Autorenseite

 << zurück 

Anzeige. Gutenberg Edition 16. 2. vermehrte und verbesserte Auflage. Alle Werke aus dem Projekt Gutenberg-DE. Mit zusätzlichen E-Books. Eine einmalige Bibliothek. +++ Information und Bestellung in unserem Shop +++

15

Mit dem Schlage sieben Uhr morgens deutscher Zeit setzte es ein, gerade als General von Flurschütz vom Liller Bahnhof zurückfuhr. – Major von Esserte hatte die Gelegenheit benutzt, auf dem Rückwege beim Generalkommando vorzusprechen. General von Kitzingen war ausgeritten, der Stabschef dagegen machte im Park seinen Morgenspaziergang. Bei drohender Körperfülle ritt er nicht nur, sondern pflegte zu früher Stunde im Garten zu »laufen«. Der Generalstabsoffizier der Division sah schon von weitem die mächtige Gestalt des Obersten Bach barhaupt durch die Büsche flitzen. Er rief von weitem:

»Jawohl, ein schlanker Reiter wie Sie braucht das nicht. Aber ich bei der Schreibtischarbeit?«

Er hatte hoch gesprochen wie immer, wenn er gemütlich war. Plötzlich stand der Unteroffizier aus Bordeaux da, versuchte Stellung zu nehmen, trat aber bei jedem Wort einen Schritt weiter vor und pirschte sich so allmählich heran:

»Herr – Oberst – Meldungen – von – verschiedenen – Stellen.«

Im gleichen Augenblick hörte man fernen Kanonendonner. Von allen drei Divisionen, die dem Korps unterstanden, wurde Feuerüberfall gemeldet. Oberst Bach sagte nur, indem er Major von Esserte eine Verbeugung machte, die dieser mit seiner strengen Dienstlichkeit erwiderte:

»Eine Kraft wie Sie ist jetzt nötig vorn.«

Während Major von Esserte die Straße nach Ralinghien hinunterfuhr, klang immer stärker das Rollen der Geschütze. Hatte man sonst einigermaßen die Richtung unterscheiden können, aus der das Kanonengebrüll kam, so traf jetzt Donner, Rasseln, Krachen, Dröhnen das Ohr von allen Seiten. Bisweilen schienen die Luftwellen stärker von Ypern zu schallen, dann wieder war es, als trüge sie der Wind von Annentières herüber. Bald sah man in der Ferne die Staubsäulen der Granaten steigen. Als ob Irrlichter tanzten, zuckten sie bald hier, bald dort auf. Der Hof Ralinghien schien nicht unter Feuer zu liegen, wohl aber das Dorf. Sie fuhren nicht bis an den Park heran, denn einmal war die Straße zerschossen, dann sollte der kostbare Wagen nicht in Gefahr kommen. Major von Esserte schickte also Klostermann nach La Grenouillère zurück. Das Bild der Ferme war völlig verändert. Wohl führten noch Baumreihen nach dem alten Haus, aber Lücken in ihnen hatten Ausblicke freigelegt. Der Park hob sich nicht mehr als Masse ab, sondern glich, wie in Opendaele drüben, nun Gestrüpp und Unterholz. Nur einzelne schöne Bäume ragten unversehrt. Als der Generalstabsoffizier, den Trichtern und aufgeworfenen Erdwällen ausweichend, in die Nähe des Schutthügels kam, einst die Wohnstätte von Menschen, erblickte er draußen gegen den hellen Himmel die Gestalten des Barons de Battaignies und seiner Töchter. Das Halstuch des alten Patrioten wehte, sein ungeschnittenes langes, wirres weißes Haar flatterte im Winde, und der stoßweise Luftstrom trug die Kleider der Damen gleich bauschenden Fahnen seitwärts hinaus. Sie standen unbeweglich die Drei und blickten auf das Schauspiel, wie die Erde ihrer Heimat dampfte und rauchte, drüben längs des Hügelzuges von Ralinghien.

Unteroffizier Rosenthal kam schon dem Major entgegen. Der sagte: »Ich weiß!«, setzte sich an den Tisch, nahm den Hörer und während er horchte und sprach, las er die Meldungen, die schon vor ihm lagen. Major Rennhöfer trat ein. Sie nickten sich zu. Kurz darauf erschien der Generalleutnant. Die Majore standen auf. Dann ging die Arbeit weiter, das Hören, den Bleistift in der Hand, um aufzuschreiben, was die draußen meldeten, mitteilten, wünschten, zur Erwägung gaben. Ja, es ging los! Die Brigade Golm meldete, der Sprengtrichter auf Höhe 40 sei unter Feuer. An der Stellung am berühmten Badehäuschen hätten die Engländer eine Mine gesprengt, aber zu kurz, so daß der erwartete englische Angriff ausgeblieben sei. Die Deutschen hatten sogar sofort den neuen Sprengtrichter besetzen können. Hauptmann Hasenclever fragte an, ob General von Flurschütz etwa bei der Division eingetroffen sei. Er schien besorgt um ihn, denn die Strecke Belvoorde–Ralinghien lag unter schwerem Feuer. Bei der Division wußten sie nichts von dem General. Er war eben auf dem Rückwege vom Bahnhof Lille. –

In der Vorstadt, die er durchfuhr, standen die Franzosen auf der Straße und lauschten hinaus; an den immer leise klirrenden Fenstern waren Köpfe erschienen. Man rief einander etwas zu, dann hoben sich wieder die Köpfe, man lauschte, suchte, sehnte, zitterte, bangte, denn seit sie zum erstenmal den Donner von Kanonen gehört, hatten sie solch furchtbares ununterbrochenes Rollen nicht wieder vernommen.

Der General suchte den Weg abzukürzen. Die Karte und ein Vergrößerungsglas in der Hand befahl er seinem Fahrer, wie ein Kapitän am Sprachrohr: »Rechts, links, gradeaus.« Der Feldweg wurde immer schmaler und hörte schließlich auf. Wütend stieg der kleine General aus: »Kehrt, kehrt!« Während die beiden vorn nebeneinander sich umdrehten, um eine Brücke zu finden über den Straßengraben aufs Feld hinaus, um den Wagen rückwärts hineinfahren zu können, lief General von Flurschütz im wehenden offenen Mantel zu einer Ziegelei, vor der ein paar Franzosen standen und hinaus lauschten, was da nur vor sich ginge, denn das ganze Land schien in Aufruhr. Ein niedriger, oben stumpf abgebrochener Schornstein ragte. Ein Unteroffizier trat aus dem Hause, dessen zerbrochene Scheiben man durch Bretter ersetzt hatte. Er wies die Franzosen fort, einen alten Kerl in weiten Pluderhosen, ein schmieriges Weib mit schlaffen Brüsten unter der halboffenen Taille, das Schürzenband tief eingeschnitten in den miederlosen Leib. Sie trollten sich mißmutig. Der General rief den Unteroffizier heran:

»Was ist hier?«

Da trat einer in blauem Monteuranzuge aus dem Maschinenhause neben dem Schornstein. Leutnant, der er war, meldete er sich. Eben war er beschmutzt heruntergeklettert von der Beobachtung an der Mündung der Esse und schickte nun einen anderen Beobachter hinauf. Er fragte den Unteroffizier:

»Was haben die Leute da zu suchen?«

»Sind ganz harmlos, Herr Leutnant. Sie graben immer hinten Zuckerrüben aus und auf dem Felde können sie nichts sehen.«

»Egal, schmeißen Sie jeden raus.«

Dann huschte er dem General nach in das Zimmer, wo nichts stand als ein roher Tisch mit den aufgespannten Karten und in der Ecke ein Strohlager, ein Mantel, ein Artilleriehelm. Der junge Offizier zeigte die einzelnen Punkte, vom Gegner belegt oder von eigener Artillerie befunkt. Mit der Schnur visierte er sie an. Dann nahm er seinen Bleistift und zeichnete auf des Generals Karte die Straße ein, auf der er am besten vorkam.

»Wann hat es angefangen?« fragte General von Flurschütz.

»Sieben Uhr, Herr General, der erste Schuß.«

»Guten Fortgang! Danke. Grüßen Sie General Höhne.«

»Zu Befehl, Herr General.«

Er rief den Kraftwagen. Bisweilen kamen Schrapnells über sie gespritzt. Der Fahrer verlangsamte den Gang, da die Straße nicht eingesehen war, es sich also nur um Streufeuer handeln konnte. Und sie hatten Glück: das Schrapnellfeuer schwieg wie auf Kommando. Als sie eben in Ralinghien einfuhren, schmetterte es rechts und links in die Gärten. Häuser, noch heute als sie bei Morgengrauen fortgefahren waren unversehrt, hatten in den kaum zwei Stunden, die das Feuer nun dauerte, ihre Ziegel quer über die Straße ausgeschüttet wie einen Kinderbaukasten. Nun lagen Möbel, Kleider, Hüte, die Fächer aus den Gestellen eines Kaufladens, Bilder, Betten wild durcheinander, denn die Stockwerke hatten sich stürzend verschieden schnell entleert. Wie mit unterschiedlich weit vorgelaufenen Lavaströmen war die breite Hauptstraße bedeckt. Herrenlose Köter irrten umher, scheu mit eingeklemmtem Schwanz und hängender Zunge. An einem Zaun hing eine aufgespießte Katze, den Kopf nach unten. Sie mochte, gerade als sie sich retten wollte mit einem Sprunge über die Eisenspitzen, von Geschossen ereilt worden sein.

Der General ließ das Auto in den Feuerschatten der Häuser fahren, gegenüber von seinem Quartier. Einen flüchtigen Blick warf er auf die Mairie. Auch sie hatte das Schicksal des Krieges in den zwei Stunden der Abwesenheit ereilt: Ihr Dachstuhl war zusammengebrochen, der Balkone Gitter pendelten im Wind. Ja, der Zugang war durch frisch abgestürzte Ziegelmassen des oberen Stockwerkes verschüttet. Als der General über die Trümmer stieg, schmetterte drüben neben seinem Kraftwagen eine Granate in ein schmales Haus, die fast städtische Apotheke. Eine Staubsäule schoß auf wie roter Brand. Sprengstücke klatschten an die Wand. Es roch nach Schwefel. Sobald die Entladung verklungen war, sah man Köpfe an den Kellerluken erscheinen. Frau und Tochter des Maires liefen auf die totenstille Straße und blickten mit neugierig-wollüstigem Grauen hin. Und die Alte deutete mit dem hageren, von Arbeit, Nichtwaschen, Staub und Dreck schmutzigen Arm hinüber. » C'est là bas,« schrien Mutter und Tochter sich an und starrten dem schwarzen Qualm nach, der vom Winde getrieben die Dorfzeile sich hinabwälzte, roter Ziegelstaub hinterdrein. Überall tauchten sie auf, Kinder, Weiber, alte Männer und schauten, und schauerten und dachten: Es ist wenigstens nicht bei uns. Mancher auch meinte wohl, es möchte dem reichen Pillendreher nichts schaden.

