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Dreißigstes Kapitel.
Helene.

In großer Eile rollte Jan auf der Straße nach Orla hin, um einem geheimnisvollen Ruf der Tante Aniela zu folgen.

Er hatte sich dem Zauber der Oberstin nicht zu entziehen vermocht. Er liebte ihre hübschen Manieren von Anno dazumal, ihren heiteren Optimismus, ihr jugendliches Feuer, die etwas altfränkische Einrichtung ihres mit Nippsachen und alten Erinnerungen vollgestopften Salons.

»Ich mag die Jugend gern,« pflegte die liebenswürdige Frau zu sagen, »und sie erwidert dieses Gefühl, da sie merkt, daß ich mit ihr nicht nur lachen, sondern auch weinen kann.«

Was konnte sie heute von ihm wollen? In dem lieben, aber ein bißchen verworrenen Briefchen, das sie hastig hingeworfen hatte, sprach sie von ihrem Wunsch, ihn glücklich zu sehen.

Glücklich! Wie könnte er das jemals wieder sein? Jeden Morgen erwachte er mit einem Gefühl tiefer Bekümmernis. Wie leer war das Haus, in dem die Stimme echogleich widerhallte! Wie kahl sahen ihn die großen Räume an, in denen die wenigen, vom letzten Bewohner hinterlassenen Möbel miteinander Haschen zu spielen schienen. Und wie viel bitterer ward das alles noch durch den Vergleich mit dem warmen, hübschen Nest in »Grüntann«, mit seinen Blumen, seiner Musik! Ach, er hatte kaum vier Monate volles Glück genossen, dann war der Ruin wie ein Donnerschlag hereingebrochen. Jetzt tat er gewissenhaft seine Pflicht, um die Ehre seines Namens zu retten; aber das Leben hatte seinen Reiz verloren. Die Fee, die sein Dasein mit ihrer sonnigen Anmut verklärt hatte, war verschwunden, und alles schien ihm eintönig, langweilig grau. Keiner der Versuche, Malva wiederzufinden, hatte Erfolg gehabt. War sie wirklich mit dem Sänger davon? Es schien so, und oft ertappte Jan sich bei dem Wunsch, lieber hierüber brutale Gewißheit zu haben, als sich weiter in quälender Unsicherheit zu verzehren.

Der November mit dem Totenfest war herangekommen. Ein leichter Hagelschauer knisterte auf die welken Blätter nieder, die gelb und goldig den Boden bedeckten. Eine melancholische Poesie, die von dem traurigen Läuten der Glocken in Töne gefaßt zu werden schien, lag in der Luft.

Schwermütig ließ Jan sein Rößlein traben. Er dachte an die einzige Belohnung seiner Mühen: die Erfolge bei den Bauern. In der Verwirklichung jedes, auch des kleinsten Fortschritts liegt eine gesunde, fast heilige Freude. Und die offenkundige Genugtuung, die sein Onkel darüber empfand, vermehrte sie noch. Denn Herr Anastasius verbarg ein großes Zartgefühl hinter seinen kalten Manieren. Gewiß, die Ideen der beiden Männer waren noch sehr verschieden, aber Jan hegte jetzt eine tiefe Dankbarkeit für seinen Onkel und erkannte, daß er ihn falsch beurteilt hatte.

Als der junge Mann an die Wegkreuzung im Walde kam, prallte ein feuriges Gespann mit einem Wagen, worin drei Damen und ein Diener saßen, so heftig auf seine bescheidene Britschka, daß sie beinahe umgeworfen worden wäre.

»Platz!« rief eine klingende Stimme, und zur gleichen Zeit sauste ein Peitschenhieb über den Rücken von Jans Pferd. Wie der Blitz sah er das hochmütige Gesicht Helenes von Rudowitz im Kranz ihrer goldenen Haare an sich vorüberfliegen.

»Helene, was fällt dir ein?« rief eine Stimme im Wagen.

Zorn hatte Jans Antlitz gerötet. Also nicht daran genug, daß diese Leute ihn ruiniert hatten, sie wollten ihn auch noch in den Graben stoßen? Mit bewölkter Stirn schlug er den Weg nach Orla ein.

Als er eine halbe Stunde später in den kleinen Salon seiner Tante getreten war, hatte er dort sogleich Helene und die Schweizerin erblickt.

