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1

Gleich einem stahlblauen Schilde stand wolkenlos der Himmel über der französischen Erde. Vorwärts des Höhenzuges schien dem Auge die Landschaft verlassen. Auch das Ohr, hinausgeschickt von der bewaldeten Höhe, vernahm nichts in der Totenstille, als sei das ganze weite Gebiet dort unten nur ein längst erloschenes Himmelsgestirn. Und, wie auf Mondkarten, meinte man im strahlenden Sonnenlichte Streifen, Krater, Meere zu erkennen. Doch als der Blick an Schärfe gewann, ward das Wunder all des tiefen Schweigens offenbar: zerschossene Dörfer lagen dort, von den Ringen der Schützengräben umzogen, doppelt, einander bedrohend mit stummer Gegenwart.

Rückwärts des Höhenzuges, der wie ein Wall von Nord nach Süden strich, das gleiche Bild: Ruinen, halbabgeerntete Felder. Aber nicht tot war hier das Land: auf den Straßen schoben sich Kolonnen hin, scheinbar ohne Zweck und Ziel; an den Einfriedigungen, aus den Trümmern der Ortschaften, stieg blauer Rauch empor, sich kräuselnd im leisen Winde.

Von irgendwoher klang durch die Mittagssonnenstille der Schlag einer Uhr.

»Das ganze verfluchte Aribes da unten ist zum Deubel, aber die Uhr ziehen die Kerle jeden Tag noch auf! Hat doch jar keenen Zweck!«

Der Artilleriehauptmann Wessels, in feldgrauem, schon etwas abgetragenem Waffenrock, ohne Säbel, ohne Sporen, die Feldmütze gleich einem weichen in sich zusammengefallenen Lappen auf dem Kopfe, sagte es zum Generalstabsmajor von Esserte.

Sie standen neben des Hauptmanns Geschützen. Tief eingegraben, umbaut mit Erdwällen, durch frischabgehauene Zweige dem Auge feindlicher Flugzeuge entzogen, ruhten sie, gleich unförmigen Fabelwesen aus der seligen Kinderzeit der Mutter Erde, breitbeinig auf den Rädern wie auf riesigen Pfoten, während die niederhängenden Schutzschilde erstaunlichen Flügeln glichen, die Lafette als Schwanz nach hinten auslief und der Leib kopflos endete in kreisrundem Maul, das Schrapnelle und Granaten spie.

Da zeigte sich am Himmel ein dunkler, gedoppelter Strich. Eine Wolke rollte sich auf und blieb zerdunstend stehen, während das Flugzeug unbeirrt weiterschwirrte. Kurz darauf traf der Knall das Ohr. Nun folgten in nicht endenwollender Reihe dem Riesenvogel den ganzen Weg, den er gezogen kam, weiße Wölkchen, hinten mehr und mehr zergehend, vorn aber immer wieder zum Leben erweckt.

Hauptmann Wessels rief, das Zeißglas unter den roten buschigen Brauen:

»Ein Deutscher!«

Es hätte des schwarzen Eisernen Kreuzes auf dem Tragdeck nicht bedurft: Schon die Gestalt verriet den Freund. Die Kanoniere, die herumlagen, die Arme unter dem Kopf verschränkt, folgten lächelnd dem Fluge des lieben großen Vogels. Unbeirrt von Eisengrüßen kam er seine Bahn gezogen, mit dem Schweif der allmählich in der Himmelsbläue zergehenden Schrapnellwolken. Sein Flügelrauschen, das Surren des Propellers, klang, nun er über den deutschen Stellungen flog, deutlich herab. Hauptmann Wessels rief, ohne das Glas abzusetzen, und der rötliche, wilde Feldzugsbart ging beim Sprechen auf und nieder:

»Federn hat er aber lassen müssen. Im rechten Flügel fehlt ein ganzes Dreieck. Dunnerkiel, ich glaube gar, er hängt. Wahrhaftig hängt nach links. Und nu … er geht ja runter … Verflucht, wenn nur nicht …«

