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5

Obgleich die Granate keine Nachfolger gefunden hatte, ging doch der Donner der Kanonen fort. Hatte es bis dahin wohl einmal eine Stunde gegeben, wo das Feuer schwieg, so gehörte nun ein ununterbrochenes fernes Grollen förmlich zur Natur, etwa gleich der Brandung an einer Meeresküste. Und wie an der See schwoll das Getöse zu gewissen Zeiten, vor allem gegen abend, zu einem Rollen an, daraus deutlich einzelnes Krachen sich ablöste gleich nahen Einschlägen bei furchtbarem Gewitter: es mochte die Sprache der schwersten Kaliber sein.

Den Vizewachtmeister Fiedler begeisterte das förmlich. Wenn die französischen Mädchen angstvoll ob des gerade einsetzenden Tobens hinausblickten, als müßte nun wieder einmal eine Granate in den Park krachen, leuchteten seine Augen. Er, der trotz seines nüchternen Friedensberufes von Kursbuch und Geldwechsel immer eine winzige Taschenausgabe des Faust in der linken Attilatasche führte, kannte auch französische Dichtung; so François Villon, den seine Landsleute einstmals gehenkt hatten. Das erzählte er den Franzosen, vielleicht um ihnen die Höhe ihrer berühmten »Zivilisation« vorzuführen, obwohl Oberleutnant von Gereck, der glattrasierte Husar, Ordonnanzoffizier der Division, behauptete, dunkel zu wissen, sie hätten »aus juristischen Gründen« vollkommen recht gehabt, den Dichter aufzuknüpfen.

Von François Villon nun zog, wenn jenes Riesenkrachen klang, der Vizewachtmeister immer eine Stelle an in ihrem Altfranzösisch: » Dictes moi royne blanche comme ung lys …« Dabei verweilte er bei der » Berthe au grand pied«, die dann, kam, und lächelte geheimnisvoll. Da er es nun ständig wiederholte, so war es im Hause Sitte geworden, sobald der alle Scheiben rüttelnde Krach, offenbar einer unfernen »dicken Bertha«, eines 42-cm-Mörsers, erdröhnte, sich anzublicken und zu sagen: » Berthe au grand pied!« So hatten auch die Franzosen ihre »Bertha«, eine völkische sogar, wußten nur nicht warum.

Solche Dinge brachten Deutsche und Franzosen einander näher. Man fühlte sich bald wohl, wie große Angst man auch zuerst vor der Belegung mit feindlichen Soldaten gehabt hatte. Sie gewährten allein durch ihre Anwesenheit Schutz gegen etwa vorüberziehende Kolonnen oder »Versprengte«, die man fürchtete, waren doch von Nachbarn grauenvolle Erfahrungen erzählt worden, die man mit »Marodeuren« und Nachzüglern der eigenen Armee wie der Engländer erlebt hatte. Endlich brachten sie wenigstens Abwechslung in das fürchterliche Einerlei dieser endlosen »Okkupation«, denn durch ihre Anwesenheit gab es immer etwas Neues, wäre es auch nur das Pferdeputzen drüben im Stall gewesen. Dazu fand sich der alte Baron öfters ein, sich die Langeweile zu vertreiben. Vor seinem patriotischen Gewissen rechtfertigte er diese Besuche und Gänge freilich mit der Notwendigkeit, überall danach zu sehen, daß keine Übergriffe stattfänden und sein Eigentum erhalten bliebe. Niemand dachte daran, es zu verletzen. Der alte Herr mußte auch dankbar anerkennen, daß man jedem erfüllbaren Wunsche nach Schonung oder Nichtbenutzung nachkam, wenn nur Zeit und Notwendigkeiten des Krieges es erlaubten. So hatten die Deutschen Prellsteine angebracht, damit nicht etwa ein Unvorsichtiger mit seinem Wagen eine Ecke mitnähme oder auch nur über ein Beet führe. Eine alte Steingöttin, die am Hofeingang recht »exponiert« stand, hatten sie mit Stroh umwickelt. Jeder Raum, den man nicht gebrauchte, wurde abgeschlossen oder erhielt gar eine Tafel mit dem Verbot, ihn zu betreten; freilich, nachdem er genau durchsucht worden war. In der Tat, gründliche Arbeit verrichteten, zum Staunen der Franzosen, diese Deutschen. Nichts blieb ihrem Auge verborgen, nur im Park – Blaise und sein Herr schmunzelten jedesmal, wenn sie dort vorübergingen – hatten sie noch nicht nachgegraben, obwohl sich Vizewachtmeister Fiedler über die geringen Weinvorräte im Keller wunderte.

Wie nun der Divisionsstab erst einmal zwei Wochen in Ralinghien lag, hatte man sich an die neue Lage gewöhnt, und die dicke Köchin, die man längst in ihr Reich wieder eingesetzt, erklärte eines Abends, als die Burschen und Ordonnanzen in der Küche deutsche Lieder sangen, sie wären »keine Barbaren«. Das schien ihr höchstes Lob. Auch Nicolettes, des Küchenmädchens finsteres Schweigen tat dem keinen Abbruch: sie hörte ja zu und es wäre ihr doch unbenommen gewesen, sich in ihre Kammer zurückzuziehen.

Die Damen kamen mit den deutschen Offizieren kaum in Berührung, aber der alte Herr erzählte täglich und weitschweifig von seinen Erfahrungen mit ihnen. Er war schon zweimal mit dem Generalleutnant im Park spazieren gegangen. Zufällig hatte man sich getroffen. Wurden nun auch diese Begegnungen erschwert durch mangelnde Fertigkeit im Gebrauche der französischen Sprache, so lebte doch der deutsche General in der Beurteilung des Barons de Battaignies als »wahrer Edelmann«. Schwer nur rang er sich diese für ihn höchste Bezeugung von Achtung ab. Noch schwerer war es, ihm begreiflich zu machen, daß Seine Exzellenz bürgerlich sei, dieses aber in der deutschen Armee irgendwelchen Unterschied nicht hervortreten ließe.

Die deutschen Offiziere seien alle »Ritter«, hatte Hauptmann Rennhöfer gesagt in jener schwungvollen Redeweise, die jedem Nichtfranzosen ein Lächeln entlockte, während dieses Volk selbst des Hochtrabenden, Verstiegenen, Abgeschliffenen, ja Unwahren seiner Sprache in seiner Eitelkeit nicht inne wurde.

Auch die Damen sah der Adjutant bisweilen von weitem. Dann benutzte er die Gelegenheit herbeizueilen, um zu fragen, wie man geschlafen habe, ob er irgendeinen Wunsch erfüllen könne. Claire wehrte allein schon den Gedanken ab, sie könne um etwas bitten, und Laetitia de Beaucourt schwieg in Gegenwart der Schwester. Hauptmann Rennhöfer dachte: Na, Verehrteste, ich treffe dich schon mal allein. Dann wollte er Madame zum Reden bringen, denn in ihm lebte eine natürliche Liebenswürdigkeit, nicht frei von Einbildung auf sein gutes Französisch. Doch die Gelegenheit, Laetitia allein zu begegnen, fand sich nicht: nie sah man sie ohne Claire oder ihren Vater.

Die Offiziere waren freilich fast den ganzen Tag abwesend in dieser Zeit, wo es an der Front unruhig herging. Schon bei Morgengrauen fuhren die Kraftwagen vor, in der Abenddämmerung erst brachten sie die Herren zurück. Dann aber klang der Fernsprecher: dann lag Post da; Meldungen, Befehle kamen und über dem Dienst, der strengen Pflicht des Krieges, vergaß Hauptmann Rennhöfer dieser kleinen französischen Frau, ihm im Grunde völlig gleichgültig, eine Artigkeit zu erweisen. Sie hatten in diesem Kriege so oft Quartier gewechselt, daß er damit rechnete, jeden Augenblick könne ein Befehl kommen, der sie wieder hinaustrieb, so wie vor kurzem erst, als sie aus der Champagne nach Flandern verladen worden waren.

Allmählich hatten fast alle Offiziere des Stabes sich den französischen Damen vorstellen lassen. Nicht allein solche, die, wie der Kriegsgerichtsrat oder der Generaloberarzt, nicht zur Gefechtsstelle der Division hinausfuhren, sondern ihre Pflichten drin zu erledigen hatten. Ein einziger näherte sich den Battaignies nicht, und zwar gerade die wichtigste Person des Stabes: der Generalstabsoffizier, Major von Esserte. Zuerst wurden es die Franzosen nicht gewahr: es gab der deutschen Offiziere so viele, daß man sie tagelang, so viel und oft auch in der Langeweile der Stunden hinter den Gazeschleiern der Fenster gespäht wurde, nicht einmal auseinanderhielt. Immerfort entdeckte man einen, den man meinte noch nie gesehen zu haben.

Eines Tages aber fing Madame Vison de Beaucourt ein Gespräch an mit Vizewachtmeister Fiedler. Und zwar im Hofe der Ferme, wo sie auf ihren Vater wartete, der einen Augenblick in den Stall gegangen war. Mit dem Husaren meinte sie schwatzen zu können: er trug nicht die Achselstücke, so vergab man sich nichts. Dazu sprach er wie ein Pariser, besser noch als der Divisionsadjutant, der zwar wundervolle Sätze baute, gleich einem licencié-ès-lettres, aber nicht redete wie das pulsende Leben etwa in Paris auf dem Boul' Miche. Laetitia meinte so von ungefähr, sie habe gar nicht geahnt, daß zwei Generäle hier lägen. »Zwei?« antwortete der und spielte, wie immer die Hand in der Attilatasche, mit seiner kleinen Faustausgabe. Jawohl, denn die wären doch an den breiten roten Hosenstreifen kenntlich? – Exzellenz ja, aber ein zweiter General – nein. – Da beschrieb sie ihn, mit Kneifer und viel jünger als der Divisionskommandeur. Nun verstand der Vizewachtmeister: ach so, Major von Esserte. Madame de Beaucourt erklärte, gleichsam wegwerfend, mit dem Achselzucken einer jungen, eleganten Frau – so, so, nun sie kenne ihn nicht. Damit schien er abgetan. Der Husar machte, im Gedanken an den strengen, zurückhaltenden Generalstabsoffizier, ein Gesicht, als wollte er sagen: »Nun dem, gerade dem wird ja Euer Hochwohlgeboren Nichtachtung sehr schmerzlich sein!« Aber es blieb beim Gesicht, denn in diesem Augenblick kehrte der Baron aus dem Stall zurück mit der ständigen scherzhaften Anrede, die er sich angewöhnt hatte, sobald er den einstigen Leiter des Reisebureaus von der rue de la paix sah: »Schade, daß Sie keine Fahrkarte nach Paris zu verkaufen haben, sonst führe ich gleich!« Dabei spielte ein trauriges Lächeln um die Lippen des alten Herrn.

Dem Major von Esserte konnte solche Nichtachtung schon deshalb nichts verschlagen, weil er das Vorhandensein der Damen kaum ahnte. – In dieser Zeit schwerer Kämpfe gab es bei ihm keine Nebengedanken. Das eben schätzte der Generalleutnant, selbst aus dem Generalstab hervorgegangen, so besonders an seinem Helfer: diese Arbeitskraft, von persönlichen Zu- oder Abneigungen unbeirrt, nüchternes Denken mit einer Gabe der Verknüpfung verbindend, die in Zweifelslagen des Gegners Absichten aus widersprechendsten Meldungen heraus mit sicherem Instinkte erriet.

Und auch darin war dieser strenge, bisweilen fast wie von Verlegenheit gehemmte Offizier in nicht gewöhnlichem Maße für seinen Beruf geboren, daß eine Ruhe in ihm wohnte, die mit sich überstürzendem Geschehen nur wuchs statt sich beirren zu lassen. Er hielt es aber auch für seine Pflicht, sich überall mit eigenen Augen zu überzeugen, selbst jede Stellung abzugehen, persönlich alle Offiziere zu sprechen, um nicht allein ihre Beurteilung der Lage in ihrem Abschnitt, ihre Wünsche zu vernehmen, sondern auch sich ein Bild ihrer Person zu machen, damit er die rechte Truppe an den rechten Ort, den geeigneten Mann an jene Stelle bringen könnte, wo seine Fähigkeiten am besten zur Geltung kamen. Ein wilder Draufgänger schien dort nicht am Platze, wo es nur hinzuhalten galt, und eine weichere, wenn auch brave Truppe setzte man nicht ein, wo ein Punkt genommen werden mußte, wäre auch alles dabei liegen geblieben.