Der General ging in den Unterstand. Er kümmerte sich nicht um die Franzosen. Hundertmal brachte man sie in Sicherheit, hundertmal waren sie wieder da, wie unartige, neugierige Kinder. Hauptmann Hasenclever und der Ordonnanzoffizier waren auf dem Gefechtsstand in Belvoorde. Als sein General durch den Draht mit ihm sprach, war der gute Hasenclever ganz erleichtert. Er bat den Herrn General himmelhoch, dort zu bleiben, denn der Weg zu ihnen hinaus sei unter »abenteuerlichem« Feuer. Der kleine General ging allein zum Erkunden durch die Dorfstraße bis zum Nordausgang. Er spähte die Yperner Straße hinauf. Eine einzelne Granate schlug einmal ein, sonst schien es da drüben ruhiger zu sein. Nur Opendaele rauchte, rauchte, rauchte. Der General pfiff dem Wagen, dann rasten sie die Yperner Chaussee hinunter. Vor der Bodenwelle schickte er den Wagen zurück und ging allein, den gleichen Weg wie einst sein Ordonnanzoffizier. Es heulte hoch und hell. Der Ton sank. Mit einem Satz war General von Flurschütz im nächsten verlassenen englischen Graben, rutschte aus auf dem glitschigen Boden, kroch vor und kauerte sich dicht an die Wand vorwärts zum Feinde. Ein Donner krachte und der notdürftig Gedeckte wurde mit Erdklumpen überschüttet, während zischend, fauchend, Sprengstücke fortsausten. Nun steckte er den Kopf heraus. Hier, wo sonst immer die Infanteriegeschosse pfiffen, sah man jetzt den Boden nicht aufspritzen von ihnen. So schwang sich der kleine General auf den Rand des Grabens. Er lief ein Stück. Heulend kam es an. Er warf sich hin. Es platterte, spritzte, hagelte, pfiff. Er rannte weiter. Das ganze Land schien zu leben. Aus dem weiten Lehmbereich sprangen graue Schmutzfontänen. Immer wieder lag der Eilende am Boden. Da kam die Straße. Er kroch im Graben hin. Als ein paar Schrapnells ihre Büchse entleerten, schlüpfte er unter eine breite Erdbrücke, die den Graben überwölbend zum Felde führte. Eine Brücke, über die wohl tausendmal schwerbeladene Wagen voll des Segens des Landes, voll Zuckerrüben geschwankt sein mochten. Der General kroch rückwärts wieder ans Tageslicht. Ratsch! kam eine neue Ladung. Es war schon zu spät, sich zu decken, doch sie tat ihm nichts: Wie Trommelwirbel auf einem nassen Kalbfell ging sie ratschend und klatschend ins freie Feld. Endlich stand er am Unterstand. Ihm klopfte das Herz, nicht wegen der englischen Grüße, aber bei seinen 53 Jahren ging das Laufen nicht mehr so wie mit zwanzig und drei. Er wartete, bis er zu Atem kam, dann riß er die Tür auf. Der Ulanenoffizier stand stramm. Hauptmann Hasenclever kam ihm entgegen:

»Herr General, jetzt hierher?«

Der kleine Mann lachte, rot wie eine Tomate:

»Ich bin gerannt wie'n Bürstenbinder. Gottsdonnerwetter nochmal, verpulvern die ein Geld!«

Die beiden Offiziere sahen ihren Kommandeur an, naß, beschmutzt mit Lehm von oben bis unten. Der Telephonist, ein Mann tipp topp, einer, der aus einem Wolkenbruch trocken herausgekommen wäre, hatte sofort eine Kleiderbürste bei der Hand. Aber General von Flurschütz klopfte ihm auf die Achsel:

»Nachher, nachher! Erst müssen wir den Dreck trocknen lassen, dann nehmen wir ihn gleich mit dem Messer herunter. Kuchenschneiden! Gottverdammich!« Dann setzte er sich an den Tisch. Die Befehle von Korps und Division waren bereits weitergegeben worden. Wieder klingelte es:

»Hallo, wer da?« »Division.« »Hier Brigade Flurschütz.« »Hallo wer da?« »1388.« »Ach so, Herr Oberst?«

Der Baß des Generalmajors Höhne dröhnte. Hauptmann Wessels hatte einen Sonderauftrag bekommen und wollte nun mit der Brigade sprechen. Major von Rossows eherne Stimme klang: Nein, auf den vorderen Stellungen lag jetzt kein Feuer. Auch die Infanterie schwieg. Aber dann kam wieder die Meldung, das Wäldchen sei nun mit Feldschrapnells belegt. Die englische Besatzung müsse sich zurückgezogen haben, denn es prassele drüben immer in den eigenen Graben hinein.

Wie die Sonne gestiegen war, gingen wieder Meldungen hin und her: Zur Division, zum Korps, vom Regiment, von den Bataillonen, von den Abschnitten, von den Kompagnien. Ja, einzelne Gruppen gaben ihre Anschauungen weiter. Und immer wilder wurde der Eisenhagel, immer dichter stiegen auf den Feldern die Schmutzsäulen der Granaten: Hell auf der Straße, wenn Steine mit geschleudert wurden, schwarz bisweilen wie der Tod, den sie brachten, schwefelgelb in Erstickungswolken. In Opendaele krachten die letzten Reste des Schlosses zusammen, wurden die Wirtschaftsgebäude niedergelegt. Stein um Stein ließ das Reithaus seine Außenmauern fallen. Sie rissen die Treibhäuser mit, sie begruben das Immergrün, die Blumen, die Beete, einst der Stolz der Besitzer. Der Gang durch die Häuser von Belvoorde, durch alle Mauern gebrochen, der bisher gedeckt gewesen war gegen Splitter, Schrapnellfeuer und irrende Infanteriegeschosse, verbreiterte sich, daß der Himmel begann überall hereinzuschauen, an dem drüben die lange Front entlang, von der Sonne beleuchtet, gelbe Fesselballone schwebten, als stünde eine Postenreihe in der Luft. Vom Winde gepeitscht pendelten sie, senkten sich unter dem Druck des schweren Atems, der feucht über das Meer gehaucht kam. Es war als wollten sie sich verbeugen vor den Deutschen, die ihnen Gegengrüße sandten, aus allen Artilleriestellungen, mit allen Kalibern. In der Luft war ein Sausen, ein Zischen, ein Brausen, ein Heulen, das noch den Atem des Windes übertönte. Hinter den Gräben der Engländer prasselten die deutschen Granaten in Orte und Schlösser, wo Stäbe ruhesames Leben geführt. Von den Beobachtungsstellen sah man, wie auf den Straßen hinter den englischen Stellungen Bäume sich umlegten, wie es hineinhagelte in wartende Reserven, wie in den englischen Gräben die deutschen Granaten einschlugen. Balken flogen in die Höh, bisweilen nur gelbe Erde, dann schwarz, rot, je nach dem Material, das zerschmettert ward, in buntem Farbenspiel, all die feldgraue Eintönigkeit unterbrechend. Man hörte wohl auch, wo die feindlichen Gräben nicht zu fern lagen: an der Höhe 40, beim Badehäuschen, am Wäldchen, nach einem Einschlag drüben Jammern und Schreien, sah deutlich mit dem Glase Leute auseinanderstieben, Turbane vor Schrecken sich retten, wenn Inder nach allen Seiten flohen. Die englischen Kanonen blieben nichts schuldig, und in den deutschen Stellungen schoß eine Flamme auf, Donner dröhnte, es puffte noch lange Zeit, als ob Maschinengewehre ratterten und knackten: Da ging Infanteriemunition in die Luft. In den Unterständen saßen die Leute, dicht gedrängt. In den Verbindungsgräben eilten welche hin. Dann wieder lagen die langen Linien erstorben da, nur die Posten stellten die Gläser ein und jubelten im stillen, wenn drüben ein Stützpunkt aufflog, nicht anders, als hätte ein Riesenknabe in eine Pfütze getreten. Schwere deutsche Kaliber hatten ihre furchtbaren Eier in den Boden gelegt, die nun alles auseinander rissen: So Unterstand als Flechtwerk, so Graben als Vorrat, so farbige wie weiße Engländer. Derart schmetterte das Dröhnen, Donnern, Knattern, Platzen, Brüllen des Abschusses, Krachen des Einschlags, daß alte Feldsoldaten, längst abgebrüht doch und gewöhnt an die wilde Zerstörungswut, sich die Ohren zuhielten, denn die erschütterten Nerven wollten nur eins: Ruhe einmal, Ruhe und wäre es das Aussetzen einer Minute gewesen.

Darüber wurde es Mittag. Aber die Wut der Kanonen hörte nicht auf, als hätten sie drüben unerschöpfliche Vorräte gesammelt. Leutnant von Kropp sagte zu seinem Bruder, dem, der übrig bleiben sollte für die Mutter daheim:

»Hans, nun werden sie bald lunchen gehen.«

Die beiden lachten sich an in dem fein ausgebauten Unterstand, der unter die Wurzeln großer Bäume hinuntergegraben, mit Matten ausgelegt war. Nur karges Tageslicht fiel herein, denn sie hatten die Lichtschlitze schmal gehalten, und den Schacht um die Ecke geführt, daß nicht Splitter hineinführen. Aber die Engländer frühstückten nicht, so daß der Leutnant sagte:

»Hans, dann müssen wir eben bis zum Afternoontea warten. Sie haben wahrscheinlich früh zu viel Marmelade gefressen!«

Und das Donnern und Prasseln und Krachen ging weiter. Das ganze Land rauchte, dampfte. Stahl und Eisenstücke flogen, letzte stolze Bäume auf der Yperner Chaussee wurden geschunden, geschält, ihrer Rinde entkleidet, der Äste beraubt. Was über das freie Feld kam an Reserven, Essenholern, Munitionsbringern, warf sich hin, stand, lag auf dem Boden, stand, lag und stand. Und manche standen nicht wieder auf. Dann kamen die mit der Binde am Arm und krochen einer zum andern. Sie sahen die Brüder an, auf dem Gesicht, regungslos, den Mund in der feindlichen Erde vergraben. Sie ließen sie liegen, gingen weiter zu denen, die leise wimmerten, die schmerzlich stöhnten, die laut klagten in benommenen Sinnen. Denn den Jammer der Kreatur hörten die feinen Ohren derer, die Hilfe brachten, auch durch das Schmettern und Springen der Geschosse, die ihren tödlichen Hagel über alle Felder sandten. Nicht immer freilich, denn bisweilen kam so ein großer böser Vogel durch die Luft gerast, bohrte sich ein, warf Erde, Lehm und Dreck zur Seite und – schwieg. Schwieg, daß welche erleichtert scherzten: »Blindgänger, lieber Blindgänger, sage es deinen Brüdern, sie sollen es alle machen wie du!« Man mochte sie nicht ungern, genau wie die Ausbläser in der Luft, die ihre Ladung nur nach vom schmetterten auf den einzigen Punkt und dann niederfielen wie ein Flugzeug, das in einem Luftloch absackt.

Flieger zogen jetzt oben am Himmel, das Feuer lenkend, ihre Bahnen. Die Granaten wühlten die kampfumtobte Erde auf, darüber strich der Kugelsegen der Infanterie, höher platzten die Schrapnelle in den Lüften, heulten schwere Flachfeuergranaten, und in den Himmel empor, höher als die höchsten Berge der Alpen, einsam in dünne Luft, darein kein Adler mehr strebte, stiegen die schweren Kinder, den Mörsern entbunden, um zur Mutter Erde niedergezogen durch ihre Fallkraft allein alles zu durchschlagen, was Menschenhände gebaut. Unter ihnen fort segelten die Flieger. Man hörte das Schwirren ihrer Propeller nicht in dem Getöse, das die irrsinnig gewordene Natur überzog. Man sah sie nur in Montblanc-Höhen ziehen, umknattert und umknallt von den Schrapnells, die tief unter ihnen blieben. All ihre Künste boten sie auf, den Stahlgrüßen zu entgehen. Sie flogen Achten und Kreise, sie schraubten sich ins Blau, sie stießen herab wie Raubvögel auf die Beute. Dann platzten und krachten all die Entladungen, die ihr Ende hatten bedeuten sollen, hoch über ihnen. Die Sprengpunkte wurden tiefer gelegt und abermals stiegen die Flieger empor, bis sie wieder über den weißen Wölkchen kreisten, die so dicht eins an einem standen, wie Cirrusgewölk.