Eine Anzahl der Leute stand auf. Alles verrenkte sich den Hals. Das Surren war nicht mehr zu hören. Richtig, er ging nieder. Welche behaupteten, er beabsichtige nichts als eine Täuschung, damit der Gegner das nun unnütz gewordene Feuer auf den vermeintlich Getroffenen einstellen sollte, andere meinten jedoch, er habe etwas abbekommen. Am liebsten wären die Kanoniere ihm nachgelaufen bis dorthin, wo er landen würde, lagen sie doch schon seit Wochen hier auf einem Fleck. Dennoch änderte sich täglich das Bild: Da funkte mal der Gegner mehr als sonst herüber, Schrapnelle spritzten, eine Granate verirrte sich hierher, wo sie doch nichts zu suchen hatte. Dann kam Besuch: ein hoher Vorgesetzter, oder die Kameraden aus den Schützengräben da vorn, mit lachenden Erzählungen über die Unverschämtheit der Turkos, außerhalb der Deckungen spazieren zu gehen. Die Feldpost brachte Briefe, Zeitungen, Zigarren, Schokolade, warme Sachen in Erwartung des nahenden Winters. Die größte Freude war freilich immer, wenn ein Schuß besonders gut gesessen hatte. So vorige Woche, als die Schule von Forges-en-Bray nach einem Volltreffer in die Luft gegangen war, als ob die Rothosen drüben ihr Munitionslager darin gehabt hätten.

Inzwischen war der Flieger hinter dem Nadelholz rückwärts verschwunden. In dem Wäldchen, rund um die Batterie zur Deckung gegen Sicht frisch gepflanzt, setzten die Kanoniere eben noch ein paar Bäume. Der Batteriechef betrachtete dabei seine Jungens, die er, wenn es nottat, auch mal scharf anhauchen konnte, mit väterlichem Lächeln, zog seine Zigarrentasche und hielt sie einem Unteroffizier hin. Es war ein bartloses, blutjunges Kerlchen, dem das schwarzweiße Band des Eisernen Kreuzes am zweiten Knopfloche saß: »Ruboeuil vergesse ich Ihnen nie – Behmke!«

Da fragte die ungewöhnlich tiefe Stimme des Majors von Esserte den Ausgezeichneten, was er geleistet habe, um sich das Kreuz von Eisen zu holen.

Der blonde untersetzte Unteroffizier hob mit einem Ruck den Kopf und nur die abstehende Zigarre in der rechten Hand fiel aus der militärischen Ordnung.

Bei »Rüböl«, wie er es aussprach, sei ihnen eine französische Batterie sehr lästig, ja fast unangenehm geworden, wegen ihres vorzüglichen Flankenfeuers. Dem Herrn Hauptmann hatte sie völlig die Laune verdorben. Das konnte er nicht mehr mitansehen und war dann eines Nachts einfach nach »Rüböl« »hinübergemacht«. Dort hatte er richtig eines der Geschütze entdeckt und da der Posten schlief, den Verschluß herausgenommen.

»Ich konnte so schnell nich loofen mit det schwere Ding, drum habe ich's in 'nen Teich jeschmissen. Aus dem haben wir's später wieder rausjefischt, als wir's Geschütz hatten. Det war allens. Die Rothosen haben zwar hinter mir herjeknallt wie verrickt, aber jetroffen haben sie nicht, Herr Major.«

Der Hauptmann bewegte ärgerlich den Kopf: nun fing der Unglücksmensch schon wieder an, es so darzustellen, als ob er das Eiserne eigentlich umsonst bekommen hätte. Der Generalstabsoffizier aber gab dem Erzähler kurz die Hand, gleichsam pflichtmäßig, als hielte er solches aus Gründen für nötig, die, außerhalb seines Fühlens, lediglich dem Hirn entsprangen. Dann verabschiedete er sich von Hauptmann Wessels: er wollte den Beobachtungsoffizier des Fliegers, der hinter ihnen niedergegangen war, sprechen, vielleicht brachte der Wichtiges oder doch Wissenswertes zurück. Sie schüttelten einander die Hand wie alte Freunde, hatten sie doch die Kriegsschule mitsammen besucht. Esserte war durch den Generalstab gesprungen, während der Artillerist nie etwas anderes sein wollte als ein braver Frontoffizier, dem es eine Ehre ist, sich, wie er mit breitem Lachen zu sagen pflegte, »für Kaiser und Reich« totschießen zu lassen.

