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Mitternacht im Februar, in Czernowitz in der Bukowina. Ein schneidender Wind türmt dichte Schneemassen bis unter das Vordach eines alten Hauses, und traurig, ungastlich ragt der trübselige Bau aus dem fahlen Weiß.
Da hält ein Schlitten, dem ein junger Mann entsteigt. Fast reißt er den Klingelgriff ab, bezahlt dann den Kutscher, der Koffer und Handtasche mir nichts dir nichts vor die Tür wirft und sich wegmacht. – Die Tür aber bleibt geschlossen. – Neues, so heftiges Läuten, daß der Eisendraht in des heißblütigen Reisenden Hand bleibt.
Da geht auch die Pforte auf, und im trüben Schein der Straßenlaterne erscheint eine weiße Gestalt – ein Mann in Hemd und Unterhosen, worüber er in Eile seinen Schafspelz geworfen. Er macht große Augen, und seine wirren Haare scheinen sich zu sträuben ...
»Donnerwetter, so wach doch auf!« schreit der Ankömmling. »Hat Graf Severin hier nicht ein Zimmer für mich bestellt und meine Ankunft angemeldet?«
Der Mann murmelt, sich die Augen reibend, etwas Unverständliches, versucht, die den Eingang versperrenden Gepäckstücke hereinzuziehen, und streckt dann trotz der Dunkelheit mit der ganz mechanischen Geste des galizischen oder bukowinischen Die Bukowina, Hauptstadt Czernowitz, einst rumänisch, gehört seit 1775 zu Österreich. Sie grenzt an Galizien, Rußland, Rumänien und Siebenbürgen. Sie beherbergt ein unglaubliches Völkergemisch: Deutsche, Moldaven, Ruthenen, Polen, Rumänen, Ungarn, Russen, Tschechen, Zigeuner, Hutsulen, Juden etc. Die Amtssprache in Verwaltung und Schule ist natürlich Deutsch. Die Religion ist griechisch-katholisch. Handel und Bank liegen in den Händen der Israeliten. Die Bukowina ist einer der größten Viehmärkte Europas. Pförtners die schwielige Hand nach seinem Trinkgeld aus.
»Erst bringe Licht und führ mich in mein Zimmer,« herrscht der junge Mann ihn an.
Es geht über den Hof, eine halsbrecherische Treppe hinauf. Die Mauern sind mit schwarzen Spinnweben bedeckt, die hin und her zittern und mit leichtem Geräusch an der Kerze verbrennen.
Endlich geht eine Tür auf und läßt das »möblierte« Zimmer sehen, das Graf Severin für seinen Freund Jan Korab bestellt hat.
»Das ist das möblierte Zimmer!«
Welche Ironie liegt in dem Wort.
Im Kerzenschein sieht man die nackten Mauern, in deren Rissen der Salpeter nistet, das schmale Lager, den wackeligen Schrank, die angeschlagene Waschschüssel und den kalten, gähnenden Ofen ...
»Was, kein Feuer? Nicht einmal Holz? Und so wagst du, elender Kerl, einen Christenmenschen, einen Soldaten, einen Verwundeten zu empfangen?«
Jetzt erst hebt der Pförtner den Kopf, betrachtet den neuen Gast und erblickt einen großen, jungen, dunkelhaarigen Mann, mit feinem Schnurrbart und müdem Antlitz, den Arm in einer Binde.
Während er mit offenem Mund dasteht, fühlt er sich von äußerst kräftiger Hand ergriffen und wie ein Pflaumenbaum hin und her geschüttelt: »Hast du mich genug angestarrt? Mach Feuer.«
Der Pförtner, dem seine Pflichten so kräftig ins Gedächtnis gerufen werden, entfaltet eine fieberhafte Tätigkeit.
Er wird dem gnädigen Herrn Holz holen, wird dem gnädigen Wohltäter Tee bereiten ...
Wirklich kommt er bald mit einem Brett voll Geschirr, mit Holz und Glut wieder. Schon prasselt das Feuer in dem Kachelofen, und das Wasser singt in dem gebrechlichen Samowar aus Weißblech, in dessen Glut der Pförtner kräftig hineinbläst, das Zimmer mit Rauch füllend.
Er will jetzt durchaus dem hochgnädigen Herrn die Stiefel ausziehen.
»So laß mich in Frieden, und wenn dein Tee fertig ist, so scher dich zu Bett,« ruft Jan dem Pförtner zu, der sich schleunigst aus dem Staub macht.