Generalleutnant Greger hatte im Anfang des Feldzuges gefunden, sein Generalstabsoffizier sei zu viel vorn, und solches bei seiner verbindlichen Art in die Worte gekleidet:

»Mein lieber Esserte, was soll ich anfangen, wenn Sie fallen?«

Da hatte der Major geantwortet:

»Euer Exzellenz, der Fernsprecher brächte sofort einen anderen Herrn!«

Nun, der Divisionskommandeur würde auch ohne Ersatz nicht in Verlegenheit geraten sein, weil er nicht einer jener Führer war, die den Frontweg nie verlassen haben und daher unvertraut sind mit Generalstabs-Kleinarbeit. Er hätte es allein besorgt, unterstützt von seinem in allen Sätteln gerechten Adjutanten, dem er auch menschlich nahestand. Noch ein anderes kam hinzu: es gab wenig so schnelle Arbeiter wie den Major. Hatte er eine Lage sich einmal klargemacht, sie mit dem General besprochen, so setzte sie sich gleichsam selbsttätig in Befehl, Meldung, Anfrage oder Darstellung der Lage um. Wie oft hatte er nicht dem Ordonnanzoffizier, Oberleutnant von Gereck, der die Kurzschrift beherrschte, in rasendster Eile diktiert. Dann brauchte kein Wort geändert zu werden, als ob das Satzbild im Hirn dieses Mannes gedruckt stünde und er es nur abzulesen brauchte. Schon als Leutnant hatte er über einen stets bereiten, alles zusammenfassenden Geist verfügt und die seltene Fähigkeit besessen sich abschließend von der Welt gleich einer Maschine zu arbeiten Auf der Kriegsakademie war diese Gabe so hervorgetreten, daß sie dem damaligen Oberleutnant von Esserte den Spitznamen eintrug: »Der Befehlsautomat«, dem Befehle für Armeen, Armeekorps, Divisionen bis zum Angriffs- oder Marschbefehl für ein Regiment spielend entquollen, darin nichts vergessen war, keine Zeit, kein Ort, keine Kolonne.

Das Armee-Oberkommando hatte angesichts des starken Druckes, den der Gegner plötzlich an dieser Stelle ausgeübt, die ursprünglich, wie Major von Esserte richtig vermutet, zur Armeereserve bestimmte Division Greger zwischen zwei Korps eingeschoben, um die Front zu verstärken. Daraus entsprang die Notwendigkeit, diesen Abschnitt dichter zu belegen und somit hatte der »Hof«, der bis dahin bei Quartier-Verteilung nicht benutzt worden war, den Divisionsstab bekommen. Im Grunde lag Ralinghien, wenn es auch bisher Granatenglück gezeigt hatte, für die Schreibtischarbeit noch zu sehr in der Reichweite feindlicher Kanonen, aber in Generalleutnant Greger, einem einstigen Reitersmann, lebte noch immer der Geist seiner Waffe, die vorn sein will.

Er hatte als junger Offizier Rennen geritten, bis es sein zunehmendes Gewicht, trotz Dampfbad, nicht mehr gestattete. Vielleicht erklärte sich auch jene Neigung, die Feste zu feiern wie sie fallen, die Generalmajor von Flurschütz zu tadeln wußte, aus seiner Vergangenheit. Fröhliche Kameradschaft bei Tisch schien ihm Selbstverständlichkeit, die er jedoch bei Ernst der Lage ebenso selbstverständlich opferte, wie Offizierspatrouillen auf Essen und Unterkunft verzichteten. Am Ende hätte Seine Exzellenz, statt sie fortzuschicken, sie lieber selbst geritten, denn dieser Mann – ein Generalstabsspringer – war nicht allein an Jahren verhältnismäßig jung, sondern auch an Körperfrische, bis auf den verwundeten Fuß, der ihn jetzt behinderte. Vor allem aber hatte er sich die Fähigkeit bewahrt, mit jedem Leutnant, mit jedem Landser zu fühlen. Darum war auch jeder glücklich, den einmal Dienst oder Aufforderung zur Division führte.

Bei Tisch herrschte kein Zwang: wer zu arbeiten hatte, erschien später, um so mehr jetzt die Essensstunde hin und her pendelte, zur Verzweiflung der dicken Köchin, die zuerst widerwillig, nun aber gern das Kochen übernahm.

Für die Franzosen war die Verpflegung schwierig, vor allem fehlte der Wechsel, da sie meist von Vorräten leben mußten. Durch die Ankunft des deutschen Stabes hatte sich das geändert. Zwar blieben die Battaignies bei ihrem Küchenzettel, aber manches fiel ab für die Dicke mit Trauring und Schnurrbart, wie für Nicolette, ihren Adjutanten. So nannten sie die Burschen, die am Offizierstisch die Speisen auftrugen. Der alte Blaise und der Knecht pirschten sich still hinzu, ja seit ein paar Tagen auch Jeanne, das Stubenmädchen. Zuerst hatten Franzosen und Deutsche in getrennten Lagern gegessen, aber es kam von selbst, daß sich eine Art von Kameradschaft bildete. Gemeinsame Arbeit führte ständig zusammen, so schien es das Vernünftigste, wenn man sich vertrug, um so mehr als auf der einen Seite die Macht lag, auf der anderen der Reiz süßerer Stimme und runderer Gestalt. Wenn die Burschen und Schreiber sich auch vorsahen, daß nicht etwa eine Beschwerde einlief, denn man wollte im Stabe bleiben – so lebte in ihnen allen, die ihr Mädel oder die Frau zu Haus gelassen hatten, eine dunkle Sehnsucht nach dem Weibe. Wäre es auch nur gewesen, einmal einen weicheren Tonfall zu hören, einmal etwas anderes in der Nähe zu sehen als immer nur die braven Kameraden.

Dadurch machte auch die Verständigung Fortschritte. Vizewachtmeister Fiedler half als Dolmetsch und wo er nicht da war, die Zeichensprache. – Kühnscherf, der Bursche des Generalleutnants, der bei seinem glattrasierten Gesicht, dem feinen leisen Benehmen wie ein Kammerdiener wirkte, lernte alle Redensarten eines Sprachführers auswendig, den ihm Exzellenz geschenkt hatte. Wenn er dann anfing, diese Wendungen auszukramen, wollten sich die französischen Mädchen schief lachen, nicht allein wegen der Aussprache, sondern weil er, um sie anzubringen, oft von den wunderlichsten Dingen begann: »In der Eisenbahn«, »Beim Schneider«, »Im Wirtshaus«, kurz was er sich gerade angeeignet hatte. Dann saßen die Mädchen um ihn herum und antworteten, die dicke Köchin mit ihrem patois der Normandie, Nicolette aber mit allerhand Unsinn, der auf das nicht paßte, was er dem Buche folgend gefragt hatte. So stimmten seine eingelernten Antworten nie.

Wenn dann auch noch Kinzig mit der langen Nase, der Bursche des Majors von Esserte, anfing, die Wochentage herzusagen, und Klostermann, der blonde Kraftfahrer, der bei seiner Größe Riesenhände besaß, an den endlos langen Fingern französisch zu zählen begann, dann wachte auch die sich sonst vornehm zurückhaltende Jeanne auf, das Mädchen, das Madame Vison de Beaucourt mitgebracht. Es war eine schlanke Pariserin mit kastanienbraunem Haar, wie es die Deutschen nie gesehen hatten. Bei dünnen Armen, feinem Halse besaß sie einen üppigen Busen: die »falsche Magere« der Franzosen.

Wenn drüben im Eßzimmer die Offiziere nach Tisch bei der Zigarre noch plaudernd saßen, das Geschirr ausgewaschen war und von den Soldaten an der kachelbelegten Wand zum Trocknen hingestellt, kam für die Mädchen in der bodenlosen Langeweile dieses entsetzlichen Jahres die schönste Stunde des Tages. Neben dem Herde, darüber ein großer, mittelalterlicher Rauchfang weit vorsprang, saßen sie in einer Reihe auf den niederen Strohstühlen, die bloßen Arme gekreuzt, die Füße übereinandergeschlagen vorgestreckt. Kühnscherf pflegte das »Stiefelparade« zu nennen. Freilich waren die Fußbekleidungen verschieden. Jeanne trug abgelegte, doch noch immer tadellose Lackschuhchen ihrer Herrin, die dicke Köchin, übrigens nicht anders denn Henriette Germallevoit geborene Avoine geheißen, hatte Filzschuhe an, außen durchgelaufen, und Nicolette saß in lila Wollstrümpfen da, denn ihre Holzpantoffeln mit den seltsam aufgebogenen Spitzen standen fein säuberlich unter ihrem Stuhl.

Dann wurde Stunde abgehalten und die Mädchen mußten Deutsch lernen. Auch die drei flämisch-blonden Mägde vom Hofe drüben, Scholastique, Stephanie und Margot, die eine wie Flachs, die zweite wie Blut, die dritte gleich Weizenähren. Sie wollten lernen, meist aber kicherten sie nur oder sprachen im Chor, wie sie denn in ihren schmutzigen Waschkleidern, den verbrauchten Schürzen, gleichsam eine Gesamtheit zu bilden schienen. Sie kamen zu dritt, sie gingen zu dritt. »›Frißt‹ nur jede hübsch allein,« sagte Kinzig, der »Major«, der seine lange Nase ab und zu vorstreckte, um mal was »Geistreiches« loszulassen. »Er is ja ooch Generalstab,« meinte Klostermann mit den großen Händen, der sonst immer schwieg. Alle blickten sich fast erschrocken nach ihm um. Dann verschwand der mächtige Leib des Kraftfahrers in der Menge der Ordonnanzen, Burschen und Chauffeure, die sich versammelt hatten.

Sehr weit her war es freilich nicht mit dem Lernen, denn allerlei Schäkerei nahm den rechten Ernst. Kühnscherf, der Kammerdiener, den sie als Burschen des Generalleutnants »Exzellenz« nannten, griff unter den Stuhl der kleinen schwarzen Nicolette. Nur die Holzpantinen, die sabots, wie die Franzosen sagten, wollte er mal untersuchen. Das Mädel aber sprang kreischend auf, meinte es doch, er habe es auf ihre lila Strümpfe abgesehen. Mit einem Satz war die kleine Kröte auf dem Strohsessel. Dessen Bespannung riß und der eine Fuß trat durch. »Ratsch« rief einer, den Ton nachahmend. Die französischen Mädchen aber, die » rat« verstanden hatten, deuteten Nicolettes Sprung auf den Stuhl mit einer Ratte in der Küche – nichts Ungewöhnliches bei der französischen Schmutzerei – und unter Kreischen rettete sich alles auf die Sessel. Entsetzte Augen rollten, ekelnd-erschrockene Blicke suchten am Boden.

Nun war aber das Hallo im Hause nicht ungehört geblieben, denn einmal führte unweit der Küche die Treppe hinauf zum ersten Stock, dann aber lag daneben das Speisezimmer. Exzellenz war zwar bereits aufgebrochen, mit ihm Major von Esserte, denn es gab noch manche Stunde zu tun, aber der Divisionsadjutant, Oberleutnant von Gereck, der Kriegsgerichtsrat und der Generaloberarzt saßen beim Kartenspiel.

Da sie nun bei dem Geschrei nicht anders meinten, als es sei etwas Ernstes geschehen, ging die Tür auf, und in der Öffnung erschien Hauptmann Rennhöfer, hinter ihm die neugierig erstaunten Köpfe der anderen Herren: der Kriegsgerichtsrat, die Karten in der Hand, der Generaloberarzt mit leise ergrautem Feldzugsbart, die Zigarre im Mundwinkel. Der Husarenoberleutnant aber das Einglas eingeklemmt, eigens um all das Merkwürdige zu überblicken, das hier geschehen sein mußte.

So groß war der Jubel der Soldaten, der Schreck der Mädchen, daß im ersten Augenblick niemand der Zuschauer achtete. Nicolette hatte ihr Röcklein hochgehoben und man sah ein Paar schlanke lila Waden. Da auch die anderen dieser unwillkürlichen Bewegung folgten, um Übersicht wegen etwaiger Rattenangriffe zu bekommen, so enthüllte sich selbst ungewilltem Auge allerhand Erstaunliches: Elefantensäulen einer Köchin, unweigerliche Stelzen einer roten Magd, die strümpfelose Ungewaschenheit jener, die den schönen Namen Margot trug, und Beine, so sanft gerundet, daß sie nur einer zugehören konnten, die Scholastika hieß.

Der Husar lachte Tränen unter der Scherbe; dem Kriegsgerichtsrat lösten sich vor stillem Staunen alle Muskeln, daß die Karten sich entblätternd abstürzten gleich schwer getroffenem Flugzeuge; der Generaloberarzt biß auf die Zigarre, die sich steil aufrichtete und ihm in die Augen stach; Hauptmann Rennhöfer aber schaute lächelnd hinüber zu jener anderen Tür, die zu Flur und Treppe führte: dort stand Baron de Battaignies, erstaunlich anzusehen im Schlafrock, etwas Seltsames, den Deutschen Unerklärliches um den Kopf geschlungen: ein weißes Tuch.

In dem Augenblick aber hatte einer der Feldgrauen die Offiziere bemerkt. Grell und hell klang der Ruf deutscher Soldaten, wenn der Vorgesetzte das Zimmer betritt: »Achtung!«

Wie das Donnerwetter fuhren die Kerle zusammen, standen, den Kopf gereckt, die Absätze aneinandergehauen, unbeweglich, während der Mädchen Röcke sanken, gleich dem Vorhang nach dem letzten Auftritt. Das Spiel ist aus.

»Rühren!« klang der Befehl.