Major von Esserte kürzte ab, den Hang hinunter durch den Wald. Als er bei den Pferdeständen landete, hatte er rote Wangen, auffallend bei seinem ernsten, grauen Gesicht. Durch buntes Leben schritt er dahin. Da wuschen sich Leute mit kargem Wasser, denn damit mußte gegeizt werden, dort stieg zischend Rauch auf, mit jenem scharfen Geruch von verbranntem Horn beim Anpassen der Eisen auf den Hufen. Die Sonne warf die Schatten der Bäume über den Acker, der wellig niedersank, weit bis zu Trümmern, einst Heimstätten von Menschen.

Soldaten kamen über die Höhe. Der Major fragte, wohin sie wollten, und grüßte pflichtgemäß bei bewegungslosen Zügen, als sie meldeten, sie lösten Posten ab. Der Einsame ging weiter, seltsam kurz, fast behutsam ausschreitend, als sei eine Hemmung in Geist oder Leib. Als er die Höhe erreicht hatte, tat sich vor seinen Blicken eine Mulde auf, darin etwas lag, gleich einer Riesen-Libelle mit ausgespannten grün-gelben Flügeln. Soldaten umringten neugierig den großen verlassenen Vogel.

Major von Esserte warf einen Blick auf den leeren Führersitz und streifte mit den Augen das Tragdeck des rechten Flügels. Da war das herausgefetzte Dreieck, das Hauptmann Wessels beobachtet hatte, daneben Löcher, zugeklebt und mit dem Datum versehen, als ob ein alter Soldat an verharschten Wunden den Gefechtstag hätte eintätowieren lassen.

Der Major fragte ein paar Leute, die dabei die Zigarre schnell aus dem Munde nahmen, von Feldzugsbärten blond und dunkel umbuscht, nach den Fliegern. Sie antworteten, die beiden Herren Offiziere wären zum Fernsprecher beim Brigadestabe in Fresne-la-forêt gegangen. Da näherten sich zwei schlanke Gestalten, wuchsen, blieben vor ihm stehen. Die Herren kamen schon zurück. Während der Beobachter dem Generalstabsmajor auf der Karte die neue Stellung einer feindlichen Batterie zeigte, die seit heute morgen plötzlich den deutschen Schützengräben lästig ward, und nach der »Dinerpause«, wie der Oberleutnant die mittägliche Ruhe der Rothosen nannte, zum Schweigen gebracht werden sollte, war der Flugzeugführer an seine Maschine getreten.

Das Leben leuchtete ihm aus den blauen Augen, und wie er sein Flugzeug, das ihn so oft treu durch die Lüfte getragen, umkreiste, die Spanndrähte prüfend, strich er fast zärtlich über den im Dreieck herausgefetzten Stoff, als wollte er sagen: »Geht auch so!« Dabei wurden die blanken Zähne von den Lippen entblößt, daß sie fest und weiß blendeten. – Er prüfte den Motor, dann blieb er an das Flugzeug gelehnt, groß und schmal in seiner Ulanenuniform stehen. Fast sah er aus wie ein Knabe bei seinen zwanzig Jahren und mußte doch ein ganzer Mann sein: Das bewies das Eiserne 1. Klasse links auf seiner Brust unter den verschränkten Armen.

Der Beobachter faltete die Karte zusammen. Nun ließ sich Major von Esserte Barograph, Tourenzähler, Höhenmesser, Steuerorgane zeigen und der Flieger stand in seiner schlanken Größe erklärend dabei. Immer wieder wollte der Generalstäbler etwas wissen, scharf in der Fragestellung, kurz, das Wesentliche fassend, nun wo er sachlich zu sprechen hatte, ein veränderter, hemmungsloser Mann. Erst als er außerdienstlich Abschiedsworte suchte, kehrte jene merkwürdige Gebundenheit eines Pflichtmenschen zurück, und wie den Unteroffizier vorhin, fragte er jetzt den Flieger, als sei es seine ständige Anknüpfung, nach dem Ursprung der Auszeichnung links auf der Brust. Der nahm die Absätze zusammen und antwortete wie das Selbstverständlichste von der Welt:

»Vor Paris den französischen Lenkballon ›La ville de Calais‹ zerstört!«

Major von Esserte reichte dem Leutnant die Hand:

»Meinen Glückwunsch, Graf Bielinski.«

Der so Angeredete verbeugte sich.