Von der anderen Seite der Tür flüstert er aber untertänigst durchs Schlüsselloch: »Wann befehlen Exzellenz den Morgenkaffee?«
Jan macht, ohne ihn einer Antwort zu würdigen, mit der gesunden Hand die Reisetasche auf, und nach einem vergeblichen Versuch, von dem ihm zugedachten entsetzlichen Trank zu schlürfen, prüft er das Lager.
Abscheulich! In welche Höhle hat der verteufelte Severin seinen Kameraden geschickt? Die feuchten, froststeifen Betttücher glitzern wie von Reif. Unmöglich darin zu schlafen. In diesem Augenblick überfliegt ein Zucken des jungen Mannes Stirn, sein Arm schmerzt ihn fürchterlich. Aber er verjagt die bitteren Gedanken, die ihn bestürmen ... Und während der elende, kleine Samowar ausgeht und den Raum mit beißendem Rauch füllt, wickelt Jan sich stoisch in seinen Soldatenmantel und wirft sich, völlig angezogen, aufs Bett.
Doch der Schlaf kommt nicht, Fieber brennt in seinen Adern. Ach was, ist es ihm während des schrecklichen russisch-türkischen Feldzuges, den er soeben mitgemacht, nicht noch viel schlimmer ergangen? –
Unvergeßlicher, heroischer Feldzug, in dem Sieger und Besiegte an Mut wetteiferten. Mit welcher tollkühnen Leidenschaft hat er sich da hineingestürzt! Er war im Begriff, seine Studien im Agronomischen Institut von Dublany bei Lemberg zu beenden, als die ersten Kriegsnachrichten sich verbreiteten ... Er gedenkt seiner Flucht aus dem Institut, des Erstaunens der bulgarischen Studenten, seiner Mitschüler darüber, daß er, statt ihnen mit Rußland bei der Erringung ihrer Unabhängigkeit zu helfen, sich in türkische Dienste gestellt hat.
»Du, ein Pole, verläßt deine slavischen Brüder!« sagten sie zu ihm.
Jan aber wiederholte, mit gerunzelter Stirn, hartnäckig: »Ich will mich gegen die Moskowiter schlagen.«
Er war nämlich der Sohn eines polnischen Aufständischen von 1863. Obgleich damals nur acht, neun Jahre alt, hatte er doch mit glühender Begeisterung die schmerzlichen Kämpfe verfolgt, die mit der Niederlage endigten. Als dann sein Vater, verfolgt, besiegt, in contumaciam zum Tod verurteilt, an die adriatische Küste floh, wo seine arme, kranke Frau bald an Entkräftung zu Grunde ging, war Jan seines Vaters treuer Kamerad geworden, der ihn überall und zu jeder Stunde, ja bis in die geheimsten politischen Sitzungen begleitete.
Später nach der Türkei flüchtend, hatte Jans Vater, ein geschickter Ingenieur, durch Osman Paschas Freundschaft und Protektion den Auftrag zum Bau einer großen Brücke erhalten. Unglücklicherweise wurde er einige Jahre später bei einer Sprengung schwer verletzt und starb bald darauf, die eine Hand in der seines Sohnes, den er vierzehnjährig in diesem fremden Land zurückließ, die andre in der seines Freundes.
Auf Befehl seines Onkels mütterlicherseits, der sein Vormund geworden, ward Jan sofort nach Galizien geschickt. Er verließ sein zweites Vaterland mit der tief in seine Seele gegrabenen Erinnerung an seines geliebten Vaters Dulderlaufbahn und an das energische, aber zugleich väterlich lächelnde Antlitz des alten Generals.
Damals war Jan ein magerer, etwas linkischer Bursch, sehr ausgelassen, sowie er sich in zusagender Gesellschaft befand, aber sogleich wieder in sich gekehrt, falls die Umgebung ihm unsympathisch war. Von Anfang an hatte der Anblick des kalten, überlegenden Galiziers, seines Onkels, ihn abgeschreckt, und als Herr Anastasius, der ihm nach Kräften gesunde, verständige Ideen einflößen wollte, gegen die revolutionären Irrtümer und Tollheiten von Jans Vater losgedonnert hatte, war Jan kaum imstande gewesen, die Empörung, die sein Herz schwellte, zu beherrschen.
»Was hat dieser letzte Aufstand genützt?« rief der galizische Doktor. »Er hat die Nation geschwächt und die Elite der gebildeten Jugend in alle vier Winde verstreut. Haben sie aber einmal das Land verlassen, so kommen sie nicht wieder. Sie finden Geschmack an der westeuropäischen Kultur, gehen in ihr auf und verschwenden an sie ihre Ideen, Talente und Kräfte.«
»Mein Vater,« sagte Jan mit glühender Stirn, »hat mich in der Liebe zu meinem Lande auferzogen.«
»Nichtsdestoweniger hat er aber Brücken für die Mohammedaner gebaut,« rief der Onkel spottend.