Nun erst blickten die Leute sich um. Aller Augen blieben auf der offenen Tür, wo der mit seinem Turban stand. Da kam ihnen, die oft in letzter Zeit Gefangene gesehen, gelbe Sikhs und Gurkhas mit ihren Kopftüchern, der zwingende Eindruck, der sich löste, indem in dem tiefen Schweigen einer staunend sagte:

»Ee Inder!«

Sie lachten, lachten alle. Lachten, Offizier wie Mann, und die französischen Mädchen stimmten ein vor Verlegenheit, aus Gesellschaftstrieb, vielleicht auch weil sie sich schämten vor ihrem Herrn, der es gewiß Mademoiselle Claire sagen würde, von der sie immer ermahnt wurden, zurückhaltend gegen die Deutschen zu sein. Nun verschwand der kleine alte Herr gekränkt, war er doch nur gekommen in der Angst, es könne irgend etwas geschehen sein, etwas Schreckliches, etwas ganz Furchtbares, mit den boches. Seine Damen hatten ihn geschickt. Sie waren wieder aufgestanden bei dem Lärm, denn man ging vor Langeweile zeitig schlafen in Ralinghien. Baron de Battaignies lief davon. Hauptmann Rennhöfer aber eilte ihm nach. Er wußte, wie Exzellenz darauf hielt, daß die Deutschen Ritterlichkeit übten, trotz allen Unanständigkeiten ihrer Gegner, und wollte den würdigen alten »Patrioten« nicht gekränkt sehen.

Bis in den ersten Stock folgte er ihm. Dort standen Claire und Laetitia, Kerzen in der Hand, in Morgenröcken über das Treppengeländer gebeugt und lauschten um so erschrockener hinab, als sie meinten, der fliehende » papa« sei angegriffen worden. Dafür sprach ja auch der wild hinter ihm dreinstürmende Offizier. Sie breiteten ihm, als wollten sie den Vater schützen, die Hände entgegen. Nun erst sahen sie Hauptmann Rennhöfers lachendes Gesicht. Mit schwungvollen Worten erzählte er den harmlosen Vorgang und wußte soviel gallische Heiterkeit hineinzulegen, daß beide Schwestern, auch Claire, die strenge, zu lächeln begannen. Sie setzten die in der lachenden Hand wackelnden, tropfenden Leuchter auf einen Spiegeltisch, dessen silbriges Glas den Kerzenschein blinkend zurückwarf, und hielten sich in gleicher Gebärde die seidenen Morgenkleider über der Brust zusammen, als Französinnen nicht in Verlegenheit gebracht durch einen Aufzug, der ihnen ebenso selbstverständlich war, wie der Empfang im Schlafzimmer.

Der alte Baron war den ganzen Gang hinuntergeflüchtet. Erst allmählich getraute er sich wieder heran. Schritt um Schritt. In Schlafrock und Turban. Und mit jedem Schritte näher klärten sich seine Mienen auf, bis er, als phantastische Traumgestalt auf dem hölzernen Geländer hockend, lauschte. Zuerst mit Schmunzeln, dann mit Lächeln und Lachen, endlich, indem er plötzlich jede Haltung und Rücksicht auf den traurigen Ernst der Zeit verlor und sich auf den Schenkel schlug. Alle Heiterkeit seiner Natur, so lange aufgespeichert, entlud sich jäh. Ein solcher Lachkrampf schüttelte ihn, daß nicht viel fehlte und er hätte nach Art der Franzosen den Divisionsadjutanten auf den Bauch geklopft wie einen alten Freund.

Keiner von ihnen wurde es gewahr, daß jemand die Treppe heraufkam, im Lichtkreis stand und grüßte. Major von Esserte, das ernste Gesicht gerunzelt ob solch nächtlicher Heiterkeit, sagte zu seinem Kameraden:

»Rennhöfer! Auto bestellen. Exzellenz fährt hinaus. Feindlicher Angriff!«

Jäh schwieg alle Heiterkeit, die Damen grüßten den Hauptmann, ohne scheinbar den Major zu sehen, der sie ja nicht beachtet hatte, und gingen zum Spiegeltisch, ihre Leuchter mitzunehmen. Der Adjutant sagte:

»Und es war doch alles ruhig wie noch nie!«

»Hasenclever hat eben telephoniert. Aber wir reden lieber an anderer Stelle. Obwohl man sich ja nicht in acht zu nehmen braucht. Die verstehen ja doch kein Deutsch!«

Flüsternd gab der Hauptmann zurück:

»Doch, Herr Major, Madame de Beaucourt, die jüngere der Damen – da – spricht sehr gut Deutsch!«

In des Generalstabsoffiziers immer ernstem, gehaltenem Gesicht zuckte es. Dann blitzten die Kneiferaugen den Kameraden an:

»Bitte mich vorzustellen!«

Aber die weißen Gestalten der Franzosen waren schon unterwegs. Ihre Kerzen flackerten beim Gehen, und es wurde eine Schwebung dunkler auf der Treppe. Trotzdem machte der Hauptmann bekannt. Claire neigte steif den Kopf und folgte ihrem Vater, der den Gang hinunter davon war, sich taub stellend oder wirklich bereits zu weit entfernt, um noch zu hören. Wer mochte das unterscheiden in halber Finsternis. Nur Madame de Beaucourt, durch den vortretenden Major von der natürlichen Rückzugslinie abgeschnitten, blieb stehen, den Leuchter in der Hand, daß der feingebaute Unterarm sich aus den Ärmeln schob und die tiefgehaltene Kerze ihrem Gesicht jene Jugendlichkeit gab, die Rampenlicht auf die Züge der Schauspielerinnen zaubert. Und sie spielte Komödie, denn sie sagte, und blickte absichtlich an dem deutschen Offizier vorbei ins Dunkle den Gang hinab, auf dem eben mit geschlossener Tür Claires Licht erlosch:

»Ja, ich verstehe Deutsch. Aber Sie brauchen keine Angst zu aben für das, was Sie gesagt aben vor meine französische Ohren!«

Herr von Esserte sah sie an. Ärger stieg in ihm auf, irgendein dumpfes, widerstrebendes Gefühl gegen all das Pack, mit dem man sich da herumschlug:

»Ein deutscher Offizier hat keine Angst«.

Sie richtete sich stolz auf:

»Unsere Offiziere aben auch keine Angst!«

»Das habe ich auch nicht behauptet. Im Gegenteil, sie schlagen sich gut.«

»Ich danke Ihnen!«

»Bitte, bei uns ist es selbstverständlich, daß man das zugibt!«

»Und ich darf mich freuen!«

»Natürlich. Sie haben ja so wenig Freude …«

Sie blickte ihn dankbar an, fühlte er doch mit ihr, wie es schien. Die natürliche Liebenswürdigkeit ihrer Rasse, die Erziehung zu Form und Artigkeit, der Liebreiz, ihr im besonderen eigen, alles wirkte mit, daß sie reizend den Kopf neigte und schwermütige Augen machte. Er, gehemmt im Verkehr mit Menschen, nie ein Weiberfreund, und nun gar dem Umgang mit einer Französin fremd und abhold, nahm dies für mehr, als es gemeint war, und sagte fast wider Willen, wie immer unsicher, wenn er den Boden des Dienstes, des Soldatischen verließ:

»Ich kann mich sehr gut in Ihre schwere Lage versetzen. Diese Zeit ist hart für Sie! Ich bedaure Sie, gnädige Frau.«

Laetitia Vison de Beaucourt hielt jetzt den schweren Leuchter so schief, daß er tropfte. Er griff artig danach, ihn abzunehmen. Nun ging sie, offenbar in der Meinung, er wolle ihr leuchten, schnell den Gang hinab zu ihrem Zimmer und er, der dies gar nicht beabsichtigt, mußte folgen. An ihrer Tür blieb sie stehen, nahm ihm das Licht ab, neigte dankend, eigentlich ein wenig hochmütig, den Kopf und blickte ihn mit Augen, über deren langen Wimpern eine schöngezeichnete Lidfalte lag, einen Augenblick an, gewohnheitsgemäß als gelte ihre Artigkeit ihm allein. Dann ließ sie ihn im Dunkel stehen.

Der Major hatte seine Taschenlampe nicht bei sich, so tastete er sich den Gang zurück mit dem nagend ärgerlichen Gefühle, es sei zuviel gewesen, denn er, gerade er, mochte die Franzosen nicht. Doch es verstimmte ihn nur wie eine Wallung, bis zur Treppe, dann löschte der Gedanke an den Dienst, der noch je und je in diesem Mann die Oberhand behalten, alles andere aus. Er rief den Burschen. Als er seines braven Kinzig lange Nase sah, sein ehrliches Deutsch hörte, war alles erst recht dahin. Der Major ließ sich Gurt, Revolver, Taschenlampe, Handschuhe, Mütze, Mantel, Kartentasche geben und stand wenige Augenblicke darauf unter dem Glasdach vor der Tür.

In der Dunkelheit erschienen die großen, suchenden Lichteraugen des Kraftwagens und kaum war er vorgefahren, so traten auch schon der Generalleutnant und sein Adjutant aus dem Haus. Es war eine wundersame Nacht. Matter Sternenschein dämmerte gespenstisch auf den Feldern, darüber dunkle Striche zogen: die Baumreihen der Straßen. Und nun, bei einer Wendung des Weges, zur Linken die vierfache, durch die sie eben von Ralinghien gekommen waren. Das Rollen der Kanonen, die täglich gleiche Musik dieser Zeit und dieses Landes, klang, trotz der Meldung eines drohenden Angriffes, nicht stärker als sonst.

In der Ferne blitzte es ab und zu auf wie Wetterleuchten vom Mündungsfeuer der Geschütze. Dann wieder standen ganze Himmelsstreifen im hellen Licht der Leuchtraketen. Sich nicht zu verraten, wurden nun die Scheinwerfer gelöscht, und sie mußten langsam fahren, um die Abzweigung des Weges nicht zu verfehlen, denn sie verließen die Yperner Straße.

Der General saß im Pelz in die Ecke gelehnt. Ab und zu wendete er den Kopf, wenn neben ihnen dunkle Schatten vorüberzogen. Dann fragte er wohl einmal zum Wagen hinaus: »Was seid ihr?« »Ablösung« hieß es, oder »Reserve«, und der Truppenteil wurde genannt. Die Antwort kam nicht ängstlich, mit Rangbezeichnung und Stellungnehmen, sondern kurz in der Dunkelheit, wo man den Frager nicht erkannte, nur den Offizier ahnte, da es einer war, der im Kraftwagen saß.

Bald war die Straße so breit von einer Munitionskolonne eingenommen, die endlos im Sternenschimmer dahinknarrte, daß sie halten mußten. Bei dem schmalen Wege kamen sie nicht vorbei. Major von Esserte ließ die Taschenlaterne leuchten und suchte auf der Karte. Halblautes Zwiegespräch klang mit dem General. Sollten sie den Weg nehmen über das » Estaminet au bon coin«? Exzellenz wollte lieber aussteigen und gehen. Hauptmann Rennhöfer machte auf den Fuß des Generals aufmerksam, der in letzter Zeit wohl etwas sehr angestrengt worden sei. Doch der klopfte seinem Adjutanten begütigend den Rücken, und damit war die Frage abgetan.

Der Kraftwagen hielt. Man suchte Karten zusammen, Frühstück und eine Flasche Wein, die vorsorglich mitgenommen worden war für Nacht und Morgen. Dann ging Major von Esserte mit dem General voraus, während der Hauptmann zurückblieb. Er fragte Klostermann, der am Steuer saß, ob er auch den Rückweg fände und bezeichnete ihm die Stelle, wo der Wagen halten sollte, wenn ihn am Morgen der Fernsprecher riefe. Dann lief er den beiden Vorausgeschrittenen nach. Die zu erkennen, reichte das Sternenlicht nicht aus. Man hörte nur, wenn der Kanonendonner einmal einen Augenblick nachließ, ihre Stimmen.

Der Hauptmann sann in der dunklen Nacht. Eben kam man von Scherz und Lachen, Licht und warmem Herd, und nun schritt man durch gespenstisch belebte Dunkelheit, dem Ernstesten entgegen, das es unter Menschen gibt. Und merkwürdig: immer noch gaukelte ihm das Bild einprägsam vor den Sinnen, wie die französischen Mädchen mit emporgerafften Röcken an der Wand auf den Stühlen gestanden. Ein Unlustgefühl regte sich in ihm, hinauszumüssen in das unwirtliche feuchte Dunkel. Das ging ihm immer so. War er draußen im Gefecht, so konnte er sich von Arbeit, Kugelsang und Kanonendonner nicht lösen. Alle Zauber der Nacht, alle Erregungen des Kampfes arbeiteten in seiner leicht entzündlichen Phantasie. So wirkte auch noch jetzt das letzte Bild fort in seiner Seele: die französischen Damen im Morgenkleid, die er so schwungvoll auf der nächtlichen Treppe begrüßt. Er malte sich ihre Geschichte aus, eine die sie gewiß gar nicht hatten. Er fragte sich: Was ging in diesen gekränkten, verängstigten Seelen vor? Ihm war alles Traum und Rätsel. Wie sein ganzer Lebensgang. Er, der den Kunsthistoriker erstrebt hatte, aus einer Hochschullehrerfamilie stammend, war plötzlich Soldat geworden und haßte doch alles, was er Kommiß nannte, aus tiefster Seele. Da wurde die militärische Laufbahn in Frage gestellt, denn nach einer Lungenentzündung mußte er einen ganzen Winter in Montreux verbringen. Dort hatte er gelernt, mit französischen Redensarten um sich zu werfen, als sei es ein Spiel. Um dem ungewöhnlich begabten Offizier alle Gefahren des Exerzierplatzes in Wind und Regen zu sparen, hatte ihn der Regimentskommandeur zu seinem Adjutanten gemacht. Gekräftigt und geheilt war er in die Front zurückgetreten, bis er abermals Adjutant wurde. Bei einem Prinzen, der, selbst ein Träumer, an Rennhöfers neben stärksten Wirklichkeiten des Dienstes ihm gebliebenem träumerischem Geiste Gefallen fand. Als nun jener Prinz wegen einer völlig phantastischen Heirat sein Nebenkrönlein bescheiden zurückgelegt auf den Tisch seines hohen Hauses, hatte man den ohne Schuld aus Stellung und Wirken geworfenen Adjutanten, den Mann mit nicht alltäglichen Gaben, zum Divisionsadjutanten gemacht. Zugleich kam der Krieg.