Bei der wachsenden Wärme des Tages hatten sich Wolken zusammengezogen, von irgendwoher herübergetragen vom Winde, und nun verblaßte das Raubvogelgezücht der Flieger, ward von Nebeln verschluckt und die Abwehrkanonen hörten auf zu sprechen. Die kleinen weißen Schrapnellwolken wurden breit und flach, schwammen ineinander, nur noch Dunst, und wie einer in nächtlicher Straßenzeile, dem Morgen entgegen, die Laternen vor sich auslöschen sieht, so zerging einer nach dem anderen dieser Meilensteine des Flughimmels, die der verfolgte Menschenadler hinter sich gelassen. Bald standen neue Flugzeuge dort oben, tauchten auf, wer weiß von wo, hetzten sich, wie Schwalben einander jagen, von neuem umwölkt, umknattert, umplatzt, umspritzt, umkämpft. Während des Artilleriekampfes, der die Stunden des Nachmittags hindurch kein Ende nahm, war in den Wolken das Fliegerspiel. Zwei machten einander aus, stießen zu, umkreisten sich, stiegen, den Gegner zu überholen: Der eine mit dem Kreuz, der andere ein Engländer. Die deutschen Abwehrkanonen schwiegen. Nun lugten sie hinauf, die Feldgrauen, fast über Sicherheit und Vernunft aus den Kaninchenlöchern, den Dachsgruben, aus manchem Unterstand. Aus Opendaeles Trümmern richteten sich Gläser empor. In Belvoorde war General von Flurschütz vor den Brigadeunterstand getreten. Major von Rossow spähte hinauf, war doch grade bei ihm ein Feuerloch, darin – erstaunlich – nichts sich regte, trotz der Hunderte, vielleicht der Tausende Geschütze, die sie drüben gehäuft, trotz der Millionen, ja Millionen Geschosse, die sie seit Monaten sorgfältig gesammelt. Oberst von Verzehl verrenkte sein eines Auge, und richtete ein Fernrohr, das sein vierter Adjutant, weiß der Himmel wie, in Roubaix aufgetrieben, zum Himmel wie ein Astronom. Hauptmann Wessels blickte mit dem Zeißglas nach oben, denn sie mußten wegen der glühenden Rohre eine Feuerpause machen. Bei der Brigade Golm spähten Augen in die Himmelshöhen, bei der Division waren sie aus ihrem Maulwurfshügel herausgekrochen. Baron de Battaignies stand wieder da mit seinen Töchtern. Claire hatte die Hände gefaltet und suchte den Horizont ab nach dem Fliegerkampfe. Laetitia sandte ihre schönen Augen zum Himmel empor, gestützt auf den Arm ihres Vaters. Der trug wie immer seinen schmutzigen Pelz, war barhaupt im wilden weißen Haar, kragenlos. Auch er blickte auf, suchte, fand nicht, wandte den Kopf zu seiner Tochter und wischte sich die Augen mit einem großen seidenen Tuche. Wie geistesabwesend sagte er: »Ich kann nicht sehen.« Dann schritt er wieder in seinem Parke auf und nieder, jeden Augenblick gewärtig, daß schwere Granaten von drüben kämen, mit denen sie seit dem Morgen schossen. Bäume, die noch gestern herrlich gestanden, waren von ihnen niedergemäht, daß meterlange Splitter von den zerfetzten Stämmen, weiß in ihrem frischen Holz, in die Luft starrten.

Claire blickte empor in der glühenden Hoffnung, der deutsche Flieger möchte abstürzen, Laetitia wunschlos, nur, weil es einmal etwas anderes war in diesem furchtbaren Kellerdasein, darin sie ein einziges aufrecht erhielt: Den Mann, den sie liebte, sehen zu können, nur von fern, wenn die Tür sich öffnete. Sie war bescheiden geworden in ihrer Sehnsucht. Da aber Claire den Kampf nicht begriff, ging sie wieder in den Keller.

Droben spien die Flieger Wolken. Waren es Auspuffgase, war es von einem Maschinengewehr? Man hörte nichts, Tacken und Knattern wäre übertönt worden vom Lärm der Schlacht. Da tauchte in der Ferne ein zweites Flugzeug auf, ein drittes. Wer sollte darauf achten, wo alle Aufmerksamkeit gespannt blieb auf die beiden, die dort in Alpenhöhe den einsamen Kampf miteinander kämpften auf Leben und Tod? Die Flugzeuge kamen von den englischen Linien, wuchsen aus dem Nebel, waren mit einemmal da: Drei gegen einen. Und manchem der Deutschen unten klopfte das Herz. Laetitia verstand nichts davon, denn die Abzeichen waren ohne Glas nicht zu unterscheiden. Sie blickte nach dem gewundenen Gang, der hinabführte zu den Kellern. Wenn er jetzt gekommen wäre, sie hätte ihn gefragt. Da rückte das Feuer plötzlich wieder auf den Hof. Eine Ulme draußen im fernen Park sank splitternd zu Boden und Laetitia lief hinaus, ihren Vater zu warnen. Der irrte durch das Leichenfeld seiner Bäume. Sie sah weit draußen unsicher seinen Schatten. Da kam es geheult, gepfiffen, gerade ihr entgegen. Erstarrt blieb sie stehen, gelähmt, sie konnte nicht einen Schritt mehr gehen, und schloß die Augen. » Ah, mon dieu!« rief sie nur, dann war es überstanden. Es hatte ihr in den Ohren gebraust, sie bekam durch den Luftdruck wie einen Schlag vor die Brust, unter dem sie zurücktaumelte mit brechenden Knien. Sie betastete sich. An ihrer Hand klebte Erde. Sie wischte ihr Kleid ab. Der emporgewühlte Boden hatte sie beschüttet. Sie verstand nichts, sie dachte nur: ›Ah so ist das? Es ist eigentlich schrecklich! Und doch wieder, was ist dabei? Nun ist es vorüber! Es tat ja nichts! Wie kommt das?‹ Aber es roch zum Übelwerden und ihr Kleid war schmutzig. Von dem erstickenden Qualm begann sie zu husten. Und mit einemmal, wie ein Würgen über sie kam, war es ihr, als müsse sie davonlaufen, sich retten, fliehen. Sie wollte in den Keller, doch sie konnte keinen Schritt gehen. In dem Augenblick hatte sie den Vater vergessen, nur an den Deutschen dachte sie, in jenem unerklärlichen Drange, der Eltern, Familie, die ganze Welt vergessen läßt angesichts des Wesens, das man liebt. Bei all dem Grauen um sie war die Sinnlichkeit in ihr erstorben: sie fühlte jetzt wie er, sie begriff seine Gedanken. Doch so zitterten ihr die Kniee, daß sie niedersank auf den kahlen Stamm der Wellingtonie, gefällt, der Riesenbaum, als ob er ein Streichholz gewesen wäre. Der Wipfel hatte, ins Wasser peitschend, die Entengrütze auseinandergetrieben, und nun sah man in dem dunklen Gewässer, das sich darunter wie ein schwarzer Spiegel aufgetan, zergehende Schrapnellwolken, sah den Luftkampf oben zurückgeworfen. Sie saß mit zitternden Knien und krummem Rücken auf dem Stamm. Sie dachte an ihn, an ihn, an ihn. Sie begriff, nun sie dem Ende nahe gewesen war, seine Liebe. Nicht die der Körper, jetzt gering im Wert hier, wo der Tod umging und wahllos dreinschlug, nein, jene Liebe, die alles Schwere leicht erscheinen läßt und alles Bittere süß. In ihr stieg eine grenzenlose Sehnsucht auf, dieser Krieg möchte vorüber sein, nur daß sie ihn besäße. Sie hatte die Schwester vergessen, den Vater, den alten Hof, der ihre Jugend bedeutet, ihr Vaterland, alles in dem einen Gedanken: Gott möge ihr das Glück neben diesem Manne noch schenken und sie nicht vorher von dieser Erde nehmen. Damit überkam sie eine jäh wiedererwachte Liebe zum Leben. Sie, die bisher all das Schießen, da es ihr Leben nahe noch nicht bedroht, fast als etwas betrachtet hatte, das sie nichts anging, verstand zum erstenmal die Furcht. Sie bangte um ihn und um sich. Wie sie da zitternd auf dem alten Stamme saß, die großen rötlich-lila Schuppen der Wellingtonie nervös mit ihren Nägeln abreißend, klang plötzlich wieder ein fernes hohes Pfeifen, das zum Heulen schwoll, und sank. Sie fühlte, es war das Gleiche wie vorhin. Sie schnellte sich mit den Händen ab, sie wollte fortlaufen, dann schoß ihr durch den Kopf, was Major Rennhöfer einmal gesagt: Man solle sich niederwerfen bei der Granate, damit die Sprengstücke über einen wegflögen. Sie wollte es tun. Sie konnte nicht. Und sie schrie gellend auf. Da klang auch schon ein Krachen. Nicht, wie sie es sonst weit entfernt gehört, als Schmettern, als Echo, nein, ein kurzes »Pang«. Die zweite Granate war geplatzt. Sie dachte, es ist zu Ende, und begriff nicht, daß sie weiterschreiten konnte. Sie lief dem Eingang zum Keller entgegen.

Da sah sie die breiten roten Generalstabsstreifen. Er nahm sie beim Arm, rief sie hart an, fast wie Kommando, mit jenem männlich metallisch deutschen Laut, wie sie ihn einmal von ihm gehört, jenem Tone, der sie glücklich niederzwang:

»Du? Hier? Herein!«

Sie fühlte seinen schmerzend festen Griff am Arm, aber je mehr er sie preßte, desto seliger klopfte ihr Herz. Im Gang vor den Kellern strich er ihr über das Haar:

»Ich war hart Laetitia! Liebe! Liebe! Aber du darfst nicht heraus, wenn wir es nicht erlauben. Ihr müßt fort. Es geht nicht mehr. Exzellenz hat schon den Befehl gegeben. Sobald es wieder ruhig ist, müßt ihr fort. Nur deinem Vater zuliebe durftet ihr bleiben!«

Sie stand demütig vor ihm und klammerte sich an ihn:

»Laß mich ier!«

Da dachte sie an ihren Vater:

»Papa ist draußen! C'est terrible!«

Sie wollte ihn holen, aber sie fühlte, sie konnte nicht. Ihr armes Frauenherz brach zusammen. Ihre schwache Menschenseele brachte es nicht zuwege. Es war nicht die Angst allein. Draußen war der Tod, und sie wollte bei ihm bleiben. In dem ungeheuren Lebens- und Glücksdrang, der sie umfing, stammelte sie:

»Ich bin feige, ich kann nicht inaus.«

Erst nach einer Weile sagte sie leise:

»Ich will ja, aber ich kann nicht gehen.«

Major von Esserte riß, ohne zu klopfen, die Tür auf. Claire kniete vor dem Lager, die Arme aufgestützt, in den Händen den Rosenkranz, das Gesicht verhüllt, und betete verzückt. Der Major drückte Laetitia in einen breiten bequemen Sessel neben der Tür. Dann ging er hinaus. Sie lauschte auf die Einschläge, die immer wieder wütend klangen. Ein Jauchzen in ihr, ein Drängen zu dem Mann, dem sie hätte zu Füßen liegen mögen, diesem stillen ernsten Deutschen, übertäubte die Gedanken an den Vater.

Major von Esserte trat aus dem Kellerunterstand, lief durch den Park, raste an der Wellingtonie vorbei, während es ratschte, zischte, krachte, lohte, donnerte, schmetterte und einschlug. Er konnte den alten Patrioten nicht finden. Wut war in ihm. Nun, morgen kamen die Franzosen weg, heute aber noch sperrte er ihn ein. In dem kleinen Aussichtstempel, der immer unversehrt geblieben war, saß ruhig mitten im Kugelgraus und Granatengeschmetter, vom freundlichen Strahl der Frühlingssonne beleuchtet, der alte Mann. Wie irr blickte er mit erhobenem Kopf starr nach Westen, den Geschossen entgegen. Herr von Esserte packte ihn. Der wollte unwillig sich wehren. Als er aber sah, wer vor ihm stand, ging er ruhig mit und sagte im seinem feierlichen schönen Französisch:

»Sehen Sie, mein Herr, wenn ich an diesem Park etwas liebgehabt habe, so war es diese stolze Wellingtonie, obwohl sie unglücklicherweise zu dicht gestanden hat und im strengsten Sinne eines Dendrologen nicht gewachsen ist wie sie soll. Aber haben wir nicht auch Mitleid mit einem Krüppel, vielleicht mit einem solchen desto mehr?«

Major von Esserte zog ihn fort. Er ließ sich geleiten, aber er sprach ruhig weiter:

»Die schönere, die untadeligere meiner Töchter ist die jüngste, mein Herr. Mit der anderen ist eine dunkle Sache geschehen. Ich weiß nicht wer. Sonst hätte ich ihn getötet. Es ist wie mit dem Baum. Solch Kind liebt man dann am meisten.«

Aber der Generalstabsoffizier hauchte ihn hart an:

»Vorwärts, Sie müssen hinein.«

»Warum?«

»Weil Sie nicht ums Leben kommen sollen.«

»Mein Leben ist mir gleich. Und Ihnen kann es gleich sein, mein Herr, ob ich getötet werde.«

Da kam über des Herrn von Esserte Lippen ein bitterer Scherz:

»Sie irren, Monsieur, das kann mir nicht gleich sein, denn Sie machen uns Arbeit, wir müssen Sie begraben.«

Der alte Patriot sah, als Major von Esserte ihn weiterzog, den deutschen Offizier mitleidig an:

»Sie haben wohl Angst, mein Herr?«

Der Generalstabsoffizier antwortete höhnisch:

»Jawohl, um Sie.«

Dann riß er ihn keuchend zum Keller herein. Und der Herr des Krieges dort oben in den Himmeln war ihnen gnädig. Er gebot den Granaten Halt auf diesem Wege, der Sekunden darauf den Tod bedeutet hätte, denn eine 28 cm schlug dort ein, wo sie gestanden, und riß den ganzen Fahrweg fort. Der alte Patriot trat ein, nach dem hellen Licht des Tages unsicher in der Dunkelheit. Laetitia starrte den Mann an, der ihren Vater wie ein Engel durch den Tod geführt hatte. Sie brach vor ihm zusammen, umklammerte seine Kniee, und küßte, als er sie erschrocken aufrichten wollte, seine Hand. Dann flüsterte sie, in den Lauten ihrer Kindheit:

» Je t'adore! Je t'aime éperdument!«

Trotz des schweren Feuers blickten die Deutschen noch immer zum Himmel auf, wo droben die Flieger sich wie kämpfende Adler umkreisten. Welche behaupteten, einer müsse den andern rammen, etwa wie ein Kriegsschiff das andere. Als Wolken einen Augenblick die Flieger verbargen, verlor man sie aus den Augen, fragte, wo sie waren, verwechselte sie und einer schrie:

»Unserer flieht!«

Ein Kluger sagte:

»Er hat wahrscheinlich kein Maschinengewehr.«

Drei Engländer waren es jetzt gegen einen. Warum kam kein anderer deutscher Flieger? Man schimpfte über die Abwehrkanonen. Sie schössen immer zu kurz. Einer belehrte:

»Das kannst du von hier nicht beurteilen.«

Aber während sie noch stritten, geschah etwas Erstaunliches: Von irgendwo aus den Wolken schoß ein Doppeldecker fast senkrecht, gleichsam abstürzend auf jenen Engländer herab, der am tiefsten flog. Der da niederstieß wie ein Geier, mußte ein deutscher sein, wer wollte es sagen in Nebel und Dunst? Dann kippte der Engländer und fiel senkrecht herab aus Himmelshöhen. Ein Rauchschweif zog hinter ihm drein. Wie ein Blatt vom Baume geweht, schwebte er nun rechts, links, taumelte, schien sich in Luftschichten wieder zu fangen, gleich einem, der beim Fallen auf die Beine gekommen ist. Aber nun sah man es: Der eine Flügel stand im rechten Winkel. Er klappte zusammen. Spanndrähte mußten gerissen sein. Ein Feuerstrahl leuchtete gegen das Grau der mählich heraufsteigenden Wolken. Schwarzen Qualm spie das Flugzeug zum Himmel und wie eine schräg niederfauchende Rakete schoß es immer rasender der Erde zu, sackte ab, stürzte, Rauch und Qualm noch lange hinter sich lassend. War es hinter die deutschen Linien gefallen? Es schien wahrscheinlich. Es war gewiß. Ein Jubel ging durch die deutsche Front, trotz des schweren Feuers, das doch mit seinem Donnerdröhnen der Flieger wegen den Atem nicht anhielt. Der zweite Deutsche war im Gleitfluge ruhig bei Opendaele niedergegangen. Nun setzten die Abwehrkanonen wieder ein und bespien die Engländer.

Unter dem Schutt des Hofes von Ralinghien, wo sie wie Maulwürfe hausten, war das Gerücht aufgekommen, vielleicht durch eine Gefechtsordonnanz, am Himmel gehe etwas vor. Und Major Rennhöfer, der in der Tür stand, rief, nun fast auf Seite der bedrohten Engländer, als die deutschen Schrapnells die Fliehenden umplatzten:

»Das ist keine Kunst!«

Schien aber doch eine Kunst zu sein, denn sie verschwanden, den englischen Linien zu. Einer freilich mußte, im Gleitfluge, so scharf über den englischen Gräben niedergehen, daß sie bei Sprengtrichter Höhe 40 plötzlich ein Salvenfeuer gegen ihn eröffneten. Als Rache flog krachend eine Mine herüber. Die Posten der Golmer Brigade sahen sie kommen, mit ihrem Stiel, taumelnd wie ein Trunkener. Sie sauste in den Graben, halb auf die Rückenwehr. Ein Donner dröhnte, schwarzbrauner Rauch und Dreck ward turmhoch aufgeworfen, Faschinenkörbe sanken, fielen, Sandsäcke öffneten zerfetzt ihren Leib und ließen Erde niederrieseln, als wollten sie die drei Mann, die dort lagen, begraben, denn sie waren tot. Deutsche Krieger, deren zerrissene Leiber jetzt mit flandrisch-französischer Erde vermischt an den Säcken klebten, vor dem Eingang zum Unterstand. Deutsche Krieger, deren Frauen, Kinder, Eltern, Lieben daheim vielleicht eben die Feldpostkarte gelesen hatten, welche begann:

»Sorget euch nicht, mir geht es soweit ganz gut.«

Der Qualm schwebte noch über dem Graben, als die Kameraden zusprangen. Ein Trichter war gerissen. Die Wände, gelb verglast wie bei Blitzschlägen, waren auf der Grabensohle schön mit Planken belegt und mit Wasserabzug versehen. Drähte liefen, ein Sack hing noch unversehrt. »Für Brotreste« stand darauf, und ein anderer daneben »Für Patronenhülsen«. Auch die Verordnung, was beim Angriff zu geschehen habe, stand deutlich zu lesen. Ein kleines Magazin von Munition lag unberührt. Im Handgranatenkasten schlummerten ruhig die Granaten. Und in einer Blutlache stand ein Stiefel, als ob einer ihn im tiefen Boden hätte stecken lassen. Den Fuß mit, denn aus dem Stiefel ragte der Stumpf. Man grub aus, man bettete. Ein Sanitäter beugte sich vergeblich nieder. Der Kompagnieführer stand eisern da. In die Zeltbahn wurden die Reste der Toten gebettet. Mit ernsten Gesichtern: Jedem konnte das gleiche geschehen. Aber sie hatten soviel Kameraden fallen sehen, heute traf es diesen, morgen jenen, und dann half das ewige, große Allheilmittel: Die Arbeit. Die Toten wurden im Graben hingelegt. In solchem Feuer konnten sie nicht zurückgetragen werden: Man mußte warten bis zur Nacht. Die Arbeit begann, im Jagen und Splittern der Geschosse gingen sie daran, den Graben frei zu machen, die Böschung zu befestigen. Über ihnen, um sie, vor ihnen, in ihrem Rücken tobte der Artilleriekampf, nun die Sonne schon tief stand, fast zunehmend an grauser Wut. Der Himmel hatte sich bedeckt. Die Flieger waren verschwunden, wie Vögel abends schlafen gehen. Schwere Wolkenmassen wälzten sich von Westen heran. Bald lag das weite Schlachtfeld, in dessen erschreckter Öde die Kreatur verborgen lebte, wieder aller Farbe entkleidet, die eine gnädige Frühlingssonne auf die erwachenden Fluren gezaubert hatte. Wind machte sich stärker auf und trieb die Wolkenmassen vor sich her, als sei dort oben Amazonenschlacht. Heißer Odem hauchte über die schwüle Erde. Und nun die Schatten niedersanken, wachten die Feuer des Krieges auf. Wie Funken an elektrischer Leitung zuckten die Schrapnelle Blitze. Blitzend stand der Granatenfeuerschein gegen einen dunkeln Erdwall, einen schweigenden Wald, gegen die Mauer verbrannter Ortschaften. Vor den spähenden Augen der Artilleriebeobachter in all den Essen, Mauerresten, hoch in Baumgerüsten, zuckten Mündungsfeuer auf. Nun funkten Drähte, Meldungen gingen, plötzlich kreiste das Feuer der deutschen Geschütze Punkte ein, die nach Fliegermeldung als Batteriestellungen vermutet worden. Löcher blieben in dem tödlichen Feuerkreise, die Senkungen, Höhen, ganze Abschnitte gar feierlich harmlos machten, während knapp daneben Einschläge den Boden zerrissen und die Luft schwängerten mit ihrem Rauch. Er mischte sich mit den Wolken des Himmels, er schwebte als Dunstwand über der Erde, wenn der Wind seine Schleier nicht zerriß, daß weite Stellen des grausig schönen Schlachtenbildes wie mit Nebelflecken bedeckt schienen, oder als blicke einer durch ein angelaufenes Glas.

Da klang plötzlich in das Rollen der Geschütze, den tobenden Lärm des Riesenkampfes der Menschen etwas hinein, als ob eine neue Kanone, unbegreiflich an Seelenöffnung und furchtbarer Gewalt, ihren stählernen Mund erschlösse. Hatten die Deutschen einen neuen 100 cm aufgestellt, gegen den alle anderen in nichts versanken? Stand an geheimer Stelle ein Kruppgeschütz eingebaut, das den Fleiß langer Jahre, Berechnung und Voraussicht bester Köpfe, Schießplatzerprobung, Millionenkosten mit einemmal umsetzte in furchtbare Tat? Ein Mündungsfeuer blitzte, nicht auf dieser armen Erde, wo Menschengewürm sich wütend bekriegte, nein, aus den Himmeln zuckte ein feuriger Strahl. Ein Rollen klang, das alles Toben der Tausende von Geschützen überbrüllte. Der allerallerhöchste Kriegsherr ließ seine Stimme reden. Es zuckte, wetterleuchtete, blitzte am Horizont. Dort oben hob eine Schlacht an, Wolken gegen Erde, Erde gegen Wolken, Dunstballen verschieden geladen gegeneinander, eine Schlacht in Himmelshöhen, gegen die alles als lächerliches Menschenwerk zerfiel, was die Gegner taten da unten, an den endlosen Fronten. Es wurde völlig Nacht, die Fesselballone waren längst niedergegangen, die Flugzeuge verschwunden, wie Vögel sich retten, ehe das himmlische Gewitter beginnt. Das Krachen, Donnern, Schmettern, das Rollen dort unten, längst zusammengeschmolzen in einen einzigen gewaltigen Trommelton, erstarb gegen das Gewitter, das dort oben mit klingendem Spiel, mit himmlischer Posaunengewalt, in Wolkenhörnern daherzog, unter grellem Schmettern der Becken, dumpfen Wirbeln der Trommeln, tobendem Paukenschlag. Und es war, als ließe die Kraft der Gegner ein wenig nach, ja erstürbe ehrfürchtig, nun die Gottheit selber sprach. Granatenfontänen tanzten nicht mehr, als hätte Moses die Erde mit seinem Stabe berührt, daß Quellen sprängen. Mauern prasselten nicht mehr zusammen. Armselige Reste blühender Dörfer wurden nicht mehr niedergewalzt. Die hohen Bäume stürzten nicht länger, die Gräben wurden nicht zugeschüttet, die Geschosse pflügten die Felder nicht mehr, und nicht mehr öffneten die Granaten in Friedhöfen Grüfte jener, die da gemeint, selig der Auferstehung entgegenzuschlafen, und nun wieder hinausgeworfen wurden in den irdischen Haß. Als habe der Himmel Frieden geboten, nun eigene Schlachten auszufechten, ließ der Geschützkampf nach. Vielleicht vernahm man auch die schwache Menschenstimme nicht mehr gegen das Brüllen himmlischer Donner. Mit einem gewaltigen Schlage hörte es auf. Die Wolken standen: Der Wind, der bislang in immer gleichem Fauchen von Westen herübergebraust war, setzte aus, schlug um, und in der bangen Stille der Luft fielen schwere Tropfen. Einzeln fielen sie zuerst, Punkte, dann mit Strichen gemengt. Die Striche nahmen zu, wuchsen zu langen, dicken, gleichmäßigen Strahlen wie aus einem Siebe niederschüttend und durch den langen Weg in kristallene Glanzstreifen gedreht. Der Regen prasselte vom Boden ab, und in dem ganzen weiten Land stiegen statt Säulen der Granaten kleine Wasserkegel empor. In den Batterien wurde das Feuer völlig eingestellt. Man bedeckte die Geschütze mit Zweigen, Planen, Tüchern, Zeltbahnen. Alles floh in die Unterstände. In den Dachslöchern der Gräben zogen sie die Beine an. In zerschossenen Häusern am Wege wurden kärgste Mauerreste begehrt, sogar dem Gegner zugewendet: Er schoß ja nicht mehr. Man holte Mäntel hervor und Decken. Braune Gestalten standen da, in Zeltbahnen gehüllt. Unter den Brücken hatten sich welche verkrochen. Was neues Feuer, das sich über Verwundete ergoß, nicht vermocht hätte, bewirkte der Frühlingsregen, der warme, der als Wolkenbruch niederprasselte: Sie suchten in letzter Anstrengung sich zu verkriechen. Nur die Toten regten sich nicht. In ihrer Todesnot hatten sie sich vor dem Sterben in Granattrichter gerettet, die sie in ihrer Tiefe gegen Sprengstücke wenigstens deckten. Wie nun der Regen zunahm, der undurchlässige Boden die Wassermenge nicht mehr schlucken konnte, schwoll das Wasser in den Gräben, füllte Senkungen, bildete in den Granattrichtern Tümpel und Teiche, hob die Toten dort, daß sie schwimmen lernten und auf der wassergepeitschten Oberfläche trieben; hob sie in den Straßengräben, in die es in Bächen lief. Von der Strömung getragen, zogen sie nun in letzter furchtbarer Fahrt langsam dahin, strandeten, hakten sich fest, blieben auf das Land hinausgespült ruhen, oder strudelten dahin, die Abläufe verstopfend und so neue Überschwemmung gebärend. Das Wasser begann zu steigen in den tausend Gräben der Front, die Kanäle, die Sickergruben faßten es nicht mehr: Gurgelnd floß es hin oder füllte träge die Unterstände und bedrohte mit Ersaufen, was dort verkrochen lag. Als der Himmelssegen ebbte, zogen die dunkeln Wogen ab. Nun sah man erst, daß nur sie das Nachtgewand über die Erde geworfen hatten, denn noch stand die Sonne am Himmel. Wie sie blendend ihre letzten Strahlen herübersandte, blitzten im ganzen Land die neuen Wasserspiegel, als läge eine Seenplatte dort, und das Netz der Gräben, von der Riesenarbeit von Monaten gesponnen, gleißte als silbernes Geäder.