Seit jenem Tag hatte zwischen Vormund und Mündel ein stiller Krieg bestanden. Wohl hatte Jan sich widerstandslos bei einem Professor in Pension stecken lassen, der ihm nebst den Bürgertugenden auch jene Weisheit beibringen sollte, die darin besteht, das Unvermeidliche mit Ruhe hinzunehmen und es sich, soweit möglich, zu nutze zu machen. Doch ging diese Unterweisung Jan schwer ein, sie war zu verschieden von den Lehren seines Vaters, der nur Revanche und Revolte erträumte und jene andre Richtung ganz laut Feigheit und Heuchelei nannte.
Beim Verlassen des Gymnasiums war es Jan gelungen, eine gute Prüfung zur Aufnahme in die Landwirtschaftliche Schule in Dublany zu bestehen. Dort blieb er drei Jahre. Über die Zukunft seines temperamentvollen Neffen beruhigt, schickte Herr Anastasius sich an, ihm Rechenschaft über seine Tätigkeit als Vormund abzulegen und eine solide Musterwirtschaft zu suchen, wo Jan seine Lehrzeit durchmachen könne, als eines schönen Frühlingsmorgens ein Kurier ihm folgendes verblüffende, von Belgrad datierte Telegramm brachte:
»Habe Institut verlassen. Eile, mich Osman-Pascha zur Verfügung zu stellen. Will meinen Vater rächen.
Jan Korab.«
Angesichts dieses schlagenden Beweises, daß all sein Mühen umsonst, hatte Herr Anastasius, bleich vor Empörung, aber immer gefaßt, mit ausgestrecktem Arm ein großes Kreuz nach Südost geschlagen, als Zeichen, daß zwischen ihm und einem solchen Narren kein Band mehr bestehe, und Jan hatte auf die zwei, drei Briefe, die er in der Folge schrieb, keine Antwort erhalten.
Auf dem harten Lager, wo der Schlaf ihn flieht, kommen die ersten Eindrücke des russisch-türkischen Feldzugs dem jungen Mann ins Gedächtnis zurück, und als sei es gestern, so deutlich sieht er das sonnenhelle Lager von Widdin vor sich, wo Osman-Pascha ihn so herzlich empfangen.
Dann der Marsch nach Plewna auf nußbaumbeschatteten Straßen, die fröhlichen Biwaks in armen bulgarischen Dörfern, wo hübsche, verschüchterte Mädchen sich hinter den Haustüren verstecken und nur verstohlen auf den Vorbeimarsch der Regimenter spähen. Fröhliches Geläute erschüttert die Glockentürme der kleinen, orthodoxen Kirchen, summende Bienenschwärme holen Beute an den blühenden Hecken, und das Gebirge steht im vollen Glanz des ersten Frühlings.
Wie leichten Schritts erklimmen die Soldaten die Höhen von Plewna!
Unbesorgt um die Zukunft, atmen sie mit Entzücken die vom Duft der wilden Himbeere gewürzte Luft.
Jetzt macht man sich rüstig daran, Erdwälle aufzuwerfen, und bald bringt die Nachricht, daß die Russen die Donau überschritten haben, Erregung in die Truppen, die sich darauf vorbereiten, den Sturm wacker abzuschlagen.
Jan zeichnet sich vor allem durch seinen Feuereifer aus.
»Keine Sorge, Effendi,« flüsterte ihm ein alter türkischer Soldat zu, der schon am nächsten Tage an seiner Seite fallen sollte, »der Spaß wird früh genug anfangen.«
Und so geschah's. Plötzlich, brutal wie ein Donnerschlag, war die russische Avantgarde aufgetaucht, hatte die Schanzen weggefegt und war bis zu den ersten Häusern von Plewna gedrungen. Ein fürchterlicher Aufeinanderprall! Drei Stunden lang schlägt man und mordet sich. Gleich den andern stürmt Jan mit dem Ruf: »Allah!« einher. – Vor seinen Augen alles rot, sein Kopf leer. – Ist er ein Held oder eine losgelassene Bestie? Ein kleines, blutiges Bächlein rinnt über sein pulverschwarzes Antlitz, er aber fühlt nicht Wunden, Hunger, Durst, noch Erschöpfung.