Sie waren vom Wege abgebogen auf ein Zuckerrübenfeld. Der Hauptmann hatte in seinen Träumen die beiden vorne eingeholt. Sie standen und die Lampe des Majors suchte eben am Boden. Sie bestrahlte einen Körper, der in einem Granattrichter lag, verzerrt und zusammengebogen, mit bloßen Knien. Die Stimme des Generals klang wie aus einer anderen Welt, da man ihn neben der Blendung durch den kleinen hellen Lichtkegel nicht sah:

»Rennhöfer, der Schotte liegt immer noch da. Es ist richtig, hier kommt niemand vorbei, aber die Brigade Golm soll doch mal ein paar Mann herschicken zum Begraben!«

Der Adjutant warf ein:

»Exzellenz, es ist in dem Abschnitt der Brigade Flurschütz!«

Das Licht erlosch. Sie gingen weiter in der wie es schien zunehmenden Dunkelheit, denn Nebel zogen jetzt einen Schleier zwischen den reinen Himmel und die umkämpfte Erde. Während sie durch den tiefen Lehmschmutz des leise gewellten Bodens schritten, leuchtete es immer auf, vorn, rechts oder links, und dann sahen sie die Trümmerüberreste eines Dorfes oder Hofes, ein dünnes Wäldchen, durch dessen schwerbeschädigte Äste das Feuer blitzte, oder Alleen lang hinziehen. Unablässig blies ihnen der Wind entgegen, ein gleichmäßiges Fauchen, das ihnen Nässe, man wußte nicht woher, ins Gesicht trieb.

Nun näherten sie sich einem kleinen Gehölz, fast Baumgruppe nur. Ein Feldweg wurde überschritten, daran verlassene Schützengräben hinzogen mit eingefallenen Unterständen. Stroh lag umher, naß und glitschig. Da klang ein helles Pfeifen. Irgendwo über den Köpfen fuhr es hin. Der Ton sank. Dann dröhnte dumpfes Schmettern und Krachen, eine feindliche Granate war hinter ihnen eingeschlagen. Die Offiziere gingen ruhig weiter auf die Baumgruppe zu. Zum zweitenmal pfiff es hell, brauste dumpf. Abermals ein Krachen. Und immer wieder pfiff es, schmetterte, dröhnte, einmal näher, einmal weiter entfernt. Sprengstücke hörte man irgendwo durch die Luft heulen. Sie ratschten durch Zweige. Rennhöfer sagte:

»Exzellenz, nun wird wohl an dem Schotten nicht mehr viel zu begraben sein, denn es muß etwa bei ihm eingeschlagen haben.«

Und es erschien ihm Wunder und Rätsel, daß sie, die noch eben dort gestanden, ihrem Soldatenschicksal entgangen waren. Nun hatten sie das Wäldchen erreicht. Sie mußten vorsichtig treten: Drähte liefen hier über das Feld, über Gabelstangen und einen Baumstumpf gehängt, dann glatt auf dem Boden.

Sie gingen in den Unterstand, eingegraben und angebaut an die dem Feinde abgewandte Mauer eines einsamen Hauses, von dem nicht viel mehr stand als Erdgeschoß und Dachgerippe. In dem niederen Erdloch, darin ein paar Kerzen brannten, erhoben sich Schatten, Offiziere: Oberleutnant von Gereck und ein paar andere Herren des Stabes, die vorausgefahren waren. In einem Nebenraum, durch eine dünne Wand abgetrennt, die Decke aus Baumstämmen und Eisenträgern gebildet, mit Brettern verschalt, brannte eine Öllampe ohne Schirm. Eine Gestalt ging dem Divisionskommandeur entgegen, ein großer, dicker Mann: Generalmajor Hoehne, der die Artillerie der Division befehligte. Er grüßte dienstlich und Generalleutnant Greger reichte ihm die Hand. Der Generalstabsoffizier und der Adjutant waren vorn in dem größeren Raum des Unterstandes zurückgeblieben. Auf einem vergoldeten Rokokotisch, den man von irgendwo hergeschleppt, lagen Karten und Papiere. Major von Esserte setzte sich auf einen Empiresessel, einst aus gutem Hause, dessen Überzug halb heruntergefetzt war, und vertiefte sich in Arbeit. Ab und zu fragte er den Unteroffizier am Fernsprecher etwas. Es war ein kleiner, schwarzer Mensch, dessen bebrillte kluge Augen immer auf dem Major ruhten. Der Adjutant hatte sich auf einem Holzschemel an der anderen Seite des Tisches niedergelassen und holte nun aus seiner Meldekartentasche allerlei Papiere, über die er mit dem Husarenoberleutnant flüsternd sprach. Regungslos saßen auf einer Notbank an der Wand die Offiziere.

Major von Esserte ließ sich von dem schwarzen Unteroffizier – er nannte ihn Rosenthal – den Hörer des Fernsprechers geben, und man vernahm die Antwort auf ein Gespräch, das ihm der Draht übermittelte:

»Nein – nein! Bei Dixkapelle hat der Gegner keine Fortschritte mehr gemacht. – Wie meinen Sie? – Ach so, Herr General sind es selbst! – Gewiß, Herr General, eben ist die Meldung gekommen, daß wir Dixkapelle halten. – Jawohl, sie haben sich überrumpeln lassen. – Nur die Vorstellung haben die Engländer genommen. Hat aber keine Bedeutung. Die Entfernung vom Gegner ist dort nur vierzig Meter. In der Niederung ist Nebel gewesen, da sind sie in das Badehäuschen eingedrungen. Es liegt beim Buchstaben »p« von Dixkapelle. – Zu Befehl, Herr General. Ich halte überhaupt die ganze Stellung für unglücklich. Dieser kleine Brückenkopf hat keinen Wert. Er ist unter ständigem Flankenfeuer, wahrscheinlich von Höhe 40. Bekommt sogar vielleicht Rückenfeuer aus dem Kanalabschnitt. Ohne Höhe 40 ist der Besitz des Badehäuschens wertlos. Wir haben diese unsere Ansicht dem Korps gemeldet. Die glauben's aber nicht. Das Badehäuschen müsse gehalten werden. – Ah so, Herr General sind also auch unserer Auffassung. Das freut mich. – Nee – nee. Ich meine, wenn ein Mann wie General von Flurschütz sagt, das Badehäuschen sei nicht zu halten, es fordere nur unnütze Opfer, so kann uns das Korps wohl glauben. – Bitte? – Nein, scotch guardes sind es gewesen, scotch – s – c – o – scotch guardes. Der Gegenangriff ist also befohlen. Drei Uhr zehn, Herr General. Exzellenz möchte wissen, wann die Mine gesprengt werden soll? – Wie meinen Herr General? – Ach die Meldung von den Pionieren ist schon da? – Hauptmann Pedröhl, nicht wahr? – Jawohl, großartiger Mann, Herr General. – Ich werde es sofort Exzellenz melden. – Ich, Herr General? – Natürlich käme ich gern selbst. Das wissen ja Herr General. Aber es muß erst wieder alles ruhig sein, sonst kann ich nicht fort. Vielleicht, wenn wir das Badehäuschen wieder haben. – Jawohl, Exzellenz ist hier. – Wie Herr General befehlen. Selbst mit ihm sprechen? – Zu Befehl, Herr General. Einen Augenblick.«

Major von Esserte stand auf und ging in den Nebenraum. Dort hörte man sie reden. Der Generalleutnant erhob die Stimme. General Hoehnes Baß klang dazwischen. Währenddessen arbeiteten der Adjutant und der Ordonnanzoffizier über den Tisch gebeugt. Herr von Gereck machte sich mit Kurzschrift Bemerkungen. Von der Bank der Spötter aber – so nannten die Herren das lange, immer etwas schwuppende Brett, auf dem sie an der Wand saßen – klang Flüstern und leises Knacken, denn einer aß Wallnüsse im stillen.

Da ging die Tür auf. Ein zerhacktes Gesicht schaute herein, Kürassierabzeichen am Kragen. Oberleutnant von Bißwang, den Kopf gebeugt, den Rücken krumm, denn bei seiner Größe war er gewohnt, in einem Unterstand nicht aufrecht stehen zu können, trat in den Lichtkreis karger Kerzen. Hauptmann Rennhöfer blickte nicht auf, vertieft in seine Arbeit. Einen Augenblick wartete der Kürassier, dann machte er ein paar lange Schritte zu den Herren auf der »Bank der Spötter«. Der Zunächstsitzende, Hauptmann Giese, stand auf. Bißwang fragte nach Exzellenz und obwohl es hieß, der sei drin beschäftigt, drängte er einzutreten. Der Hauptmann, klein, schmächtig, mit schmalen Wangen, schmalen Schultern, wollte ihn zurückhalten, doch der lange Kürassier verzog sein Gesicht, daß es noch wilder aussah und sagte mit jenem Nasenton, der ihm seit seiner schweren Verwundung geblieben war:

»Ach was, ich habe keene Zeit!«

Da hob Hauptmann Rennhöfer den Kopf:

»Bißwang, was wollen Sie denn?«

»Meldung von der Brigade.«

»Sie müssen warten!«

Aber den Widerspruchsgeist der 694. I. B. gewöhnt, brummte er:

»Die Engländer warten nich, bis Exzellenz ausgequasselt hat.«

Rennhöfer machte ihm ein Zeichen leiser zu sprechen:

»Erstens wird hier telephoniert. Zweitens ›quasselt‹ Exzellenz nicht. Bißwang, Sie olle Schandschnauze.«

Aber der grinste:

»Von welcher Charge ab ›quasselt‹ man denn nicht mehr?«

Auf der »Bank der Spötter« ward es still, sogar das leise Nüsseknacken hörte auf. Es gab doch immer Unterhaltung, wenn Bißwang erschien. Der aber wurde mit einemmal ernst:

»Herr Hauptmann, ich bin mit drei Kreuzen hergeschickt.«

Er ging einfach zum Eingang einer Stubentür aus dem zerschossenen Hause, an dessen Mauer sie lagen, und wollte klopfen. So hart trat just in dem Augenblick Major von Esserte heraus, daß sie fast aneinanderprallten. Bißwang verbeugte sich kurz:

»Meldung von Herrn General von Flurschütz.«

Aber der Generalstabsoffizier antwortete:

»Wir haben ja eben mit ihm gesprochen. Was sagt er denn neues?«

Der Kürassier stand immer stramm vor diesem Manne, den er meinte nie anders als »Herr Major« nennen zu können, und antwortete mit seiner ganzen Derbheit:

»Daß es Blech ist, dies verfluchte Sch...Häuschen wieder nehmen zu wollen.«

Nun schloß auch der Major die Absätze:

»Herr von Bißwang, das soll nur die Brigade uns überlassen.«

Immer wie gereizt ihm gegenüber, gab der Kürassier zurück:

»Ich bin auf Befehl hier, Herr Major. Mir persönlich ist die Geschichte höchst egal.«

Der Major blickte ihn hart durch seine Brillengläser an:

»Das ist wohl nicht die richtige Ausdrucksweise, daß es dem Ordonnanzoffizier einer Brigade ›höchst egal‹ ist, ob diese angreift oder nicht.«

Es war, als wollte der Ordonnanzoffizier etwas sagen, doch er bekämpfte sich und schwieg. Da hörte man die Stimme des Generalleutnants:

»Herr von Bißwang!«

Der Kürassier trat ein. Major von Esserte setzte sich an den Tisch und ließ sich von Unteroffizier Rosenthal den Hörer geben. Nichts bewegte sich in seinem Gesicht als die Kaumuskeln, die in dem harten, trockenen Kopf nervös arbeiteten. Rennhöfer aber beugte sich über den Tisch und sagte, während Bleistifte kritzelten und draußen ab und zu das Krachen einer krepierenden Granate klang:

»Herr Major, er meint es nicht so. Da vorn wird leicht einer nervös.«

Kein Nerv regte sich mehr in dem eisernen Gesicht des Generalstäblers:

»Das gibt es eben nicht, ›nervös werden‹. Ist auch Bißwang gar nicht. Einen losen Mund hat er.«

»Nu ja, aber Bißwang ist wirklich …«

»Ein tadelloser Kerl,« sagte der Major und rief die 695. I. B. an. Er fragte noch einmal nach der Mine. Wenn sie noch zu rechter Zeit gesprengt werden könnte und man, wie Generalmajor von Golm gemeint, sogleich den Sprengtrichter besetzen würde, so bedeute das natürlich eine entscheidende Unterstützung für die Brigade Flurschütz. Ein paarmal ging das Gespräch hin und her. Dann gab der Generalstabsoffizier mit jener ruhigen Sicherheit, die ihm einst den Spitznamen des »Befehlsautomaten« eingetragen hatte, Befehle, Punkt auf Punkt.