Sobald die Abendsonne blutig das Feld beschien, redeten die Kanonen nach kurzem Schweigen wieder ihre furchtbare Sprache. Und nun warfen die Granaten aus dem übersogenen Boden nicht Erde allein empor, nein gelben Lehm und Dreck. Ihren Kern von Rauch und Feuer umspritzten jetzt Wasserstrahlen. Die Neugierigen, die dem Luftkampfe zugesehen, steckten wieder tief in den Unterständen. Nur die Posten standen unbeweglich an ihren Schilden und blickten hinaus, ob der Feind käme. Die Granaten rissen die Drahthindernisse entzwei, hoben eine englische Leiche und warfen sie im Bogen in den deutschen Graben. Neben dem Posten fiel der tote Körper nieder. Der auf der Wacht rührte sich nicht. Er blickte hinaus, seinem Befehle gemäß. Ein deutscher Soldat.

In den Unterständen saßen die Grenadiere; in kleinen Löchern, die sie sich notdürftig gescharrt, kauerten sie zusammengebogen, auf den Augenblick wartend, daß der Ruf klänge: »Der Feind greift an!«

Es konnte nicht lange mehr dauern, denn nun lag die ganze Wut des Feuers wahnsinnig gewordener Geschütze vorn, daß Kampf- und Deckungs- und Verbindungsgräben verschüttet würden, eingeebnet, niedergewalzt. Nun fielen in Opendaele, in Ralinghien, dem Dorf, keine Granaten mehr. Die Yperner Straße war ein sicherer Spaziergang. Alles, was dort Deckung gesucht, setzte sich wieder in Marsch. Munitionskolonnen gingen weiter. Sanitätswagen kamen aus den Scheunen heraus, hinter deckenden Mauern vor. Auf dem Wege nach Belvoorde hockte ein gefällter Ochse im Graben, blickte geradeaus, starr, unbeweglich, aus verglasten Augen. Tote Pferde lagen mitten auf der Straße. Hier war ein Volltreffer in vorfahrende Artillerie geprasselt, die ihre Stellung wechseln sollte. Seit dem Morgen erst lagen die Tiere dort und doch hatten sie schon gedunsene Leiber. Die Soldaten gingen daran, sie abzuschirren. Man ließ die einen liegen, man warf die anderen in den Straßengraben, daß das gurgelnde Wasser spritzte. Ein zerschossenes Auto stand umgekippt quer über dem Weg, Granatsplitter im Motor. Auf den verbogenen Blechteilen konnte man eben noch lesen, daß es der Brigade Golm gehörte. Tornister, Mäntel, Stiefel, Patronentaschen von Gefallenen oder Verwundeten, die sie nicht mehr hatten schleppen können, sielten umher. Von vorn kamen Verwundete zurück. Welche konnten nicht weiter und warfen sich auf die nasse Erde. Feldgendarme suchten Ordnung zu halten. Seitwärts hielt im Kraftwagen ein Stab, die Karte ausgebreitet. Von irgendeinem Transport lag Heu umher. Eine Marschkolonne wartete, Gewehr bei Fuß, auf Befehl: Reserven, die vorgebracht werden sollten. Schon waren neben der Straße Kolonnenwege in Lehm und Dreck getreten. In einem Estaminet an der Yperner Chaussee lauerten Leute, man wußte nicht auf was. Telephonisten standen am Wege. In einem zerschossenen Kaffee lag auf dem Billard – merkwürdig, daß es noch da war – einer, um den Ärzte arbeiteten. Das Rote Kreuz im weißen Grunde wehte. Und trotz dem Dunkel sah man helle Haufen blutiger Tücher: Abgenommene Verbände.

Plötzlich kamen wieder Granaten geheult. Mitten im Tosen des Trommelfeuers vorn auf die Gräben, streuten ein paar Geschütze. Alles warf sich nieder. Welche sprangen in den Straßengraben, wo die Leichen schwammen. Einer tauchte unter, als wäre er sicher so. Draußen auf dem Feld schlug es ein. Den Donner hörte man, sah Feuerschein.

Major von Esserte kam dahergefahren auf dem Wege zur Brigade. An der Straßenkreuzung ließ er den Wagen warten. In der Dunkelheit, nur vom Blitzen der Mündungsfeuer oder der Leuchtraketen unterbrochen, trat ihm einer entgegen. Ein Grenadier mit vollem Gepäck. Der Generalstabsoffizier fragte:

»Wo gehen Sie hin? Wo kommen Sie her?«

Meinte er doch nicht anders, als es könne ein Drückeberger sein. Der Mann nahm sein Gewehr ab und stützte sich darauf. Er fand nicht gleich die Antwort.

Endlich sagte er:

»Ich bin verwundet.«

Da nun jeder Verwundete einen vorgeschriebenen Zettel mitbekam am Knopf des Waffenrockes, darauf die Art der Wunde, der letzte Verband stand und wann er erneuert werden müßte, griff der Major suchend danach und der Mann sagte keuchend:

»Ich habe keinen Arzt gefunden.«

Der Major sah ihn scharf an:

»So, ist das wahr?«

Da riß der Grenadier den Waffenrock auf, daß die Knöpfe fast sprangen. Man sah das blutige Hemd und daß ihm der rote Lebenssaft das Futter der Uniform völlig besudelt hatte:

»Brustschuß, Herr Major!«

Dem Generalstabsoffizier griff es weh ans Herz und innerlich kam doch Jubel über ihn: So waren deutsche Soldaten. Er fragte voller Teilnahme:

»Sind Sie weit gegangen?«

»Höchstens 'ne Viertelstunde, Herr Major.«

Major von Esserte nahm den Grenadier unter den Arm und führte ihn die Straße zum Kraftwagen:

»Klostermann, fahren Sie den Verwundeten zum Verbandsplatz.«

Als der Major zu Fuß bei der Brigade ankam, sagte General von Flurschütz:

»Ich glaube, so war das Feuer in der Champagne nicht. Oder bildet man sich's nur ein? Und sie kommen doch nicht durch, die Jamfresser, die verfluchten, trotz des farbigen Gesindels, das sich für seine Unterdrücker totschießen lassen muß. Ich denke, nun geht der Angriff bald los.«

Aber der Generalstabsoffizier meinte, es würde wohl noch dauern. General von Flurschütz war bereit, es zu erörtern, aber der Major mußte zurück. Auf der Yperner Straße traf er einen Wagen mit einem Generalstabsoffizier vom Korps. Der nahm ihn mit, und so fuhren sie an jener Marschkolonne vorüber, die auf der Chaussee wartete, um, wie Anruf und Gespräch erwies, über Belvoorde vorzustoßen.

Wohl stand man hier noch im Kugelschatten, aber weiter vorn schien Infanteriefeuer zu prasseln, und ein Leutnant, der Befehl gehabt, festzustellen, ob man gedeckt weiterkäme, war nicht zurückgekehrt. Nur sein Bursche kam wieder, um zu melden, sein Herr läge auf der Straße, und dort sei der Teufel los. Dann ging der treue Mann wieder vor, um seinen Herrn zu bergen. Während über ihn Infanteriehagel ging, pirschte er sich auf dem Bauche kriechend heran, bis zu dem toten Leutnant. Da bekam er einen Schlag an die Schulter. Wütend sah er auf. Kroch weiter. Schlag am Oberschenkel. Ganz gleich. Eidechsengleich schob er sich fort. Da lag der Leutnant auf dem Gesicht, wie des Oberleutnant von Gereck toter Husar. Da nun die Straßenbettung aufspritzte von den einschlagenden Geschossen, so schmiegte er sich an seinen toten Herrn, so nahe, wie er ihm im Leben nie gewesen war. Und der Leutnant, der ihn einmal vor schwerer Strafe gerettet hatte, deckte ihn auch jetzt. Der Bursche drängte sich dicht an den Leichnam, und ein paarmal war es ihm, als ob der Herr Leutnant wieder anfinge zu leben, denn er hob sich bisweilen, wenn eine Kugel ihn neu getroffen hatte. Dann zuckte er, als wollte er sich herumwälzen, dem treuen Grenadier etwas zu sagen. Da wurde es dem Burschen grün vor den Augen. Er fühlte, sein Hals war naß, etwas lief ihm die Hose herab. Nun wußte er, daß er verwundet war. Und den Tapferen überkam, wie ihm schwach wurde, glatte Angst, denn er dachte: nun bringe ich meinen armen Herrn doch nicht zurück, denn nun trifft's mich noch einmal, und wenn ich sterbe, wird der Herr Leutnant noch ganz zerfetzt. So schob er sich auf dem Bauche rückwärts und zog als Deckung die Leiche seines Herrn mit. Er dachte, niemand sieht's, ich habe Angst. Der Herr Leutnant würde mir's verzeihen. Er hat immer geschimpft über welche, die dummdreist drauflos gingen; hat immer gesagt, man solle vorsichtig sein.