Um fünf Uhr hört die Schlächterei auf, die goldenen Strahlen der großen, roten Sonne erhellen die verzerrten Gesichter der Sterbenden – ein entsetzlicher Protest gegen so viel Gewalttat.
Dreitausend Moskowiter, viertausend Türken, soeben noch wütende Feinde, bedecken jetzt brüderlich nebeneinander den Boden.
Überall ein fader Blutgeruch.
Verstört blickt Jan umher. Blut über – überall, auf den Blumen der Hänge, auf den Dornen des Wegs!
Und die Erde trinkt es unersättlich. Auf einer kleinen Erhebung liegt ein russischer Soldat im Sterben, unzusammenhängende Worte murmelnd, und bald haucht er seine Seele mit den Worten: »Matko Boska!« Mutter Gottes, auf Polnisch. aus. – Kalter Schweiß bedeckt Jans Stirn.
Dieser Soldat ist nicht ein Moskowiter, ist ein Pole wie er, dient aber unter russischer Fahne.
Und er entsinnt sich, wie er, verfolgt von dem erstorbenen Blicke dieses Mannes, wie ein Toller geradeaus über die Toten, die Verwundeten gerannt ist. Das ist der Krieg – Brüder gegen Brüder, Polen gegen Polen. Sein Volk trägt einen Fluch, da es ihm unmöglich ist, in irgend einem Land der Welt die Waffen zu ergreifen, ohne seine eigenen Kinder zu bekämpfen: bei Sadowa! Gravelotte! Sedan! Ein schrecklicher Ekel erfaßt ihn, und er fragt sich, inwiefern die entsetzliche Schlächterei, an der er teilgenommen, seinen Vater rächen kann!
Jetzt erreicht er das Lager. Warmherziger Zuruf begrüßt ihn, die Hände strecken sich ihm entgegen, man jubelt ihm zu. Es lebe der Pole, der sich so wacker geschlagen!
Osman-Pascha läßt ihn rufen, überhäuft ihn mit Lob. Nach und nach weichen die dunklen Schatten, die ihn verfolgten, eine Regung des Stolzes siegt über seine philosophischen Betrachtungen, die Kameraden schleppen ihn ins Biwak, und er entsinnt sich nur noch des ungeheuren Wohlbehagens, mit dem er sich vor eine Schüssel dampfenden Pilaus setzte.
Der Feldzug geht bis zum Winter fort. Zu den Schrecken des Gemetzels gesellen sich Mangel an Nahrung, an Munition, die fürchterliche Härte des Klimas.
Am zehnten Dezember, verhängnisvollen, unerbittlichen Angedenkens, muß Plewna geräumt werden. Stille Tränen rinnen den alten Führern über die Wangen. Drei fliegende Brücken sind über den Wid geworfen, und Osman-Pascha hat sich, die Überreste seines Heeres zusammenraffend, mit dem Mut der Verzweiflung auf den Feind gestürzt.
O, höchster Opfermut dieser Männer, die, ohne mit der Wimper zu zucken, in einen sicheren Tod gehen.
Sieg! Die erste Reihe der Verschanzungen ist durchbrochen. Die zweite gleichfalls ... aber ach, die dritte, weit stärker, fürchterlicher, widersteht.
Es heißt umkehren, ohne Munition, unter dem unaufhörlichen Kugelregen. Tote, Verwundete bleiben zu Hunderten und Tausenden zurück. Die scharlachroten Wasser des Flusses sind mit dichten Leichenhaufen bedeckt.
Sss – die Kugeln pfeifen!
Sss – ohne Unterlaß, ein Höllenfeuer!
Sss – »Jetzt hab' ich's weg,« sagt Jan, sinkt um, will schreien, kann nicht und schließt die Augen – das ist gewiß der Tod ... Als er wieder zu sich kommt, liegt er in einem Hospitalbett in Jassy, wohin die Kameraden ihn haben bringen lassen. Und er erfährt zu seiner Verzweiflung, daß Osman-Pascha, gerührt von der Aufopferung seiner Truppen, die weiße Fahne auf seinem Zelt hat hissen lassen und sich den Russen, die ihn als Gefangenen fortgeführt, ergeben hat.
Als seine Kräfte es ihm gestattet, hatte Jan sich nach der Bukowina begeben, und so ist er jetzt in der Hauptstadt Czernowitz, wo sein Kamerad ihm dies elende Logis besorgt hat.
Endlich bricht der Tag an. Blendend dringt die Sonne durch das einzige, vorhanglose Fenster.
Jan richtet sich hastig auf. Ihn schüttelt das Fieber. Der Wundverband hat sich verschoben, und das Leben erscheint ihm dunkel, grausam.
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