Unteroffizier Rosenthal mußte dafür sorgen, daß der Anschluß nicht abgerissen würde, und der Major ging zum Divisionskommandeur hinein. Dort stand der Kürassier vor dem Generalleutnant, am Ledergurt den Revolver, sporenlos, wie immer hier draußen in den Gräben. Der wandte sich sofort zu seinem Generalstabsoffizier:

»Ich billige vollkommen die Gründe des Generals von Flurschütz, die er mir eben noch einmal vortragen läßt. Nun ist aber die Lage dadurch vollkommen verändert, daß bei der Brigade Golm gesprengt wird. Haben Sie alles erledigt?«

»Zu Befehl, Exzellenz.«

Der Generalleutnant entließ den Kürassier:

»Es bleibt also bei drei Uhr zehn!«

Dann wandte er sich zu General Hoehne, um das Artilleristische kurz noch einmal durchzusprechen.

Der Major ließ artig den Kürassier vorantreten. Er begleitete ihn sogar bis vor den Unterstand. Dort klopfte er ihm auf die Schulter, wie es eigentlich sonst nicht seine Art war, und sagte freundlich:

»Mein lieber Bißwang, Sie müssen nicht gleich so böse sein.«

Aber der schien den Groll noch nicht begraben zu haben:

»Ja, wenn Herr Major meinen, daß mir der ganze Krempel ›ganz egal‹ wäre.«

Herr von Esserte lächelte, aber man sah es nicht in der tiefen Dunkelheit, die sie umfing, blind machend nach der Beleuchtung im Unterstande.

»Das haben aber doch Sie gesagt und nicht ich!«

Der Kürassier war ganz verstört.

Endlich stammelte er:

»Wahrhaftig! Wahrhaftig! Was man nicht alles für Blödsinn redet, Herr Major.«

Nach dieser Selbsterkenntnis grüßte er und stürmte in die Nacht hinaus. Er sah nicht die entgegengestreckte Hand des Majors, die nun im Dunkeln gehalten blieb. Er hörte auch kaum im Wegstürzen die Worte, die ihm der Generalstabsoffizier nachrief:

»Na, dann sei Gott mit Ihnen.«

Etwas im Grunde Unnützes fügte er hinzu, denn wie wollte der Ordonnanzoffizier auf seinem Wege sich schützen:

»Und Vorsicht, Bißwang! Gehen Sie lieber nicht die Ypern-Chaussee.«

Vielleicht dachte er dabei an seine Schwester. Er hatte niemals mit ihr über Herrn von Bißwang gesprochen. Nie brieflich ein Wort mit ihr darüber gewechselt. Zärtlichkeiten, nun gar schriftliche, lagen ihm nicht. Und doch lebte in diesem unerbittlichen, ernsten Soldaten bisweilen ein weicheres Herz als er es zeigte oder auch sich nur zugab. Am liebsten wäre er selbst an Stelle des Kürassiers durch das starke Artilleriefeuer, das auf dem Wege zur Brigade lag, gegangen, um der Schwester jenen zu erhalten, den sie liebte. Der Schwester, die ihm, seitdem er Frau und Kind verloren hatte, ohne daß sie es wußte, auf der Welt am nächsten stand.

Er blieb stehen und blickte in die Dunkelheit hinaus, in der Oberleutnant von Bißwang verschwunden war. Gerade die Yperner Straße, daran die Gefechtsstelle der 694. I. B. lag, war im Augenblick mit Schrapnells belegt. Man unterschied ihren Ton, man konnte ihre glühenden Sprengpunkte über der Horizontlinie erkennen, die von den Leuchtraketen da draußen abgezeichnet ward. Dort war jetzt sicher alles in Deckung, hinter Häusern oder hatte sich unter Brücken verkrochen. Bißwang jedoch, der den Befehl führte, Bißwang mit der Schandschnauze, aber dem eisernen Herzen, ging gewiß aufrecht wie ein Engel über das Gefild.

Dem Major von Esserte kam in diesem Augenblick, wo Menschliches ihm nahetrat, der Gedanke an die Begegnung mit der französischen Dame auf der Treppe. Wie des Hauptmanns Rennhöfer bisweilen von »Rätseln und Wundern« gebannte Seele immer wieder die Mädchen in der Küche auf den Stühlen erblickt, so sah er plötzlich Madame Laetitia Vison de Beaucourt mit dem brennenden Leuchter vor sich stehen.

In der ganzen Zeit des Krieges hatte er an kein weibliches Wesen gedacht als an seine verstorbene Frau. Ihm hatte einfach die Zeit gefehlt für Dinge, die seitab vom Wege lagen. Als nun jetzt zum erstenmal seine Gedanken abirrten, warf ihn ein Schrapnell, das mit ungewöhnlicher Feuererscheinung über ihm platzte, zur Pflicht zurück. Und er verschwand im Unterstand, der strengen Arbeit entgegen, die jetzt kam: Vorbereitungen, Anfragen, Meldungen vom geglückten Sturm, denn anderes als ein Vorwärtstragen des Angriffes gab es für seine Erziehung als deutscher Offizier nicht. –

Oberleutnant von Bißwang schritt in die Nacht hinaus. Auf dem Wege dachte er immer nur an den Angriffsbefehl. Er freute sich für die Brigade, daß Opfer, die er kosten mußte, nun wenigstens nicht umsonst sein würden. Er freute sich auch für seinen General, denn er wußte, wie es den gewurmt hatte, daß die Landser sich hatten überrumpeln lassen in dem kleinen vorgeschobenen »Brückenkopfe«. So hatte ihn Esserte genannt, während das »Badehäuschen« bei der Brigade einen ganz anderen, derben, wegwerfenden Namen trug. Während er die Straße hinabeilte, auf der noch einzelne herumkrauchten, blitzte unversehens vor ihm ein Schrapnell auf. Er dachte, in seine Sprechweise geformt: »Nu fangen die Schweine ooch noch damit an. Granaten wären mir lieber gewesen!« In Wirklichkeit pflegte er aber zu sagen, wenn Granaten ihre Drecksäulen warfen:

»Kinder, Granaten ist 'ne Rücksichtslosigkeit.«

Als nun das nächste Schrapnell kam, genau vor ihm auf der Yperner Straße, und er seine Kugelfüllung prasselnd niederschlagen hörte, überlegte er einen Augenblick, ob er weiter gehen sollte. Aber, wie es der Major gewußt: er ging weiter. Hinter einem zerschossenen »Estaminet« stand richtig eine Anzahl Feldgrauer in Deckung. Es regnete auf das noch nicht ganz zerstörte Dach, daß die Ziegel spritzten. Ja, das galt richtig der Straße: Sperrfeuer, damit Kolonnen und Reserven nicht vorkönnten. Als nun aber ein Schrapnell nach dem anderen vorn, hinten, rechts, links, wunderbar die Nacht erleuchtend, sprang, stellte sich Herr von Bißwang, sobald es heulte, die rechte Schulter nach vorn, die Beine geschlossen, die Hände an die Hosennaht, dicht hinter eine der großen Pappeln der Straße. Und dabei sagte er jedesmal, wenn es krachte und der Bleisegen sich ergoß, ganz laut vor sich hin: »So!« Zugeständnis und Entlastung für seine Nerven. Sprungweise von Baum zu Baum kam er so vor, bis er seitwärts Belvoorde sah, wo in den Trümmern eines der ersten Häuser der Brigadestab lag. Dann rannte er über das Feld und beim Eintreten machte er: Uff! ganz außer Atem vom Laufen. Hauptmann Hasenclever blickte von Papier und Fernsprecher fragend auf. Da erklärte Bißwang, indem er sich in den gebrechlichen Rohrsessel warf:

»Das war 'ne Gemeinheit. Warum soll man's nicht eingestehen? Mir läuft's Wasser nur so über den Buckel, aber nicht bloß vom Loofen!«

Dann erstattete er die Meldung dem General.

Der wußte zwar schon durch den Fernsprecher vom gleichzeitigen Eingreifen der Schwesterbrigade, doch er betonte noch einmal, wie schwer er es sich nur abgerungen habe, einem Gegenangriff zu widersprechen, aber er fühle sich verantwortlich für seine »lieben Jungen« und dürfe sie des Ehrgeizes halber nicht opfern. Na, nun sei es ja etwas anderes, denn wenn die verfluchte Höhe 40 in die Luft ginge, so sähe man auch neben den Köpfen und Beinen der Engländer ihre Geschütze fliegen, die jedem Baden bei diesem verfluchten Badehäuschen sozusagen die andächtige Ruhe genommen hätten. Übrigens sprach er nicht von baden, sondern von ganz anderen Dingen. Aber hier draußen gab es eben keine Jungfern, hier war Männerkampf. Wenn die Landser einem Punkt ihren eigenen Namen gaben, wo sie kämpften und ihr Leben ließen, so sollte man dankbar sein, daß sie noch Stimmung für Scherze fanden. Nebenbei war dann solche Bezeichnung ihrem Munde gerecht und sie merkten sie sich besser als die fremden Laute. Darum war diese verlorene Stellung auch auf der Spezialkarte – vorsorglich von der Division herausgegeben – so verzeichnet.

Der General trat an den Tisch, wo die Karte ausgebreitet lag, und nun wurden die Befehle weitergegeben für die beiden ihm unterstehenden Regimenter.

Aber bald arbeitete der Fernsprecher seltener und Bißwang löste Hauptmann Hasenclever ab. Der Adjutant stieg mit dem General aus dem Unterstand ins Freie, um einmal nach Stunden der Arbeit Luft zu schöpfen, ehe die Haupttätigkeit begann, deren Dauer nicht abzusehen war. Auf der Straße war es stockfinster, denn die Nebelschleier am Himmel hatten jetzt vollkommen die Sterne verdeckt. Immer noch nieselte es leicht, wie fast täglich in diesem feuchten Lande. Die beiden Offiziere hatten sich Zigarren angesteckt und sprachen vom bevorstehenden Angriff. General von Flurschütz meinte:

»Daß sie sich haben rausschmeißen lassen, würde an und für sich weiter nichts schaden. Nur vor dem fremden Korps schämt man sich. Wir sind eigens aus der Champagne geholt, werden am brenzlichsten Punkt eingesetzt und dann passiert so 'ne Schweinerei. Nu werden sie natürlich sagen: Wir, wir, wir haben's wochenlang gehalten, jetzt kommt die berühmte ›Reisedivision‹ und da geht's sofort zum Deubel! Gottverdammte Schweinerei!«

Der Hauptmann beruhigte ihn:

»Wir kriegen's ja wieder, Herr General!«

Doch der kleine General von Flurschütz gab zurück:

»Wir wollten ja nicht davon reden! Jetzt: Maul halten. Nämlich das Maul habe ich, lieber Hasenclever.«

Aber nach einer halben Minute fing er von neuem davon an. Schließlich redeten sie nur noch von dem verlorenen Brückenkopf, der wiedergewonnen werden müsse und würde.

Rechts und links zeichneten sich unsicher die Umrisse der Dorfstraße ab, soweit man im Dunkeln erkennen konnte, mehr vom Feuer als von Zerschießung zerstört. Hoch darüber stieg, wenn an der Front der Horizont aufleuchtete, der kathedralenartige Turm von Belvoorde: ein dunkler, abenteuerlich, gleichsam gotisch zerrissener Riesenschatten. Inzwischen hatte das feindliche Artilleriefeuer aufgehört. Die beiden waren erstaunt. Hauptmann Hasenclever fragte, was der Gegner sich wohl eigentlich dabei dächte? Da schimpfte der General über den Feind, daß er nicht tätig genug sei. Entweder sei die »Bumserei« vorhin eine Munitionsverschwendung gewesen, oder man sei sich drüben nicht klar, was man wolle. So gäbe es kein Bild. Er sprach voll Achtung von der Tapferkeit der alten indischen Soldaten und Offiziere, und nannte sie »Tigerjäger«, die sich lieber totschlagen als gefangennehmen ließen. Nur die Führung, die Führung! Im Bewegungskriege würde sich's zeigen, daß die Engländer strategisch und taktisch nichts gelernt hätten. Der General blies den Rauch seiner Zigarette von sich:

»Zu viel Tennis, Kricket, Golf, Fußball. Das gibt Muskeln, aber nischt in'n Kopp!«

Als Kriegsphilosoph hätte er am Gegner gern seine militärische Freude gehabt.

