gottes Barmherzigkeit war unendlich. Ja, sie wollte fürder für das unschuldige Kind leben, das nur sie auf der Welt hatte, es in der Furcht Gottes und in Ehren aufziehen.
So hatte Malva sich bis zu dem verhängnisvollen Nachmittag aufrecht erhalten, an dem sie in dem fremden Schlosse, hinter den andern auf der Estrade sitzend, plötzlich Jan erblickt hatte. Welch eine Erschütterung für sie ... innige Freude und Schrecken ... Zweifel. Was würde geschehen? Er hatte sich jetzt hingesetzt, und verstohlen musterte sie seine ernsten Züge, auf denen man eine unendliche Traurigkeit lesen konnte. War's möglich? War sie am Ende die Ursache dieses Schmerzes? Er hatte sie nicht vergessen? Bei dem Gedanken fühlte sie sich einer Ohnmacht nahe, und zugleich ergriff eine tolle Freude ihr Herz. Manchmal, hatte der Priester gesagt, gestattet Gott, daß ein Wunder geschieht. Jetzt, da Spiridons Heirat mit einer andern so deutlich bewies, wie grundlos Jans Eifersucht gewesen, würde er alles verstehen, begreifen, seine Ungerechtigkeit einsehen, zu ihr eilen, fliegen. O, wie stürmisch würde sie sich ihm an die Brust werfen und ihm ihr vergangenes Leid klagen.
Spiridon hatte die Estrade betreten, hatte die ersten Noten seines Liedes hinausgeschmettert, da war Jan plötzlich mit zornfunkelndem Auge aufgestanden. Einen Augenblick hatte sie geglaubt, er werde sich auf den Walachen stürzen, da hatte eine Hand sich auf seinen Arm gelegt; diese Hand gehörte Helene von Rudowitz. Ihre Gesichter berührten sich fast, ihre Augen durchsuchten die Estrade, auf der Malva sich jetzt zu verstecken suchte, entsetzt über den Triumph in den Blicken der Frau, der Verachtung in denen des Mannes.
Da hatte sich alles vor ihr gedreht, Saal, Menschen, Lichter – und sie war umgefallen.
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