Ein paarmal verließen den Burschen die Kräfte. Wieder stiegen ihm Nebel vor den Augen auf; aber fester verkrampfte er sich in den Waffenrock, in die Hose des Toten, und zog ihn rückwärts, daß der Leichnam auf der Erde hinschurrte. So kamen sie über die Höhe. Und nun war es mit einemmal still. Wohl brüllten rund um ihn immer fürchterlicher die Geschütze, doch die Infanteriekugeln machten nur noch selten einmal sssss. Da sagte sich der Bursche, du mußt noch weiter zurück, denn wenn du aufstehst, bietest du mehr Ziel. So schleifte er den Gefallenen noch eine Weile. Er hatte seine Wunde vergessen. Nur wie er ihn jetzt aufladen wollte, den toten Leutnant, der ganz voll Lehm und Schmutz war, denn er hatte ihn richtig gerollt, fiel ihm der rechte Arm schlaff herab. Da nahm er den Leutnant bei der Hand, die er ihm während der ganzen Dienstzeit dreimal nur gedrückt, einmal als er vom Urlaub zurückkam, dann als seine Mutter gestorben war, endlich, als er in der Champagne einen verwundeten Kameraden vor dem Drahthindernis hereingeholt hatte in den Graben. Die Hand war noch warm, aber sie gab den Druck nicht mehr zurück. Nun schleifte er den Toten, er mochte es ihm verzeihen, weiter, bis er in der Dunkelheit, die jetzt ganz hereingebrochen war, die ersten seiner Kompagnie traf. Dann fiel er um, der Bursche. Fiel um. Er hörte mit noch, wie eine Stimme ihn belobte, aber er wehrte es ab mit halbem Denken:

»Ich habe Angst, Herr Leutnant.«

Angst hatten sie nicht, wie der tapfere Kerl, die Leute da vom in den Gräben, unter dem Trommelfeuer, das nun so rasend tobte die ganze Front entlang, daß man Abschuß und Einschlag nicht mehr schied. Sie warteten, mit ernsten Zügen, hinausblickend auf das Vorfeld, ob der Feind käme. Männer, die nicht mehr Menschen schienen, sondern nur Kampf, nur Sieg, nur Pflicht, nur Dienst: Deutsche. Auch wenn die Sprengstücke flogen, blieben sie starr stehen. Nur wenn ein Volltreffer einmal in den Nachbarunterstand schlug, ihn gänzlich verschüttend, kamen sie, sobald giftige Gase, Gestank und Qualm sich verzogen hatten, herausgekrochen aus den Löchern, patschten und panschten durch die Kanäle – denn Gräben waren es nicht mehr – nahmen die Spaten, und wo dumpfe Rufe klangen, oder wenn das Ohr dicht an die Lehmwand gelegt Wimmern, Stöhnen hörte, fingen sie an zu graben, zu buddeln, zu karren, zu schippen, zu schuften, bis ein Bein zum Vorschein kam, ein Arm, ein Kopf, ein Kamerad. Sie zogen ihn heraus. War er verwundet, so trugen sie ihn zum Sanitätsunterstand zurück, während rundum neue Einschläge krachten. Hatte ihm der Herr der Schlachten ein Ende bereitet, so betteten sie ihn still beiseite, ihn später zu begraben, später, wenn Zeit war, mit Rede, Gesang, Tränen, Blumen, Kreuz und Inschrift.

Minen kamen jetzt taumelnd geflogen, warfen die Brustwehren ein, rissen hinten gewaltige Trichter, als sollte es der Erdaushub der Bauleute für ein großes Haus sein. Häuser trugen sie ja auch ab, wenn sie einen Unterstand trafen, darinnen alles gepfercht lag, das sich aus anderen zerschossenen Löchern hergerettet hatte. Minen kamen getaumelt und ebneten die Gräben ein, wo immer neue Posten die Wacht hielten für das, was noch übriggeblieben war. Minen kamen getaumelt mit Gebrüll und Donner, daß all das Getöse der Schlacht rundum verschwand. Sie warfen Erd- und Drecksäulen auf, höher als die höchsten der gewaltigen Ulmen im Hof in Flandern. Sie verfinsterten die Luft, daß man das Feuerwerk der Leuchtraketen nicht mehr sah, denn der ganze Himmel stand jetzt in Gluten. In wunderbaren Flammenstreifen schossen sie schräg über das dritte Reich oder stiegen senkrecht auf. Dann schwebten am Himmel Sterne, ihnen entbunden, an den Fallschirmen nieder, Sterne, die durch die Lüfte trieben wie gewaltige Quallen im Meer. Und immer wieder erlebten die niedersinkenden erlöschenden Leuchtpatronen Auferstehung, in neuem, weißem Licht. Wenn dann grüne, rote Signalraketen blitzten, spähten die Posten doppelt scharf hinaus, denn nun wurde das Feuer verlegt, jetzt mußte der Angriff kommen. Oder hatten sie nach neuem Befehl die Farben geändert? Galt es Nebenabschnitten? Täuschte nur die Entfernung? Der Hagel der Geschosse hörte nicht auf.

Die Drahtnetze gegen die Handgranaten, über den Graben gespannt, gleich jenen schrägen Gittern, durch die Arbeiter an den Straßen Erde sieben, waren zerfetzt. Nicht Gräben gab es mehr, nur noch Grabenstücke, nur noch Trichter. Blindgänger lagen darin, Tote halbverschüttet, Verwundete, deren leises Stöhnen vom Toben irrsinnig gewordener Geschütze überschrien ward. Sprengstücke klebten an den Brustwehren, hingelegt wie zum Vergleich der Kaliber, oder ob des ›neutralen‹ Amerika Liebesgrüße darunter wären. Da träumten Kochgeschirre verstreut, Gewehre solcher, die sie nicht mehr führen konnten, lose Patronen in ganzen Packen, Seitengewehre, Spaten Helme, Mäntel besitzerlos, Mützen halb mit Erde gefüllt. Wurzeln ragten abenteuerlich aus dem Boden, Äste herübergeschleudert von irgendwo. Und immer stiegen die Leuchtraketen auf, gelblichweiß, einzeln, in ganzen Bündeln.

Drüben war jetzt absonderliches Feuerwerk zu sehen: Vorn Patronenmagazine, die einzeln verpufften, dahinter aber ein gewaltiger Brand. Immer heller, ein langer gelbroter Fleck, zuckte und fraß es am Himmel. Seit Stunden brannte es schon. Was brannte? Häuser, Magazine, Stroh oder Unterstände gar? Wer sollte es sehen und sagen? In der Nacht? Bei dem Sprengregen von Blei und Stahl und Eisen? Es lohte steil und still, denn niemand sah man retten. Wer hätte dort, wohin die deutschen Geschütze ihre Zuckerhüte sandten, auch retten wollen? Nie war die Öde des Schlachtfeldes so offenbar wie hier, wo ganze Häuserzeilen, Lager, Magazine, Unterstände flammten und qualmten und keiner sich darum zu kümmern schien.

Im Hasenclever-, im Bißwang-Graben krochen Leute mit Drahtrolle und Kopfhörer hin, die Leitungen zu flicken, denn zwischen vorn und hinten war keine Verbindung mehr. Leutnant von Kropp saß noch immer neben seinem Bruder im Unterstande unter den Wurzeln des Wäldchens, die sie schützen sollten. Sie redeten von Mutter und daheim. Erzählten vom toten Vater. Sprachen vom Gegner drüben. Dann lauschten sie, ob das Trommeln etwa aufhöre, daß man den Augenblick herauszulaufen nicht verpasse. Im Unterstand saß man dichtgedrängt, denn der junge Kompagnieführer rief alles herein, was etwa draußen obdachlos irrte. Aber Unruhe war in ihm. Sie lagen dem Gegner zu nah. So schlich er hinaus. Hans wollte gehen, aber Joachim befahl hier, Joachim, Leutnant und Kompagnieführer, während der jüngere Fähnrich war. Als Leutnant von Kropp an die Straße kam, die hinausführte, sah er am Eingang einen, der emsig kaute.

»Schmeckt's?« fragte er und klopfte ihm auf die Schulter.

Der Grenadier grinste:

»Man muß Vorrat essen, Herr Leutnant. Man weiß nicht, was geschieht. Daß man wenigstens was im Bauche hat.«

Der große Leutnant brüllte, denn anders konnte man bei dem Toben da draußen nicht sprechen:

»Was soll denn geschehen?«

Als der nun sagte, man könnte doch in Gefangenschaft geraten, herrschte der Kompagnieführer ihn an:

»Gefangenschaft? Daran wagen Sie zu denken? Ich sollte Sie rausschmeißen aus dem Unterstand.«

Der Grenadier verstummte, aber Leutnant von Kropp wandte sich um zu den andern:

»Hier gibt es solche Gedanken nicht, hier gibt es nur eins: Kaltmachen jeden Gegner, Seitengewehr in die Brust, schlagt ihm mit dem Spaten die Schnauze ab, mit dem Kolben den Schädel ein.«

Funkelnden Auges sah er den Essenden an. Eben wollte er hinauskriechen, als es einen Krach gab, einen dumpfen, und das Licht erlosch. Eine heiße Luftwelle schlug ihnen ins Gesicht. Feuerschein blitzte. Bretter, Balken knirschten, krachten, splitterten. Die Decke war niedergebrochen. Der lange Leutnant saß am Eingang auf den Stufen: Irgendetwas lastete auf ihm, daß er nicht aufstehen konnte. Er konnte nicht atmen, giftiger Qualm behinderte ihn. Der Gedanke kam ihm an Hans, aber er vermochte nicht zu sprechen. Die Ohren klangen ihm hell. Er wollte die Taschenlaterne leuchten lassen. Sie war ihm abhanden gekommen. Er dachte an den Brotbeutel, darin er sein bißchen Essen gehabt, mühte sich, warf sich zurück, zog die Knie hoch, und es gelang ihm, ein Bein freizubekommen. Dann stand er draußen, taumelte gegen die andere Seite des Grabens und fiel ins Wasser. Da schlug drüben hinter der Traverse, die ihn schützte, wieder eine Granate ein. Sie bespie ihn mit Erde, Kot und Dreck. Ein halber Mensch lag auf ihm. Er dachte: »Lieber Gott, muß es sein, dann schnell und kurz!« Und immer blieb in seinen Gedanken die Hoffnung: Hans ist ja da! Aber war er da? Er kroch den Graben entlang, sprang von Trichter zu Trichter, unter den zerschmetterten, entwurzelten Bäumen des Wäldchens hin. Er dachte: Wo sind denn nur meine Kerle? Ruhig steckte er den Kopf heraus: Drüben in den englischen Gräben, so nahe hier wie nirgends in dem Abschnitt, meinte er die aufgepflanzten Seitengewehre zu erkennen. Sie blitzten über dem Grabenrand: Es ging los.

Das Grauen überkam ihn. Keine Leute waren da. Da sah er in der Dunkelheit etwas kriechen, aus der Erde kommen wie Maulwürfe und Regenwürmer. Einer lachte ihn an:

»Das ist nu 's drittemal, Herr Leutnant, daß sie mich eingebuddelt haben. Jetzt hätt' ich mir beinah mein eignes Grab geschaufelt. Ich sitze schon immer bloß mit dem Spaten in der Hand da. Ich bin in Amerika gewesen, Herr Leutnant. Da haben wir base ball gespielt. So wehre ich die Bälle ab mit meinem Spaten.«

Er fing aufgeregt an zu lachen. Der Leutnant war noch wie schwerhörig von dem Knall vorhin. Er steckte die Finger rüttelnd ins Ohr. War der Mann verrückt? Er nahm ihn beim Arm und zeigte ihm den verschütteten Unterstand. Als er ihn schippen und schanzen sah, unbekümmert um das schwere Feuer, eilte er, noch mehr zusammenzuholen. Sie kamen, der Teufel mochte wissen woher, einer nach dem andern. Es lebte. Es wimmelte. Es kroch. Er sprach mit einem Posten, der regungslos hinausstarrte durch das Loch auf den Feind. Der gab keine Antwort. Er brüllte ihn an, rüttelte ihn: da fiel er um. Granatsplitter. Tot. Nun sprang er von einem Loch in das andere, daß in dem Granatsee am Boden des Trichters hoch das Wasser aufspritzte. Ein Stück des Grabens – sie hatten es immer, weil es so peinlich sauber gehalten war, die gute Stube genannt, war unversehrt. Dort sah er beim Aufblitzen der Leuchtraketen eine Gestalt mit einer Handuhle. Einer in langem dunklen Bart fegte ganz bedächtig die Grabensohle. Leutnant von Kropp tippte ihm auf die Schulter: Er drehte sich um, die kalte Pfeife im Mundwinkel. Der Leutnant fragte:

»Ist denn kein Platz für Sie in einem Unterstand?«

Der, ein Sachse, der auf der Wanderschaft bei dem preußischen Regiment eingetreten war, antwortete gemütlich:

»Herr Leitnant, se schmeißen einen immer Dreckbatzen nein, und wenn sich das zu sehre anheift, hat man zuviel Arbeit!«

Da packte der Leutnant, sonst nicht eben der weichste, den Erstaunten bei beiden Schultern und schrie ihn an:

»Lieber Gott, erhalte meinem Vaterlande solche Kerle wie dich, dann kann uns nischt passieren!«

Der verstand nicht und meinte behäbig:

»Se kommen nich durch! Da brauchen Sie sich nich uffzuregen, Herr Leitnant.«

Leutnant von Kropp kroch auf allen Vieren über die Wälle, von den Granaten aufgeworfen, plumpste in Trichter hinein, und jedesmal, wenn in der Nähe Granaten niederschmetterten, duckte er sich in seinem Loch. Neben ihm lag, halb im Wasser, ein alter Landwehrmann, den nahm er mit. Sie würden schon einen Unterstand finden, den großen Zugführerunterstand hatte er im Sinn. Sie krochen von Trichter zu Trichter, blieben an dem zerrissenen Drahthindernis hängen, konnten dann wieder einmal ein Grabenstück benutzen und standen endlich an dem verschütteten Unterstand.