Da nahte ein dumpfes Geräusch, ein leises Klappern, Schurren, Tritte in der Dunkelheit. Eine Abteilung kam, das Gewehr umgehängt, ohne Tritt die Dorfstraße herab. Nur huschende Schatten waren zu erkennen, in jenem gespenstischen Leben, das allein die Nacht in dieser Feuerzone ermöglichte, da bei Tage Truppenbewegungen gemeldet worden wären. Der General und sein Adjutant traten, um Platz zu machen, seitwärts heraus, auf den Schutt eines zerstörten Hauses: ein Feldherrnhügel, wie in Fresne-la-forêt. Die Truppen zogen stumm vorüber, denn durch Singen durften sie sich nicht verraten. Sie erkannten die beiden Offiziere nicht. Und diese nicht deren Führer, die dicht an dem Steinhaufen vorbeigingen. Man hörte ein paar Sätze ihres Gesprächs. Es waren keine verstiegenen Unterhaltungen »vor der Schlacht« über Mut und Herrlichkeit des Soldatenlebens, nein, von jenen Dingen redeten sie, die ihnen am nächsten lagen, nur mit dem einen beschäftigt, dem Kampf auf diesem engen, kleinen Erdenstück, das sie zu verteidigen hatten.

Der eine sagte, in den verfluchten Gräben beim Badehäuschen – wieder nannte er es so wie die Landser – sei ihm das Wasser in die Gamaschen gelaufen, drum habe er heute hohe Stiefel angezogen. Der andere schwärmte von einer Leberwurst, so herrlich wie er den ganzen Feldzug nichts zu essen bekommen habe. Sie sei bei der Division gemacht. Da meinte jener mit den Wasserstiefeln, seine Kompagnie hätte keine bekommen. Das schien ihn zu ärgern, gar neidisch zu machen in verzeihlicher kleiner Eitelkeit. Die nächsten Worte verklangen in Nacht und Nebel. Der General fragte seinen Adjutanten:

»War das nicht Hauptmann Siebold? Der mit den Stiebeln?«

»Ich glaube, Herr General.«

General von Flurschütz schmunzelte:

»Und der mit der Leberwurscht?«

Aber der Adjutant wußte es nicht. Da kam wieder eine Kompagnie. Unmittelbar neben ihnen blieb ein Hauptmann halten, so groß, daß er den General, der im tiefen Schatten auf den Trümmern erhöht stand überragte. Er rief die Leute an:

»Aufschließen! Haltet euch bißchen mehr zusammen. Ihr müßt nicht so auseinandergekleckert kommen.«

Dann befahl er Halt, rief die Soldaten heran, die sich im Halbkreis um ihn scharten und sprach zu seinen Leuten:

»Kameraden! Ich will schon jetzt ein Wort zu Euch reden. Vorn ist vielleicht keine Zeit und ich habe Euch nicht so beisammen, Euch, meine alte, liebe Kompagnie. Unsere, denn wir gehören zusammen. Das haben wir bewiesen in Belgien damals, als wir gegen eine Armee zu kämpfen hatten, die statt des Marschallstabes gleich ihr Zivil im Tornister trug. Als wir nachts von Frauen und Kindern wie von Mördern überfallen wurden. Das haben wir bewiesen in der Champagne! Wißt Ihr noch, wie die Kompagnie damals Fresne-la-forêt nahm? Die Kompagnie war ganz allein, denn als die andern nachkamen, hatten wir's schon, das Saunest. Ihr lieben Kerle, das werde ich Euch nie vergessen. Mancher Kamerad ist da liegen geblieben, na und dieser und jener wird noch liegen bleiben. Aber zum Spazierengehen sind wir nicht hierhergekommen in dieses Land, Nee, denn uns wird nichts geschenkt. Wollen wir ooch gar nicht. Ein Deutscher läßt sich nichts schenken. Sie haben heute abend unsere Kameraden da vorn überfallen, und unsere Kameraden liegen jetzt da draußen. Unbegraben liegen sie. Glaubt Ihr, das gelbe und schwarze Gesindel da drüben, wobei ich das weiße selbstverständlich einschließe, würde unseren Kameraden ein ehrliches Begräbnis gönnen? Nee, gewiß nicht, deshalb müssen wir das tun. Unserm Bataillon wird die Ehre zuteil. Ihr wißt, daß sie, wie wir drin waren, immer in die Stellung reinfunkten von der Höhe 40 da drüben. Ihr kennt sie ja alle. Nun, das werden sie von jetzt ab schön bleiben lassen, denn in dem Augenblick, wo wir vorgehen, fliegen die da drüben in die Luft. Und dann macht Ihr's genau so wie bei Fresne-la-forêt. Glaubt Ihr, daß der ersten Kompagnie einer standhalten kann? Pflaumenschmeißern, wie unserm dicken Freund Thierig da? Seht ihn mal an, wie er lacht! Also Kameraden: Wir stellen um drei. Drei Uhr zehn geht's los. Vorn sprechen wir uns wieder. Für frischen Kaffee ist gesorgt. Wird schon vorgebracht. Nach der Arbeit ist gut Kaffeetrinken. Das übrige machen wir und unsere Artillerie.«

In diesem Augenblick hörte man über den Köpfen ein langgedehntes Sausen, das scheinbar kein Ende nahm, dann das dumpfe Dröhnen eines Abschusses und in dem großen Schweigen der Nacht vorn, dem Gegner zu, das krachende Schmettern vom Einschlage einer Granate. Einen Augenblick darauf klang wieder jenes Pfeifen in der Luft, wie das lange Rattern auf einer Bahn. Unwillkürlich hoben sich Köpfe, als suchten sie das Geschoß zu sehen, das durch die Lüfte zog. Der Hauptmann aber rief:

»Wenn man den Deubel an die Wand malt! Hurra, es geht los. Der V-Zug kommt. Wir werden bald sehen, wo er halten geblieben ist. – Nun, wer's nötig hat: austreten. Es sind zwei Minuten Zeit.«

Die letzten Worte hörte man kaum mehr, so rauschten majestätisch die schweren Geschosse über ihre Köpfe hinweg, unsichtbar im Nebel ihrem Ziel, den feindlichen Stellungen und Gräben entgegen. Die Kompagnie ging auseinander, und bald war die ganze Straße von den Leuten erfüllt. Sie traten abseits in die Trümmer, sie standen umher, welche setzten sich. Der lange Hauptmann ging von einem zum andern und sprach mit einzelnen Unteroffizieren wie Mannschaften. Diesen fragte er, ob er wieder Liebesgaben bekommen hätte, jenem sagte er, daß er gerade aus seinem Heimatsdorf etwas wüßte, einem dritten wußte er zu erzählen, der Gefreite Röntsch habe ihm aus einem Feldlazarett geschrieben, es ginge ihm gut und er hoffe bald wieder bei der Kompagnie zu sein. Einem gegenüber, der unverkennbares Hamburgisch sprach, erwähnte er die Flotte; einen mit baltischem Tonfall fragte er nach Rußland. Mit dem letzten war wieder vom Kaffee die Rede, den sie bekommen würden, so wahr er hier stünde.

Zwei Soldaten lehnten dicht neben dem General auf den Gewehren. Der eine, ein Riese mit dunklem Vollbart, sagte zu seinem Nebenmann:

»Ich kann einen eigentlichen Haß gegen die Engländer nicht aufbringen. Die Voraussetzung dazu müßte doch Achtung sein. Und wie soll man die haben, wo für jenes Volk die Triebfeder dieses ganzen Krieges allein der Konkurrenzneid ist? Ich bin nicht Kaufmann, und es mag sein, daß man in Staatsstellung Händlergefühle nicht ganz richtig wertet. Trotzdem meine ich, müsse es einen Rückschritt, ja geradezu eine Verarmung für die Welt bedeuten, wenn es dahin kommen sollte, daß das materielle Moment allein die Beziehungen der Völker regelt. So bin ich denn gesonnen, jedem von diesen Leuten, wenn ich sie auch nicht hasse, so sie doch zweifelsohne verachten muß, erbarmungslos den Schädel einzuschlagen. Darin begegne ich mich vollkommen mit den Ansichten unseres Hauptmannes. Wiewohl es sonst Punkte gäbe, wo unser Standpunkt sich nicht völlig deckt. Denn auch der Kaffee ist materiell.«

Der neben ihm war fast ebenso groß und zeigte ein Paar unmenschliche Fäuste. Er hatte andächtig zugehört, nun antwortete er in dem breiten Ton, halb sächsisch, halb preußisch, der Provinz Sachsen:

»Nu, um den versprochenen Gaffee mechte ich nich gommen. Nee. Und wissen Se, was ich jloobe, wenns zum Klappen gommt drinken Sie'n ooch.«

Der Bebartete ereiferte sich nicht, sondern antwortete mit der Ruhe einer philosophischen Abhandlung:

»Ich möchte das nicht ohne weiteres in Abrede stellen. Meine ich doch nicht die Form, in der dieser Kaffee erwähnt wurde, sondern seine Verwendung sozusagen als Stimulans, obgleich man das Fremdwort nicht gebrauchen sollte. Also sagen wir als Siegespreis.«

Der andere wurde von einem Kameraden gerufen. Der im Barte blickte ernst zum Himmel auf, an dem in unbekannten Höhen brausend die Granaten ihren Weg zogen. Da trat der General aus dem Schatten auf ihn zu:

»Das interessiert mich, was Sie da sagen. Aber, meinen Sie nicht, daß eine solche Ausdrucksweise gerade gut auf Sinn und Denkungsweise unserer Leute zugeschnitten ist?«

Der Angeredete wendete sich herum in seiner lässigen Haltung, er mochte denken, es sei ein Landser. Erst während er sprach, entdeckte er, daß er einem Offizier gegenüberstand, nahm Stellung und flocht, da er in der Dunkelheit über die Gestalt der Achselstücke nicht sicher war, ein »Major« ein:

»Gewiß! Jedoch das ideale Moment! Bedenken Sie das ideale Moment! Wir führen doch den Krieg aus idealen Gründen Ich habe mich, obwohl ich nicht Soldat war … Herr … aus idealen Gründen gestellt.«

»Sie sind Kriegsfreiwilliger?«

»Jawohl, Herr Major!«

»Was sind Sie denn von Beruf?«

»Oberregierungsrat, Herr Major!«

»Ich bin General.«

»Herr General.«

Der lange Hauptmann, der die Stimme seines Brigadekommandeurs wohl kannte, hatte sich umgewendet und meldete nun seinem Vorgesetzten. Jetzt erst sah General von Flurschütz im Knopfloch des kriegsfreiwilligen Oberregierungsrats das Band des Eisernen Kreuzes.

Er deutete darauf:

»Wo haben Sie sich das verdient?«

»Für eine Patrouille vor Zandschoote, Herr General!«

Sein Hauptmann fügte hinzu:

»Es waren nur zwei Leute und sie haben einem halben Dutzend Schotten den Hals umgedreht.«

Der General scherzte:

»Nun Herr Oberregierungsrat, Sie sagten doch, Sie hätten keinen eigentlichen Haß gegen die Engländer.«

»Gewiß nicht, Herr General. Ich tat es auch nur aus ideellen Gründen.«

Der lange Hauptmann hatte seine Uhr gezogen und man sah das Zifferblatt leuchten. Es war Zeit zum Weitermarsch. Er schloß wie auf dem Exerzierplatz die Absätze und gab das Kommando. General von Flurschütz reichte ihm die Hand: »Hals- und Beinbruch!«

Dann verschwand die Kompagnie ohne Tritt, sich wieder ausbreitend auf der dunklen Straße, und bald sah man nur noch am Schluß die weißen Armbinden der Sanitätsmannschaften leuchten.

Durch die Begegnung mit den Leuten, die dem General immer Freude machte, fühlte er sich kampflustig wie nur je. Am liebsten hätte er, wie der Ahn Joachim, mit seinen Herren gestritten, aber es gab besseres: Sie lauschten auf das ewige herzbewegende Brausen der D-Züge, die über sie hinwegrauschten. Und nun fing auch der Gegner an, die Batterie zu suchen, die ihm unbequem wurde. Man hörte deutlich drüben bei den Engländern den Abschuß, dann das Einschlagen irgendwo, und sah beim Krepieren der englischen Granaten den abgestoßenen Zünder als glühenden Punkt durch die Luft schwirren. Die Offiziere blieben angesichts des oft erlebten, immer wieder erschütternden Schauspiels als freudig ergriffene Zeugen stehen. Sie suchten den Punkt festzustellen, wo die feindlichen Geschosse einschlugen. Ein Schmunzeln ging über des Generals Gesicht: dort stand die Batterie nicht, sondern Holzgeschütze, aus zweirädrigen Karren listig gezimmert, um die englischen Flieger zu täuschen.

Als die Herren eben in den Unterstand zurückkehrten und Hauptmann Hasenclever den Herrn von Bißwang am Fernsprecher ablösen wollte, erschien Oberleutnant von Gereck, der Ordonnanzoffizier der Division. Er brachte einen Plan jener englischen Schützengräben, gerade vorm Abschnitt des Badehäuschens. Der Nachrichtenoffizier des Korps hatte ihn eben bei einem gefangenen Inder gefunden, der ihn wahrscheinlich – der Mann verweigerte darüber die Auskunft – einem gefallenen höheren englischen Offizier abgenommen haben mußte, vielleicht damit er nicht in deutsche Hände fiele. Da er nun die ganze Stellung, Unterstände, Sappen, Verbindungsgräben in größtem Maßstabe darstellte, so war er eiligst der Division geschickt worden, und diese sandte ihn der Brigade.