Inzwischen standen Leute an der Flugmaschine, sie zu halten, Leute, denen die neue Tätigkeit, wie sie der Leutnant ihnen erklärte, ungeheuren Spaß zu machen schien. Graf Bielinski kletterte in den Leib der Libelle und der Beobachter warf den Propeller ein paar Mal herum. Dann schwang auch er sich in das Flugzeug. Durch den Anlasser getrieben, sprang die Maschine an. Ein Luftstrom fauchte rückwärts, daß Halme wehten, sogar Rüben, die auf dem Felde umher lagen, zu wackeln und zu rollen begannen. Bald war der Propeller nur noch eine blitzende Sonne. Auf Kommando von den sichernden Händen entlassen, bewegte das Flugzeug sich langsam, glitt, hüpfte, jagte, um bald, der Augenblick war kaum zu unterscheiden, den Boden zu verlassen. Dann schwirrte das Luftgeschöpf davon, gleich einem brummenden Rieseninsekt, stieg, verlor an Größe, schraubte sich höher und höher empor und war, während die Soldaten dem Entschwindenden nachblickten, bald so hoch, daß man meinte, jeden Augenblick müßten es die hellen Schrapnellwölkchen wieder umplatzen.

Langsam setzte Major von Esserte seinen Weg fort, während über die zertretene ungeerntete Frucht der Felder die Soldaten folgten. Bald wuchsen die zerschossenen und verbrannten Mauern von Fresne-la-forêt empor. Wild genug sahen sie aus, diese Trümmerhaufen mit den darüber stehen gebliebenen Giebeln. Keiner hätte wohl geglaubt, daß hier neben dem Brigadestabe noch zwei Kompagnien lagen. Der Schweinestall, ausgeräumt und gesäubert, war zum begehrten Unteroffiziersquartier, der Kuhstall, auch ohne Seitenwand, zum Schlafraum für einen ganzen Zug geworden. Die Grenadiere, abgelöst aus den Gräben, standen davor bei allerlei Arbeit der Ruhetage, bis sie wieder hinausgingen an den Feind. Sie nähten mit schweren Fingern Löcher zu, die sie sich etwa beim Schanzen oder bei der Arbeit am Drahthindernis gerissen hatten. Knöpfe wurden befestigt, Stiefelsohlen aufgeschlagen. Welche zogen das Gewehr aus, putzten, fummelten, ordneten ihre Siebensachen, trockneten ein gewaschenes Hemd oder standen, saßen, lagen da, die Pfeife, die Zigarre im Mundwinkel. Wenn die Leute aufstehen wollten, winkte der Major ab.

An der tief zerwühlten Dorfstraße liefen die Feldfernsprechdrähte hin, bisweilen um einen Ast gelegt, an einem Haken befestigt, über eine Mauer geworfen. Major von Esserte ließ sich von ihnen leiten: Sie mußten zum Brigadestab führen. Da tat sich denn auch schon ein Platz auf, wo einst wohl die Dorfbewohner nach der Messe geschwatzt, geklatscht oder ihre Geschäfte besprochen hatten. In der Mitte, etwa wie auf dem Markt ein Brunnenbecken steht, gähnte ein Loch, kreisrund, und einige Schritte im Durchmesser: Der Trichter einer großkalibrigen Granate.

Am Eckhaus, wie durch ein Wunder der allgemeinen Zerstörung entzogen, hatte ein Schäker die Inschrift angebracht: »Kaiser-Wilhelm-Platz«. Eine rote Flagge mit dem weißen F des Fernsprechers darin, zog die Blicke auf sich: Dort liefen alle Drähte zusammen, um durch ein Fenster im Innern zu verschwinden. Auf der einen Seite des Hauses stand: »694. Infanterie-Brigade«; » Au cheval blanc" auf der anderen. Als der Major eben durch die schmale Tür des Weißen Rössels eintreten wollte, erschien darin Generalmajor von Flurschütz, ein kleiner Mann mit auffallend gesunden, roten Wangen.

»Da kiek mal einer an! Kümmert sich die Division ooch mal um uns?«

»Immer, Herr General!«

antwortete der Generalstabsoffizier, indem er die Hand an den großen, glatten, geraden Lacklederschirm der Mütze legte. Sie durchschritten einen schmalen, dunklen Gang und traten in eine Stube zur Linken, wo ein großer Tisch stand, Stühle aller Größe, aller Stile und Bezüge darum. Das Zusammengelesene offenbarten Teller, Gläser und Bestecke nicht minder. Der General lud den Besuch zum Essen ein, doch Major von Esserte entschuldigte sich: Exzellenz erwarte ihn bei der Division.