»Ich habe dich überrascht, mein lieber Einsiedler,« sagte die Oberstin. »Frau von Torna und ihr Mündel hatten uns ihren Besuch versprochen, und da haben Ursula und ich daran gedacht, daß du uns helfen könntest, an Stelle des abwesenden Bruders Anastasius die Honneurs des Hauses machen. Erlaube, daß ich vorstelle ... aber ihr kennt euch ja.«

Er machte eine kalte Verbeugung.

»Ich habe ganz kürzlich das Vergnügen gehabt, dem gnädigen Fräulein an einer Wegkreuzung zu begegnen,« sagte er mit eisiger Stimme.

Helene, die in ihren Trauerkleidern stolz aufgerichtet dastand, blitzte ihn aus ihrem totenblassen Gesicht trotzig an.

»Und ich war so wenig darauf gefaßt, das gnädige Fräulein hier wiederzufinden,« fuhr er in kränkendem Tone fort, »daß ich mir soeben gelobt hatte, nie wieder ihren Weg zu kreuzen. Das kommt zu teuer zu stehen,« setzte er doppelsinnig hinzu.

Helene begriff, und Tränen schossen dem stolzen Mädchen ins Auge.

»Ich ... habe Sie nicht wiedererkannt,« sagte sie mühsam, und die Lüge trieb ihr die Schamröte ins Gesicht. »Verzeihen Sie mir. Ich weiß wohl, daß mein Name Ihnen nach dem, was vorgefallen, verhaßt sein muß. Aber – mein Vater hat – – seinen Irrtum – mit dem Leben bezahlt.«

Unsäglicher Schmerz drückte sich auf ihrem Antlitz aus. Jan senkte den Blick, bemerkte ihre Trauerkleider und empfand Reue, machte sich Vorwürfe über seine Grausamkeit.

Seinem Gefühl folgend, reichte er ihr die Hand. »Sprechen wir nicht mehr davon, gnädiges Fräulein. Herr Cyprian und ich sind beide Opfer eines elenden Schurken,« sagte er großmütig.

Jans edle Regung ging Helene zu Herzen. Sie hob ihren tränenfeuchten Blick zu ihm auf, und er mußte die melancholische Schönheit ihres Gesichts, die Eleganz ihres Wuchses bewundern, der dem Trauergewand so edle Falten gab.

»Es scheint,« sagte Jan mit leiser Bitterkeit, »daß Herrn Piks Geschäfte blühen. Er hat ›Grüntann‹ zu billigem Preis angekauft, eine Streichholzfabrik im Walde errichtet, die vorzüglich geht, und gedenkt, sich im Sommer mit seiner Familie in dem neuen Hause einzurichten. – Kurz, der Sieg des Betruges und der Niedertracht. Die Belohnung des Lasters!«

»Nun ja,« meinte Tante Aniela, »solche Beispiele sind sicher nötig, um die Ungläubigen davon zu überzeugen, daß es noch eine andre Gerechtigkeit gibt als die irdische.«

Am Abend hatte Helene die Schweizerin auf ihr Zimmer gerufen: »Was für ein Tag, Fräulein Santou! Wie viel Willen und Kraft mußte ich aufwenden, um vor den alten Schachteln ruhig zu bleiben. Hundertmal habe ich losbrechen wollen. Alles reizte mich: die anspruchsvoll-humanitären Reden meiner Cousine, das Verhör, dem die Damen mich unterwarfen. Und erst seine Haltung, die kalte Höflichkeit mit ironischen Spitzen! Aber – er ist großmütig gewesen, so daß einen Augenblick alles, was ich Bestes habe, an die Oberfläche meiner Seele gestiegen ist. Aber sein früher so heiteres, heute so finsteres, von Schmerz zerwühltes Gesicht sehen, und sich sagen, daß jene Frau, jenes Geschöpf, das er noch immer liebt, ihm all dies Leid verursacht ... das war mehr, als ich ertragen konnte! Und er hat mir vor der Oberstin vorgeworfen, daß ich seinen Wagen umzuwerfen versucht hätte. Das ist wahr! Ich habe gesagt, daß ich ihn nicht erkannt hätte. Das ist gelogen! ... Als ich ihn vor mir sah, so blaß, so verändert, da war ich außer mir – ich hätte morden können ...«

»Großer Gott, wann werden Sie einmal zu Verstand kommen, armes Kind! So lassen Sie doch die Zeit ihr Werk tun. Die Männer trauern nicht ewig. Herrn Jans Schmerz wird sich legen. Warum sollte er Ihnen nicht von neuem die lebhafte Sympathie entgegenbringen, die er Ihnen früher bezeigt hat? Man hat schon wunderbarere Dinge gesehen!«


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