General von Flurschütz blickte nach der Uhr: er konnte noch, wenn auch knapp, zur rechten Zeit ankommen. Da nun erklärende Worte dabei notwendig schienen, so wollte er ihn einer Gefechtsordonnanz nicht anvertrauen. Er sandte also Oberleutnant von Bißwang damit ab. Der zog sich den Lappen von Mütze über den Kopf, und einen Augenblick darauf eilte er die Dorfstraße hinab. Sie war verlassen. Aus Kellerluken drang Licht. In einem Erdgeschosse hatte man Pferde eingestellt. Beim Aufflackern der Feuer am Himmel dämmerte der dunkle Schatten eines Kirchturmes. Ein Platz öffnete sich. Auf dem Boden lagen ungewisse Massen, noch nicht weggeräumt. Überbleibsel vom Sturm: Balken, Bretter, ein Faß, Kleidungsstücke in Schmutz und Dreck getreten, alles im farblosen Dunkel der Nacht. Schränke, Tische, Stühle, Betten hingen aus dem aufgeschlitzten Innern eines Hauses. In einem Kaufladen brannte Licht. Am umgestürzten Ladentisch saßen zwei Soldaten, das Gewehr im Arm, mitten in dem Wust von geleerten Fächern, herumgeworfenen, zertretenen, angekohlten, beschmutzten Gegenständen. Zerbrochenes Porzellan und Glas trauerte unter einem seltsamen Haufen von Strohhüten, Stoffen, Leinen in halb abgewickelten Ballen. An der Wand hingen unversehrt Heiligenbilder, abscheuliche Buntdrucke, dann Weihwasserbecken aus Steingut und gewöhnlichstem Porzellan. Auf einem Nebentisch stand noch unberührt die Wage, die Gewichte auf der einen beschwerten Schale, als sei es die der Deutschen, während die andere, die ihrer Gegner, leer in der Luft schwebte.

Oberleutnant von Bißwang ging dicht an dem Laden vorbei. Er kannte ihn genau so, seitdem sie auf der Gefechtsstelle waren. Aber er wollte nachsehen, was die beiden da trieben, die tiefversunken saßen. Suchten sie sich etwa Beute aus? Das hätte er trotz aller Not der Eile gehindert, und er warf einen Blick hinein durch das Schaufenster, das, längst zertrümmert, dem Auge kein Hindernis bot. Er sah das Gesicht des einen: Ein ruhiges, ernstes Antlitz, glatt und jung, älter nur durch den Vollbart, der es umrahmte, sah die ruhigen Augen auf etwas ruhn in der Hand. Es war ein kleines, flamisches Gebetbuch, und der deutsche Krieger, der gewiß daheim platt sprach, las andächtig die Gebete, allen gleichmäßig geltend, so Freund als Feind. Des zweiten, der seine Mütze tief in den Nacken geschoben trug, braune, breite, schwere Bauernfinger folgten langsam einem französischen Alphabet. Seine Lippen bewegten sich leise. Er lernte, wie es schien. Die Stirn war gerunzelt, er lernte schwer. Aber vielleicht konnte es ihm helfen, einmal im Quartier oder beim Wegeerfragen. Nun wischte er sich stöhnend die Stirn mit der riesigen braunen Feldzugshand, die aus dem zu Schonung und Arbeit umgeschlagenen Ärmel des Waffenrockes schaute. Und draußen zogen unablässig über ihre Häupter die schweren deutschen Granaten hinüber zum Feind, und um Belvoorde, nicht gar weit vielleicht, schmetterten englische Granaten krachend nieder. Diese beiden aber drin im Laden, eine Lampe ohne Glocke schwebte von der Decke, saßen still versunken wie daheim.

Während der Oberleutnant die dunkle Straße von Belvoorde schritt, dachte er, der gewiß mit seinen beiden langen Beinen auf dem Boden der Wirklichkeit stand, ganz weich und ganz gerührt: Deutschland, du mein Deutschland, das solche Menschen trägt auf seiner Heimatserde, wie könntest du je zugrunde gehen? Wie solltest du je besiegt werden? Du Land, dessen einfache Soldaten im zerschossenen fremden, elenden Dorfe, in tiefer Nacht, um sich wachzuhalten, weil sie vielleicht gleich vor müssen in den Kampf, beten und lernen.

Das gab ihm einen Stoß in innerster Seele. Er dachte an Stine Esserte, von diesem Land und Blut, die sein wartete. Er hatte ihr so oft geschrieben, wie es hier draußen sei, und fühlte nun die arme Leere seiner Worte. Da kam ihm der drängende Wunsch: Jetzt sollte sie hier sein. Schmerz und Unglück tat ein Starker allein ab, aber bei Erhebung, Stolz und Größe seines deutschen Vaterlandes hätte er ihr gern die Hand gedrückt.

Er bog in die Straße ein, die nach Westen just dem Feind entgegenführte. In der Lücke stand über einem dunklen niederen Hindernis hell der Himmel, sobald es aufzuckte da draußen, wie das strahlende und wieder erlöschende Licht eines Leuchtturms. Bißwang wich allem aus, was da herumlag an Trödel, Ziegeln und Balken von zusammengestürzten Häusern, deren Trümmer, Halbinseln gleich, in die Straße hineinragten. Ab und zu schwirrten Infanteriegeschosse, so daß er sich seitwärts in ein Haus rettete mit dem Gedanken: Also reicht die Straßensperre doch nicht aus, sie schießen immer noch drüber weg. Er griff in die Tasche, zog sein Notizbuch, ließ die Taschenlaterne aufleuchten und schrieb: »Belvoorde, Moltkestraße. Barrikade höher machen.« Dann suchte er mit dem Licht seinen Weg über die Dorfzeile, denn durch die Häuser der anderen Straßenseite waren Türen gebrochen. Ein seltsamer infanteriefeuersicherer Verbindungsgang, mit der ebnenden Kraft des Krieges Nachbarhäuser freundlich verbindend, die vielleicht früher in bitterster Feindschaft gelebt hatten. Rechts und links im Dämmer verbrannter, zerstörter und verlassener Heimstätten dunkelte allerlei Verdächtiges. Höfe taten sich auf, durch Sandsackmauern abgesperrt, die das Licht hell zurückwarfen. Dann kam links auf der Straße jene zu niedrige Sperre aus räderlosen zusammengefahrenen Wagen, mit Schutt und Erde gefüllt, mit alten Lappen verhängt, daß kein verräterischer Lichtstrahl hindurchfiele.

Über dem einsamen Gänger wölbte sich jetzt unerwartet der dunkle Nachthimmel, daran Sternenglanz zitterte, denn die Wolken hatten sich verzögen. Der Kürassier sah nach der Uhr und beschleunigte den Schritt. Drei Uhr zehn sollte der Sturm sein und zwei Uhr zwanzig war es schon. Er überlegte, während er auf dem lehmigen Boden des Annäherungsweges in Löcher trat, über stehengebliebene Lehmbänke stolperte, daß es besser sei, nicht erst beim Regiment Zeit zu verlieren, sondern gleich vorzugehen zum dritten Bataillon, das neben dem zweiten angriff, während das dritte bereitgestellt war.

Das Wasser stand fußhoch im Graben, der sich bisweilen erweiterte zu Ausweichstellen, an deren Buchtung Leute ihn vorbeiließen, die allerlei brachten oder holten: Munition, Essen vielleicht, den Kaffee.

Der Graben war jetzt so tief eingeschnitten, daß der Eilende nichts über sich sah als den Himmel und ein paar hereinhängende Gräser, durch die unheimlich alles vergrößernde Nacht zu Latten, ja Balken gewachsen. Ohne Ruh zogen hinüber und herüber die Granaten, die vielkalibrigen, die elend verpuffenden, die todbringenden, flach oder steil. Sie schlugen in der Ferne ein, sie krachten in der Nähe. Als einmal Dreck und Erde herumspritzte, sagte einer, an dessen vorgewölbtem Wanst er kaum vorbeikonnte, die Pfeife im Mundwinkel: »Das war nah!« Bißwang klopfte ihm auf den dicken Bauch: »Und dabei so'n Riesenziel!« Als jener den Offizier erkannte, riß er das Hornmundstück aus dem Maul und hielt die Pfeife seitwärts aufrecht, gleichsam wie einen Gewehrstummel:

»Herr Oberleutnant, ich bin nicht immer so dick gewesen.«

»Also ist Eure Verpflegung so gut?«

»Jroßartig. Und man hat keene Bewegung.«

»Als was sind Sie denn verwendet?«

»Ja Herr Oberleutnant … wenn man sich das überlegt … das ist nämlich …«

Der Kürassier nahm ihn freundschaftlich bei beiden Schultern und drängte sich eilig vorbei:

»Lieber Freund, wenn ich wiederkomme!«

Dann rannte er davon, daß das Wasser spritzte, und er fühlte, wie es ihm zwischen den Gamaschen in die Stiefel lief. Es quatschte und er dachte bei jedem Schritt: Im Frieden würde ich mich nun wahnsinnig erkälten. Aber wer konnte sich hier umziehen! Dabei fiel ihm ein: Er hatte ja gar keine anderen Stiefel! Das zweite schwerleidende Paar war zum Schuster gebracht und die neuen – ach du lieber Gott! Wo mochten die liegen! Sie waren schon vor zwei Monaten bestellt. Stine hatte sie abgeschickt. Wenn das der »Herr Major« wüßte! Und über solch eigenen kleinen Menschlichkeiten – neben all dem Großen, Erschütternden ein gesundes Gegengewicht der Nerven – achtete er nicht auf die Granaten, unter deren Sperrfeuer jetzt der Annäherungsgraben lag. Sein geistiges Ohr hörte nichts von dem Krachen rundum, das, oft in bedenklicher Nähe, die unschuldige flandrische Lehmerde aufriß, hörte nicht das Pfeifen und Surren, das Heulen und Schwirren all der Eisen-, Blei-, Stahlsplitter, die über den Graben spritzten. Niemand war darin bei dem heftigen Feuer. Was nicht unbedingt vor mußte, hatte sich in »Kaninchenlöcher«, kleine seitliche Erdnischen, geflüchtet.

Da weitete sich plötzlich der Weg. Lehm lag umher in dicken, fetten Schollen. Ein Volltreffer war mitten in den Graben gegangen. Als nun der Kürassier fluchend, rutschend, strauchelnd über das Gebröckel stieg, in dem er bisweilen steckenblieb, daß er mit schmatzendem Ton die Stiefel herausziehen mußte, sah er zwei Leute von der Telegraphenabteilung bei der Arbeit. Im Vorbeitaumeln fragte er: »Ist's bald wieder geflickt?« Ein Gefreiter, der auf dem Schmutz sich mühte, eine Drahtrolle neben sich, antwortete, ohne aufzublicken: »Wieder mal alle Drähte abjeschossen.« Der Kürassier scherzte: »Kinder, verknüpft nur nicht falsch!« Ein Lachen kam zurück, und er torkelte, taumelte, rannte weiter.

Man sah jetzt genau jede einzelne Leuchtrakete steigen. Lichter schwebten am Himmel. Ein Verbindungsgraben zweigte ab. Dort stand Mann an Mann, im Helm, mit Sack und Pack. Der Ordonnanzoffizier fragte nach Major von Rossow. Eine eherne Stimme antwortete: »Hier hängt er!« Ein Stabsoffizier, fast so groß wie der Kürassier selbst, aber breiter und stärker, streckte ihm die Hand entgegen und bei dem Aufleuchten von irgend etwas, das da Feuer und Lärm zugleich schlug, sah man ein Paar wundervolle, nordische blaue Augen:

»Na, Harry, die hohe Brigade ooch mal bei uns?«

»Wenn sie darf, immer!«

»Willst wohl gern den Sturm mitmachen, Harry?«

Bißwang zeigte seinem Vetter, dem Major von Rossow auf Klein-Rossow in der Uckermark, den Plan mit den englischen Gräben. Der aber rief abwehrend in seiner sicheren Weise, der immer alles »olle Kamellen« war:

»Ist nichts Neues! Haben wir, Harry! Nach der Fliegerphotographie, nicht wahr?«

Doch als der Ordonnanzoffizier ihm das Besondere erklärte: den großen Maßstab, die Bezeichnung von Dingen, die man wohl mutmaßte, aber nicht wußte, riß er die blauen Augen auf, kraute sich den Kopf, blickte nach der Uhr und gab mit seiner dröhnenden Stimme Befehle: Die Offiziere der Sturmmannschaft, die Offizierstellvertreter und was an Unteroffizieren in der Nähe war, sollten sofort kommen. Sie krochen in den Bataillonsgefechtsunterstand. Eine Leiter führte hinab. Die Decke war von Eisenträgern, Baumstämmen, Betonschichten und einer Erdaufschüttung gebildet. Der Major zeigte seinem Vetter stolz den kleinen Herd, Tisch, Stuhl, auch ein paar Bilder an der Wand. Der Kaiser, und – es stammte aus einem zerstörten Hause von Belvoorde – merkwürdigerweise das Pilotische Bild aus der Münchner Pinakothek: Seni vor der Leiche Wallensteins. Inzwischen war auch der lange Hauptmann eingetreten. Er rief ärgerlich: »Jetzt im letzten Moment? Wir haben noch zehn Minuten zu gehen!« Aber Major von Rossow huschte in seiner frohen, frischen Weise darüber hinweg, sagte mit drei Worten, wozu die Herren gerufen worden seien und Oberleutnant von Bißwang gab die Erklärung weiter, die ihm vom Ordonnanzoffizier der Division überkommen war. Das wichtigste schien die Einzeichnung von zwei Maschinengewehren mit den Pfeilen, die ihren Wirkungskreis andeuteten, daneben die genaue Führung der Gräben, die Angabe der Unterstände, ja eines unterirdischen Ganges.