So wurde denn schnell die Karte ausgebreitet, und während Finger deuteten, Bleistifte zeigten, trug der Wind verlorenen Geschützdonner, die ständige Musik des Krieges über die Höhe. Aus allem, was der Major klar, kurz umrissen sagte, klang alle Sicherheit des Könnens. Als seine Augen durch die Brillengläser auf den blauen und roten Einzeichnungen ruhten, hatte seine Stimme einen fast warmen Klang. Doch sobald die Herren sich erhoben, wurde sie wieder fern und kühl.

Inzwischen füllte sich die enge Stube: Der Brigadeadjutant Hauptmann Hasenclever, der Ordonnanzoffizier sowie zwei Hauptleute, alles große norddeutsche Gestalten, die den kleinen General um Köpfe überragten. Der Brigadestab war mit dem Generalstäbler bekannt, die beiden anderen Herren nannten ihre Namen. Dann bestieg Major von Esserte sein Pferd, das aus der Seitengasse vorgeführt wurde. Generalmajor von Flurschütz, der mit Hauptmann Hasenclever dem Besuch das Geleit gab, winkte, während der Scheidende die Finger an den Mützenrand legte. Bald waren seine Hufschläge verklungen. Der General aber faßte gemütlich seinen Adjutanten beim Arm und schob ihn zuerst zur Türe hinein:

»Auf zum Festmahl, zum Bankett, zum Bachanal! Das würde es bei der Division sein. Bei uns ist es ein einfaches Feldessen!«

»Aber gemütlich, Herr General!« gab der Hauptmann zurück.

Der Brigadekommandeur schmunzelte vor sich hin.

Sie setzten sich, ein Teil versank in den zu niedrigen Lehnstühlen, General von Flurschütz dagegen, obwohl der Kleinste, blieb auf dem eigens ausgesuchten Sessel hoch thronen. Einer der Hauptleute, der in seinem Zivilberuf als Fabrikbesitzer Auto fuhr, sagte erstaunt, er habe gar keine Huppe, keinen Auspuff gehört! Meinte er doch nicht anders, als Major von Esserte haben einen Kraftwagen benützt. Doch der Ordonnanzoffizier Oberleutnant von Bißwang verzog den schiefen Mund in seinem durch einen Granatsplitter fürchterlich entstellten Gesicht:

»Es macht hervorragend guten Eindruck in diesem Kriege, wo alles Auto fährt, sich mit Reiten klappen zu lassen!«

Der General drohte scherzend mit ausgestrecktem Finger.

Die Reserve-Herren, die in einem Generalstäbler gleichsam etwas Unantastbares erblickten, schwiegen. Nun hob das Bachanal an, von dem der Brigadekommandeur gesprochen hatte. Es bestand aus Ölsardinen, gestiftet vom Adjutanten, der die Büchsen als Feldpostbriefe bekommen hatte, erhob sich zu Erbstwurstsuppe, aus einem rußgeschwärzten Mannschafts-Kochgeschirr angerichtet, und fand seinen Höhepunkt im Nachtisch: Schokolade und Leibniz-Keks. Das Ganze wurde mit wirklich gutem, altem Rotwein begossen, den der lange Kürassier von Bißwang irgendwo »requiriert« hatte.

Während der Mahlzeit ging das Gespräch fröhlich hin und her. Der General starb nicht an Herzdrücken, hörte aber auch ebenso gern ein offenes Wort, ja, er liebte geradezu Widerspruch, an dem er sich dann selbst zu steigern pflegte. Freilich nur bei Kaffee und Zigarren, denn im Dienst besaß er die ganze anerzogene Bestimmtheit des deutschen Offiziers, verstärkt durch die allen Flurschützen angeborene Schärfe und Kampfeslust. So erzählte er denn auch den beiden Hauptleuten seiner Brigade von jenem Joachim, offensichtlich dem Stammvater alles Widerspruchgeistes der Flurschützen, der einst Friedrich dem Großen gesagt hatte, als er eine Maßnahme seines Obristen getadelt: »Halten zu Gnaden, Ew. Majestät, aber das müßten wir doch erst mal erörtern!« Darauf stieß der große König zornig den Krückstock auf den Boden: »Ihm liegt wohl gar nichts an seiner Stellung?« Zum Entsetzen des Gefolges blieb aber der Flurschütz die Antwort nicht schuldig: »Als Ew. Majestät alleruntertänigster Speichellecker – nein, denn der König von Preußen braucht Soldaten!«

Der Schluß der Geschichte wurde so lange vorenthalten, bis einer der Hauptleute fragte. Erst dann spielte der General seinen Trumpf aus:

»Der Ahn ist die Treppe hinaufgefallen. ›Sein wohlaffektionierter König Friederich‹ war das Generalspatent unterzeichnet, das am gleichen Tage einlief.