Dort gruben sie noch immer verzweifelt. Ein Loch hatte sich aufgetan, Menschenteile, Ausrüstungsstücke kamen zum Vorschein. Die Höhlung war zu übersehen. Und dort an der Wand lag ruhig, friedlich, der Fähnrich Hans von Kropp. Der Bruder leuchtete ihm ins Gesicht: Die Mutter würde ihn nicht wiedersehen. Da sagte der Kompagnieführer gefaßt zu dem alten Landwehrmann etwas, das der nicht begriff:

»Es ist immer der Falsche!«

Einen Augenblick blieb er stehen, schloß die Finger ineinander und seine Lippen bewegten sich. Dann rief er laut »Amen« und drehte sich um zu den Leuten, die noch immer gruben:

»Laßt die Kameraden liegen, wir haben jetzt keine Zeit. Sind Verwundete hier?«

Auf dem Boden des Grabens saß in der eklen Pfütze der Telephonist und schüttelte sich im Weinkrampf: Die Nerven. Daneben lag der eine Melder. Der Leutnant sah den zerrissenen Rock, kniete nieder und begann ihm, mit dem Riesenmesser, daß er an der Seite trug, den Ärmel abzutrennen. Dann nahm er ihm das Verbandpäckchen selbst ab und während er mit eiligen Fingern die Wunde schloß, lauschte er in das Getöse, das ununterbrochene Trommeln, Donnern und Rollen hinaus, und sagte zu den Leuten:

»Paßt auf, wann sie kommen.«

Sie saßen im großen Zugführerunterstand. Leutnant von Kropp hatte die Ellbogen auf die hochgezogenen langen Beine gestützt und verbarg das Gesicht in den dünnen knochigen Fingern, an denen ein Wappenring, ein Jaspis, steckte. Er dachte an seinen Bruder. Vergaß aber nicht seine Pflicht, denn immer wieder lauschte er ängstlich hinaus, ob etwa das grauenvolle Getöse, das die Erde erbeben ließ, ein Ende nehme. Sie hatten den Fernsprecher angeschlossen und versuchten nach verschiedenen Stellen zu sprechen. Aber sie bekamen keine Antwort. In dem Unterstand wurde mehrmals der Eingang verschüttet. Das Licht ging aus. Sie wedelten, husteten, da es aber in dem gutgebauten Loch zwei Ausgänge gab, konnten sie einen Durchzug erzielen. Wenn dann Ruhe eingetreten war und frische Luft hereingeströmt, saß der Leutnant wieder da, dicht am Eingang, daß er gleich hinauskönnte, das Gesicht mit den langen Fingern bedeckt, und dachte an seine Mutter. Aber kein Gefühl des Jammers oder eines Entsetzlichen bedrückte ihn, nein, dieser Mann, der eisern seine Pflicht tat, hatte hier nur das Bewußtsein gewissermaßen einer Naturgewalt, einem unerhört Großartigen gegenüberzustehen, etwa wie einer, der neben sich das Schütten einer Lawine in der Eisrinne erlebt.

Im Unterstand waren allerlei Leute zusammengedrängt. Auch der vom Weinkrampf Niedergeworfene. Sie hatten ihm einen Schluck Wein aus der Feldflasche gegeben, und er war jetzt ganz ruhig. Nur einmal, als wieder das Licht ausging und nach dem Donner über ihren Häuptern Schwefelschwaden zogen, riß es ihn förmlich zusammen. Sobald aber die Kerze wieder brannte, sagte er zu seinem Nachbar, jenem, der vor der Gefangennahme hatte essen wollen:

»Wenn's nur mal losginge! Wenn sie nur kämen. Ich wollte ihnen schon den Schädel einschlagen! Nur dies Warten ist so schrecklich!«

Aber der andere, der immer noch zu essen hatte, weiß der Teufel, woher, meinte ruhig:

»Nun, hier ist's doch ganz gemütlich.«

Der Nervöse, glücklich, zu schwatzen, damit es ihn über die Zeit hinwegtäusche, stieß hastig hervor:

»Du mußt nicht schlecht von mir denken. Ich habe doch nun schon mehrere Angriffe mitgemacht und mich hat's nicht gebangt. Du kannst ganz ruhig sein. Das Herz habe ich schon auf dem rechten Fleck. Aber ich halt's einfach nicht mehr aus. Mir knicken immer die Beine ein. Wenn sie nur kämen! Wenn sie nur kämen!«

Der Esser kaute und erzählte dabei von zu Haus. Er war Bäcker. Er hatte gelesen, die Nachtarbeit sei abgeschafft worden. Er meinte, das sei Unsinn. Dann verdiente man wahrscheinlich weniger. Er wollte gerade nachts arbeiten. Einer, der ihm fast auf den Knien saß, so eng waren sie hier zusammengepfercht, mischte sich in das Gespräch:

»Ach was, der Beruf. Zerbrecht euch doch darüber nicht den Kopf. Was nach dem Kriege wird, kann uns ganz gleich sein. Ich möchte überhaupt nicht mehr zurück.«

»Was bist du denn?« fragte einer.

»Ich hab 'n kleenes Exportgeschäft gehabt nach Rußland. Das is nu doch hin. Zerbrecht euch nur nich den Kopf über das, was zu Hause is!«

Doch der alte Landwehrmann rief dazwischen:

»Ihr Kerle wollt wohl die Heimat vergessen!«

Da wurde der Kaufmann mit einemmal beredt:

»Nee, das nich, aber gibt's was Gewaltigeres als dieser Krieg? Ich bin über See gefahren, habe an den Bermudas Schiffbruch erlitten! Dreck ist das gegen den Krieg.«

Irgend eine Stimme rief aus der Dunkelheit:

»Ob du nun ersäufst oder hier verschüttet oder erschlagen wirst, ist doch schnuppe!«

»Egal, meinst du? Blech. Wäre ich da draußen ersoffen, so hätte das gar keenen Zweck gehabt. Dummer Zufall. Wenn hier einer fällt, weiß er doch warum. Es gibt nichts stolzeres als den Tod fürs Vaterland, für die deutsche Geltung in der Welt. Ich weiß, was wir draußen sind. Das wißt ihr nicht!«

Da sagte einer im Hintergrund:

»Red nich solchen Stuß. Ich bin sieben Jahre Heizer gewesen. Will nachher mal mein Garn spinnen. Ich lebe sehr gern. Will nicht umkommen. Aber wenn man am Kessel verbrüht, nur weil ein Tölpel das Ventil nicht dicht gemacht hat, das hat keenen Zweck. Aber hier stehen wir für Kaiser und Vaterland.«

Mit dem dumpfen Donner eines Einschlages erlosch abermals die kleine Kerze. Sie zogen die schmutzigen Taschentücher und hielten sie sich vor Nase und Mund. Einer wollte den Staub abwischen, der ihm fingerdick auf dem Rock lag, aber die andern litten es nicht, dann könnte man gar nicht mehr atmen. Inzwischen drängten sich wieder welche, die obdachlos geworden waren und nun im Graben herumkrochen, herein und nahmen des Leutnants Platz.

Leutnant von Kropp stand beobachtend draußen neben dem Posten. Man konnte kaum weiter als das Drahthindernis sehen, auch wenn die Leuchtraketen zu Dutzenden am Himmel standen. War es Nebel oder der Rauch der Geschosse? So ohrbetäubend war jetzt das Trommeln, daß Leutnant von Kropp, dem vom Einschlag vorhin es noch immer merkwürdig hell in den Ohren summte, sich die Finger hineinsteckte, sie hin und her bewegend etwa wie nach dem Bade.

Da, als die Gewalt der Granaten die höchste Wut erreicht zu haben schien, die schwersten Kaliber hell singend die Luft durchpflügten, Minen taumelnd heranwackelten, der ganze Umkreis nicht allein in Brand zu stehen schien von Leuchtraketen, sondern auch Brandgranaten lohendes Feuer aus dem Boden schlugen, stieg am Himmel jäh in all den weißen Lichtern eine Signalrakete auf, sieben grüne Sterne gebärend, die in wunderbarem Farbenglanz langsam niedersanken. Mit einem Schlage erlosch alles andere Licht. Das Brüllen der Kanonen schwieg und wie ihr Donner in den Unterständen nicht mehr gehört ward, der Boden nicht mehr zitterte, fuhren sie alle auf und lauschten.