Sie drängten sich heran, die schlanken Gestalten, die durch strengen Dienst, nie aussetzende Verantwortung, Nervenanspannung ohne Ende, unregelmäßige Mahlzeiten, faules Fett nicht hatten ansetzen können. Da standen sie, mit den kurz geschorenen Köpfen unter dem Stirnband der Mütze, dessen verräterisches Rot durch einen grauen Wollstreifen versteckt war, standen da mit ernsten Gesichtern, sie, die alle mehr denn einmal den Tod gesehen. In fünfundzwanzig Minuten würden sie ihn wieder erblicken, zur Rechten wie zur Linken, ja vielleicht in der Mitte, wenn er sie selbst mit kurzem schnellem Griff packte. Sie, wie all die Leute, die da draußen in den Gräben warteten, die körperliche Auslese ihres Volkes, bereit, ihrem Vaterlande freudig das höchste Ehrenopfer darzubringen, das sie besaßen: ihr Leben. Und jeder hatte nur eins!

Sie betrachteten auf diesem feindlichen und doch ihnen freundlichen Blatt ihren Weg, der vielleicht dorthin geführt hätte, wo die Taktak-Mähbahn der Maschinengewehre so drohend eingezeichnet war. Sie flüsterten zusammen. Der lange Hauptmann sprach mit seinen Zugführern. Er ließ einzelne seiner Leute rufen und erklärte ihnen das Kroki. Der Oberregierungsrat war dabei. Auch das Maschinengewehr brachte ihm gewiß nicht einen Haß bei, den er nun einmal nicht besaß, der ihn jedoch nicht hindern würde, möglichst viele der Gegner drüben in den schottisch-karierten Himmel ihres Landes zu senden, wo auch die lieben Englein vielleicht Kill und Plaid trugen. Mit wenigen Strichen hatte er die beiden Stellen mit den verderblichen, noch schweigenden Maschinen sich groß eingezeichnet. Er kannte sie von den Patrouillengängen, besser vielleicht als irgendeiner. Als er das Papier zusammenfaltete, sagte sein Hauptmann: »Zeigen Sie's nur allen, daß alle wissen, wo die Luder stehen!«

Es bedurfte dessen nicht: Sie hatten für die beiden Stellen Namen. Ein zerschossener Giebel war bei der einen und jemand hatte aufgebracht, er sähe aus wie das Profil von Sir Edward Grey. Die andere deckte ein Zuckerrübenhaufen, den sie, wer sollte wissen warum, »die tote Miß« nannten! Nun ging es weiter von Mund zu Mund: »Achtung, Köppe weg, beim Grey und bei der Miß steht ein Maschinengewehr.«

Der Unterstand hatte sich geleert. Der Major schlug mit mächtigem Prankenhieb seinem Vetter auf den Buckel: »Harry, ich möchte nie wieder nach Haus. Muß das jetzt ledern dort sein! Was sollte ich dort? Keen Lärm, keen Schießen. Alles janz und nischt kaputt. Und hier wie drin im Quartier habe ich ja alles: Ofen, Küche, Jemälde! Und elektrische Beleuchtung richten wir ein. Wir sind noch nicht so weit. Nur meinen schönen Teppich haben sie mir janz versaut.«

Er musterte bedenklich den Fußboden, auf dem die Lehmkrusten wie Teigwaren umherlagen. »Ja, du hast's fein!« sagte Harry Bißwang und der Major rückte seinen Helm:

»Na, die Decke hält 'ne Feldgranate ab. Vielleicht auch noch 15 cm. Was darüber ist, das ist vom Übel. Gott, im übrigen, Familie habe ich nicht. Die paar Leute, die sich bei meinem Begräbnis 'ne Zitrone koofen, auf die brauche ich keene Rücksicht zu nehmen. Übrigens gedenke ich sie noch lange nicht in Unkosten zu stürzen. Ich bleibe noch hier. Wenn ich abschwirrte, sähe ich ja mein Bataillon nicht mehr. Und – Harry, ich bin ein janz gläubiger Christ, aber ob se mir das da oben ersetzen könnten? Na, denn bleibe ich am Ende doch lieber noch 'n bisken hier.«

Der Major zog die Uhr: »Du, jetzt muß ich dich aber 'rausschmeißen. Es jeht gleich los. Ich weiß jar nicht, der Adjutant ist noch nicht da, mein Müllerchen! ›von Müllerchen!‹ Die einzige Schwäche, daß er den dem Großvater verliehenen Adel wieder ausjegraben hat. Wunsch der Frau Jemahlin. Aber wo bleibt denn mein Müllerchen?«

Sie gingen hinaus. Während der Kürassier sich abseits hielt, suchte der Major sein Müllerchen, den er vorgeschickt hatte, um die Herren wegen des Krokis zusammenzutrommeln. In dem Augenblick kam ein Sanitätssoldat. Er meldete dem Major etwas, der schritt auf Oberleutnant von Bißwang zu und sagte mit schlaff niederhängenden Armen: »Mein Müllerchen ist eben gefallen.« Dann stand er einen Augenblick wie gelähmt da, bis er den Sanitätssoldaten fragte: »Wo liegt er?«

»Im Hansa-Unterstand, Herr Major.«

»Ich komme nachher hin. Jetzt kann ich nicht.«

Und er rannte zum Fernsprecher hinein. Dort sah man ihn sitzen, wie er mit unbewegtem Gesicht in die Schalldose sprach.

Der Ordonnanzoffizier hielt in der Hand die Uhr. Der große Zeiger hatte die Eins überschritten. Näher und näher rückte er der Zwei. Dem Oberleutnant von Bißwang schlug vor Aufregung das Herz. Er ließ von dem Zifferblatt nicht die Augen. Allerlei Gedanken kamen ihm: Er bildete sich plötzlich ein, seine Uhr ginge vor, dann wieder packte ihn die Erregung: nein, er hatte sie unrichtig gestellt: sie ging nach. Er lauschte, doch nichts anderes war zu hören als das Krachen der Granaten weit und breit.

Mit einem Male zitterte der Boden, ein Donner dröhnte, all das Getöse übertönend, wie eine gewaltige Stimme, die siegreich über dem Orchester schwebt. Rechts vorn, weit draußen am Horizont, waren Flammen emporgeschlagen, eine Rauchwolke verfinsterte die Gestirne, und in der Nähe prasselte irgend etwas nieder, Staub und Dreck: Die Höhe 40 war in die Luft geflogen.

Es war drei Uhr zehn.

Im gleichen Augenblick schien das deutsche Feuer vorzurücken. Ferner krachten die Explosionen der Granaten, und in die fahle Sternennacht schmetterte plötzlich ein neuer Ton: das Tacken der Maschinengewehre. Wer sollte sagen wo? Es mochte wohl das sein von Sir Edward Grey, vielleicht auch die tote Miß, wahrscheinlich beide, denn daß es Engländer waren, erkannte man an ihrer Sprache, verschieden von jener der Deutschen.

Der Kürassier stand da, die Fäuste geballt. Die Untätigkeit, das Warten als ohnmächtiger Zuschauer, bäumte alle seine Sinne auf. Deutlich hörte er jetzt in dem wütend vermehrten Infanteriefeuer, das in Rasseln überging, in Trommeln, in Peitschen, Gellen, Toben: das Hurra der Deutschen. Jenen Ruf, mit dem sie in den Feind brechen, davor sich alles fürchtet, was da vorn an Schwarzen, Gelben, Weißen ihrem Ansturm standhalten soll. Und den Oberleutnant von Bißwang überlief es heiß, kalt, heiß. Er fühlte sich stolz, glücklich, hier zu weilen, ein Deutscher zu sein, ein Soldat dazu. Da er nun aber zurück mußte nach dem Auftrag zur Brigade, zu seinem Dienst, und Glück und zitternde Erregung alle Sinne und Nerven aufpeitschte in ihm, rannte er in das Sperrfeuer hinein, das die Engländer, nun sie den Sturm kommen sahen, auf die rückwärtigen Verbindungen legten, damit nichts mehr vorkäme bei den Deutschen. Bißwang stürmte im Graben hin, daß von der Sohle hoch das Wasser aufspritzte. Aus Löchern schauten ihm die Gesichter der dort Gedeckten erstaunt nach. An jener Stelle, wo der Volltreffer den Graben zerfetzt hatte, fiel er stolpernd in dem Lehm auf die Knie. Er tastete nach den Drähten. Sie waren wieder geflickt und lagen nun in unversehrten Strängen. Da nun aber der Graben verschüttet war, sprang er von Trichter zu Trichter, denn in dem tiefen Lehmboden, darauf ekle, glitschige Überreste von Zuckerrüben lagen, hatte sich in der langen Zeit, die das Feuer hier getobt, Loch an Loch gebildet.

In Oberleutnant von Bißwangs Ohren klang noch die Klage des Majors von Rossow um sein »Müllerchen«. Er konnte den Ton nicht vergessen. Von so vielen Kameraden, mit denen er befreundet gewesen, hatte er Abschied nehmen müssen, aber noch nie war ihm der jähe Tod des Soldaten so nahe gegangen wie bei diesem Leutnant, den er eigentlich kaum gekannt. Wie er an die Frau dachte, nun Witwe, sie ahnte es ja noch nicht, wehte ihn der häßliche Gedanke an: Sie hatte ja doch wenigstens ihren Adel. Und über all dem stand er mit klopfenden Pulsen am Ausgang des Grabens, derart außer Atem von Stürmen und Lauf, daß er in einem der Häuser, durch die jener merkwürdige Gang geschlagen war, die ganze Dorfzeile hinab, sich an eine schmutzige Mauer warf, grade im Ruß eines Kaminloches, und mit zitternden Knien wartete, bis der hämmernde Schlag seines Herzens sich etwas beruhigt hatte.

Da ragte auch schon der dunkle Schatten der Kirche, da öffnete sich der Platz. In dem Laden, wo die beiden Soldaten lernend und betend stillversunken gesessen, war das Licht verlöscht. Einen Augenblick darauf lachte General von Flurschütz:

»Wir haben's wieder, das – na jetzt wollen wir's anders nennen – das Sieges-Häuschen. Wir haben's wieder! Gott sei's getrommelt und gepfiffen. Und noch 'ne ganze Ecke dazu. Die tote Miß und den Mr. Grey.«

Der Kürassier, der doch die Freude seines Generals am Widerspruch kannte, antwortete lachend:

»Darf ich mir gehorsamst erlauben, Herr General, nicht Mister Grey, sondern Sir Edward Grey.«

Aber der kleine General rief ihn an:

»Ich bin kein Engländer, Verehrtester.«

»Ich ooch nicht.«

»Bißwang, Sie sind ein unverschämter Kerl.«

»Aber ich habe recht, Herr General!«

»Na, das wollen wir in Ihrem Interesse nicht weiter erörtern!«

Der Fernsprecher meldete immer Neues. Die Linie wurde angegeben, von der Brigade jetzt gehalten, nicht allein die befohlene, sondern die als erwünscht bezeichnete dazu. Und dann wurden die Verluste genannt, soweit sie schon zu übersehen waren. Wie der lange Hauptmann es in seiner Ansprache gesagt: Dieser und jener war liegen geblieben, darunter er selbst und sein kriegsfreiwilliger Oberregierungsrat. Ohne eigentlichen Haß gegen die Engländer hatte er doch, wie seine Nachbarn beim Angriff zu erzählen gewußt, eine nicht unerhebliche Anzahl Schotten, aus rein ideellen Gründen, in den Himmel gesandt, ehe er selbst ihnen folgte.

General von Flurschütz sagte wehmütig ernst zu seinem Adjutanten:

»Nun müssen die braven Grenadiere ohne ihren Hauptmann ihren Kaffee trinken. Aber sie kriegen ihn, denn der hielt Wort!«

Auf der Divisionsgefechtsstelle aber nahm Major von Esserte dem Unteroffizier Rosenthal den Hörer ab und meldete Generalleutnant Greger, laut wiederholend, was er vernahm:

»Die Brigade Golm hat den Sprengtrichter Höhe 40 besetzt. Ganz ohne Verlust. Es war niemand mehr drin. Der Feind ist restlos in die Luft geflogen. Seine Geschütze mit.«

Dann beugten sie sich alle auf Karten und Papiere und die Bleistifte kritzelten. Bald wurde der Kraftwagen bestellt, um, nun schon die Sonne ihre ersten Strahlen über das verwüstete flandrische Land warf, zurückzufahren nach Ralinghien. Vielleicht standen dort jetzt gerade die französischen Damen auf. Zu einer Stunde, wo sie sonst in Friedenszeiten, in Claires Eroberungsjahren, oder als Laetitia als junge Frau in Paris sich feiern ließ, vielleicht auch erst heimgekehrt waren. Aber von ihrem Vergnügen, von Eitelkeit und Sinnenlust, und nicht wie die ernsten deutschen Offiziere, die jüngsten sowohl wie jene, deren Haar schon ergraute, von der blutigen Arbeit, zum Siege für ihr Vaterland.


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