Leutnant von Kropp drehte sich um und schrie mit aller Kraft seiner gewaltigen Stimme in den Graben hinein: »Raus!« Und dann: »An die Gewehre!« Von einem zum andern pflanzte der Ruf sich fort: »Sie kommen!« Nun stürzten die Grenadiere aus den Unterständen, aus den Gräben, die man gemeint hatte einzuebnen, darin nichts mehr atmen könnte. Wieviele auch verschüttet lagen oder von Granaten zerfetzt, aus den Unterständen wand es sich doch, aus dem Wasser in den Trichtern krochen sie an Land, ans Ufer. In den spärlichen Grabenresten erschienen ihre Köpfe über der Brustwehr. Sie hatten im Laufen das Gewehr entsichert, wer es noch nicht gekonnt, riß den Überzug herunter, ja welche fanden noch, so der Bäcker, der immer noch kaute, in Ruhe die Geduld, das Hilfskorn abzunehmen. Die Grenadiere hatten umgeschnallt, das Seitengewehr aufgepflanzt, die Taschen voll Patronen gesteckt. Die Maschinengewehre wurden enthüllt: Die Verblendungen, Stahlschilde, Ziegel, Bretter zurückgestoßen: Die Schußbahn war frei. Eines der Tack-Tack schwieg, denn kein Mann der Bedienung war mehr da, eines lag tief verschüttet unter der Erde, die andern aber standen bereit und ein letztes wurde aus dem Unterstande vorgetragen in die Sappe. Dort am Wäldchen ward es am Sappenkopf schräg aufgestellt. Sie kamen, kamen aus den Nebelschwaden, aus den Dunstwolken, aus dem Rauch der zuletzt krepierten Granaten, der sich mit dem Qualm des gewaltigen Brandes hinter den englischen Linien mischte. Kamen durch Feuer und Nebel, phantastisch verzerrte Gestalten: Inder, groß, schlank, mit ihren Turbanen. Man sah sie aus den englischen Gräben steigen, dort, wo ein Loch in den Dünsten war. Andere erschienen vorn: vor den Wolken der Granatgase von Schwefel und Dreck. Sie gingen langsam. Sie eilten nicht. Sie meinten wohl, wie man es ihnen gesagt, hier könne keiner mehr am Leben sein. Bei den Deutschen in den Gräben war Totenstille. »Warten,« ging es von Mund zu Mund, »warten, bis sie näher sind.« – Leutnant von Kropp sprang mit seinen langen Beinen von Trichter zu Trichter und überall hauchte er den einzelnen zu: »Warten, warten.« Der Kaufmann mit dem Nervenschock stand ruhig da, aufgelehnt auf die Brüstung, den Kolben an der Wange und wartete zielend mit ruhigem Gesicht. Der Bäcker lag, die Beine gekreuzt, im Anschlag, das letzte Stück Schokolade der Liebesgabe hatte er sich in den Mund gesteckt, falls er gefangen genommen würde. Haha! Aber erst hätte er noch ein paar Dutzend Engländer ins Jenseits befördert. Immer mehr wuchsen die Gestalten aus dem Nebel heraus und nun plötzlich schossen die Deutschen ihre Leuchtpatronen ab. Bisher hatte der Gegner das Vorfeld erhellt. Man konnte ihm die Ausgabe lassen. Jetzt brauchte man Licht: es mußte scharfes Korn genommen werden. Und wie die Gestalten der Gegner nun in breiten Schützenschwärmen daherkamen, wie sie wuchsen und wuchsen, hob Leutnant von Kropp die Hand gleich einem, der die Musik einsetzen lassen will. Er kannte nicht umsonst die Entfernung bis zu dem Weidenstumpf, dem gelben Gras, der Holzschwelle, die dort Gott weiß warum lag. Als die Reihen der Gegner bis dorthin gekommen waren, genau bis dorthin, rief er, indem er die geballte Faust niederschlug: »Feuer!« Und der Ruf pflanzte sich fort von Mann zu Mann: »Feuer! Feuer!« Es rasselte, knallte, trommelte, tobte. Die Maschinengewehre fingen an zu sprechen. Eintönig fürchterlich klang ihr Tack-Tack-Tack, als zählten sie ihre Opfer ab, um mit jeder Kugel einen niederzustrecken. Die Inder stutzten. Welche, die ihr Gewehr gemütlich unter dem Arm getragen wie bei der Treibjagd, rissen es plötzlich hoch, andere schauten sich verdutzt um, man sah, wie der eine dem anderen etwas zuschrie, aber der eben noch gesprochen, fiel zusammen gleich dem Stier, den der tödliche Stift der Schlachtmaske ins Hirn trifft. Andere überschlugen sich wie die Hasen. Welche schwankten, taumelten, stürzten weit vornüber, warfen ihre Waffen weg, fielen rückwärts mit gebogenem Rücken, mit krummen Knien, daß der Kopf zuerst aufzutreffen schien. Langsam sanken andere zur Seite. Es gab einige, die taumelten noch mit irren Augen, offen den Mund, als ob sie schrien. Welche machten den Versuch, zur Seite auszuweichen. Sie wollten das Wäldchen von der Flanke fassen. Aber in ganzen Reihen schlugen sie hin. Sie rafften sich noch einmal vom Boden auf. Ein paar Schritte weiter lagen sie wieder. Man sah, wie irgend ein Kommando gegeben war, denn plötzlich warfen sich Haufen nieder wie im Schützenlauf. Aber ehe sie noch den Boden berührten, taumelten sie, klappten zusammen. Da lagen zuckende Gestalten, da mühten viele sich zurückzukriechen. Welche wälzten sich. Eine zweite Kugel, eine dritte, vierte, fünfte stillte all ihr Begehren. Und nun stiegen neue Leuchtraketen bei den Deutschen auf, daß es strahlend hell ward. Die Granatenschwaden hatten sich verzogen. Man sah das ganze Vorfeld von Körpern besät und als nun vom Sappenkopf das Maschinengewehr, das vorgetragene, anfing zu sprechen, fuhr es in das zweite und dritte Glied, das die Offiziere hinten unerbittlich vortrieben. Da lagen sie gemäht, da rumpelten sie hin, wie eine Reihe Soldaten von Kindern beim Spielen aufgestellt, hinpurzelt, einer den anderen werfend, wenn man an den Flügelmann stößt. Aber immer neue Massen kamen vor. Immer neue Massen aus den schier unerschöpflichen Lagern, hinten bereitgestellt. Sie näherten sich den deutschen Linien, sie stiegen, sie sprangen über tausend Leiber ihrer Brüder hinweg. Die da herankamen, hatten keine Drahtscheren mehr, die sie gehabt, waren liegengeblieben. Einzelne schwebten in der Luft, von unsichtbaren Stacheldrähten getragen, die sich eingekrallt hatten in Kleider und Fleisch. Sie standen Kopf, die Füße grausig emporgestreckt, sie hingen seitwärts wie Akrobaten nur auf einem Bein. Als wilde Tänzer schwebten sie, die Glieder schwingend erhoben, furchtbare Marionetten, festgehalten von den Drähten. Sie rührten sich nicht, sie blieben erstarrt durch den Zauberstab, den ein deutscher Leutnant geschwungen, seinen Bruder zu rächen, verschüttet im Unterstand. Und doch, als der Strom nicht enden wollte, immer neue Mengen herandrängten, nun hinter den Indern Schotten und Engländer kamen, mit den Ballettröckchen und den bloßen Knien die einen, die anderen dünne Khakimenschen mit Tellermützen, als über das Totenfeld immer neue Truppen sich wälzten, brachen sie ein. Wo kein Drahthindernis mehr war, drangen sie in die Stellungen der Deutschen. In tiefgewühlte Trichter, wo nur einzelne Tapfere noch ihrer warteten, fielen sie ein. Als sie hier und dort in die Gräben sprangen, blitzten die Handgranaten deutscher Diskuswerfer. Es war wie eine Schneeballschlacht. Nur rissen all die Bälle, die da platzend fielen, in Fetzen, was vor ihnen stand. Auch die Engländer warfen ihre krachenden Eier. Dann ging es Mann gegen Mann. Wie der Leutnant es gesagt. Die Grenadiere rannten Seitengewehre durch den Leib, mit dem Kolben schlugen sie Schädel ein, der treue Spaten, der so oft zum Schutze Löcher gegraben, Kopf- und Brustwehr aufgeworfen, sauste nieder, daß das Hirn austrat. Blutströme spritzten. Messer blinkten in der Faust wie beim Wirtshauskampf der Trunkenen. Wutschreie klangen, Zischen, Spucken, Schimpfen. Die Engländer brüllten, sie sollten sich ergeben, die deutschen Soldaten; aber die Antwort war Stich und Schlag. Und immer neue Massen wälzten sich heran. Da fing der Bäcker an zu wüten, des Kaufmanns Nerven waren aufgewacht. Er schlug darein, warf Handgranaten, duckte sich vor ihrem Platzen. Gott sei Dank, das Warten war vorbei! Leutnant von Kropp hatte die Tasche voll Revolver, er nahm Gefallenen welche ab, er schlug mit dem Gewehr, das er einem Toten entrissen, drein bis der Kolben brach. Und die Maschinengewehre tackten und tackten, und mit einemmal wurden die Flutwellen schwächer, als sei der Augenblick nahe, wo im Wechsel der Gezeiten die Ebbe kommt. Hinter den Feldern der Toten stiegen sie nicht mehr aus den Gräben. Es war, als ob sie sich erschöpft hätten. Man sah Leiber auftauchen über dem englischen Grabenrand, aber sie fielen wieder zurück. Das Mähen der Maschinengewehre hatte sie nicht herausgelassen. Dann sah man Köpfe erscheinen über dem englischen Grabenrand, doch sie verschwanden, als hätte ein Grauen sie gepackt, als sie das dichte Feld der Toten sahen, ihrer Kameraden. Dann hörte es mit einemmal auf. Aber nicht still war es geworden da drüben, denn das Sperrfeuer der Deutschen wütete jetzt hinter den englischen Linien. Von allen Artilleriestellungen aus donnerte es hinein. Mit allen Kalibern pfefferten sie in die dichten Massen der Reserven, die gesammelt standen. Bei Hauptmann Wessels glühten die Rohre. Mit Handschuhen wurde bedient. Nun mußten sie Pause machen. Und in dem Sperrfeuer von den Engländern herüber sangen die Kanoniere deutsche Lieder.

Im Hof in Flandern war auch der letzte Baum der Wut des Feuers gewichen. Draußen nach dem Dorfe zu, wo jüngere Stämme standen, nicht so von den Granaten gepackt, sah es aus wie eine kahle zersplitterte Baumschule. Von weitem erkannte man Hof und Park nicht mehr. Schwere Küstengeschütze hatten grausig alles eingeebnet. Es wurde still, die Batterien schwiegen mählich dem Morgen entgegen. Das Feuer erstarb; wie der ruhig die Grabensohle kehrende Sachse gesagt: Sie kämen nicht durch, der Leutnant solle sich nicht erregen. Leutnant von Kropp saß ruhig in dem einzigen Unterstände, der übriggeblieben war, denn von den Engländern hier war keiner mehr am Leben. Er saß neben seinem toten Bruder, beim Schein der letzten Kerze, und hielt die Totenwacht. Der Leutnant dachte an seine Mutter. Nun hatte sie nur noch einen, den Falschen. Wer weiß, ob sie auch den noch behielt. Aber sie war eine deutsche Soldatenfrau. ›Schicksal‹, wie ihr Sohn gesagt. Es mußte eben so sein. Dazu waren die Kropps und die Burdaus und die Essertes geboren.

Major von Esserte ging mit Generalleutnant Greger von der Yperner Straße dem Hof in Flandern zu. Sie konnten nicht fahren, der Wagen lag zerschmettert am Weg. Ein Volltreffer der Engländer hatte ihn aufgehoben und als wirre Masse von Holz und Eisen weit hinaus in die Zuckerrüben geworfen, die ihn nun verdecken würden mit ihrem hohen Grün und ihren gelben Dolden. Denn nun kam bald völlig der Frühling, der Sommer über das flandrisch-französische Land. Als sie dem alten Hof entgegenschritten, sagte ernst der General:

»Jetzt sieht man gar nichts mehr. Sollte, während wir fort waren, der Christus auch verschwunden sein?«

Der Major schob es, obwohl der Himmel immer noch hell aufflammte von dem wilden Feuerwerke da vorn, den Leuchtraketen der Nacht zu, daß man die Brandmauer nicht mehr erblicke. Der Generalleutnant sagte:

»Sie haben schwere Granaten abgekriegt, grade während wir draußen waren.«

Doch der Major, der Ruhige, antwortete ganz erregt:

»Die Gewölbe sind zu dick!«

Und der Generalleutnant, während sie immer näherkamen:

»Mir gefällt es nicht, daß wir mit dem Fernsprecher keine Antwort bekamen.«

Des Majors Augen richteten sich immer schärfer nach vorn:

»Exzellenz, wie oft reißen die Leitungen ab!«

Da sahen sie eine Gestalt in der Dunkelheit, und der Generalleutnant rief:

»Wer ist da?«

»Major Rennhöfer, Exzellenz.«

»Ist denn niemand am Telephon?«

Der Major kam näher. Bei hellerem Leuchten der Raketen sahen sie ihn, das Haar versengt, gelb wie die ganze linke Uniformseite. Der Adjutant taumelte. Er mußte sich im Graben setzen. Die beiden anderen traten hinzu. Sie stützten ihn. Des Major von Esserte Hand näßte sich von Blut. Er fragte mit zitternder Stimme:

»Rennhöfer, was ist denn geschehen?«

Der war wie benommen:

»Volltreffer! Achtundzwanzig. Fünfunddreißig. Wie sind die Kaliber, Exzellenz?«

»Sie sind doch Artillerist!«

»Die Decken sind durchgeschlagen.«

Major von Esserte nahm seines Kameraden Hand:

»Rennhöfer – und die anderen?«

Der stammelte nur, aber dabei schloß er die Augen und sank in sich zusammen:

»Alle hin, Exzellenz. Alle hin! Rosenthal wollte doch gern vor. Das geht nun nicht mehr. Und die Franzosen sind alle hin. Das Haus ist hin und der Park ist hin. Was sollen sie dann noch? Ja, ja: C'est la guerre!«

Dann stammelte er, als rede er mit sich selbst:

»Exzellenz findet, ich bin zu französisch, ich schwatze zu viel französisch. Mit wem denn? Es lebt ja keiner mehr. C'est la guerre.«

Major von Esserte fragte heiser:

»Hast du Madame de Beaucourt gesehen?«

»Jawohl, Exzellenz. Alle. Wunderschöner Soldatentod. C'est la guerre.«

Major von Esserte stand plötzlich auf und ging einen Schritt in die Dunkelheit hinaus. Er blickte dorthin, wo einst der Hof in Flandern gewesen. Da legte sich ihm ein Arm weich um die Schulter, und des Generalleutnants Stimme sprach an seinem Ohr:

»Mein lieber, lieber Esserte. Ich habe mehr geahnt, als es aussah. Meine Augen sind noch gut. Trost ist immer Unsinn, aber ein alter Kamerad von der schönen Reiterwaffe, Ihr General, dem Sie immer ein ausgezeichneter Helfer gewesen sind, sagt Ihnen dieses: Feuer und Wasser sind zwei Dinge. Franzose und Deutscher, die heute in schwerem Kampfe stehen, werden immer Feuer und Wasser bleiben. Vielleicht ist es besser so! Und dann denken Sie, lieber Freund, welche Arbeit für unser Vaterland noch vor uns liegt, denn wir müssen siegen und wir werden siegen. Aber dazu brauchen wir jeden Mann, jeden Säbel und auch, Esserte – jedes Herz.«

Der Generalleutnant trat zurück zu dem Verwundeten im Graben und der Generalstabsoffizier blieb unbeweglich stehen …

 


 


 << zurück