Die Herren lachten, und General von Flurschütz benutzte die Gelegenheit zu einem kräftigen Wörtlein gegen Schranzentum, Liebedienerei und Wettkriechen. Als er keine Antwort bekam, gerade weil man ihm zustimmte, blies er voller Kampfeslust die roten Wangen auf, als wolle er nun hören, einige Vorsicht, um nicht anzustoßen, sei denn doch am Platze. Oberleutnant von Bißwang tat ihm den Gefallen. Er verzog sein grausig entstelltes Gesicht und schnippte die Zigarettenasche zu Boden:

»Na, Herr General, immer mit dem Koppe durch die Wand rennen ….«

Darauf hatte der kleine Mann mit den Generalsstreifen nur gewartet. Er sagte zu seinem Ordonnanzoffizier und rollte dabei die Augen, mit solchen Ansichten passe er ja vorzüglich zur Division. Der Kürassier lehnte sich still lächelnd im Stuhl zurück, nahm den Fernsprecher in die Hand und während sein Chef aller höheren Stäbe als er selbst vermeintliches Eszuguthaben bekrittelte, vernahm man Bißwangs abgerissene, schier rätselhafte Worte, das ganze Tauschgeschäft des Krieges enthüllend:

»Was, Handgranaten geben Sie zu? – Erlauben Sie, daß ich lache. Die machen wir selbst. Leere Konservenbüsen haben wir genug. Nee, nee. Aber ein Klavier wollen wir! Was? Nee, nicht Kaviar sondern Klavier. Karoline, Lowise, Anna, Veronika, jawohl Veronika, V wie in Vettel, alte Vettel. Ach, das schreiben Sie mit F? Großartig. Ich mit V. Also Veronika, Ida, Erika, Rosa, Klavier verstehen Sie nun. Na, nun nochmals: Sie dürfen also unsere Marokaner Quelle täglich drei Stunden anzapfen. Was? Nee, nee, drei Stunden, länger nicht. Dafür gehört uns erstens die Lehmgrube, zweitens müssen Sie bis Mittwoch den Befehlsholer im Auto mitnehmen, drittens liefern Sie uns nach Fresne-la-forêt die Eisenträger für den neuen Unterstand, viertens bekommt Wessels das Klavier.«

Der Brigadeadjutant flüsterte dem Ordonnanzoffizier etwas zu und nun rief der schnell:

»Halt, noch was. Hallo! fünfzig Liter Petroleum für Hasenclever. Jawohl, fünfzig. Zu viel? Gut, dann kriegen Sie kein Wasser! Schluß. – Sehen Sie. Also einverstanden. Schluß. Was? Nee, in unserem Abschnitt ist alles ruhig. Morjen.«

Der General war inzwischen von der Division zu ihrem Generalstabsoffizier gelangt und lobte eben Major von Esserte, ja fand fast begeisterte Worte über seine militärische Tüchtigkeit. Der Adjutant kannte das von jenem Obristen des Großen Friedrich ererbte Erörterungsbedürfnis seines Generals, so warf er immer noch einzelnes hinzu und bald gab es ein rundes Bild. Die Esserte stammten aus Hannover. Der Urgroßvater hatte in der englischhannöverschen Legion auf allen Schlachtfeldern Europas gegen den großen Korsen gekämpft; der Großvater war in der Schlacht von Langensalza gefallen; und des Generalstäblers Vater lebte als sächsischer Rittmeister a. D. auf seinem Lüneburger Heide-Gute. Der Major selbst, aus einem Garde-Infanterie-Regiment hervorgegangen, hatte als blutjunger Offizier reich geheiratet und sich zur Kavallerie versetzen lassen. Auf Wunsch des Vaters hieß es, weil er selbst Reitersmann gewesen, nach anderen: auf Bitten der Frau. Wer aber des Majors Wesen kannte, dem erschien etwas anderes als Selbstbestimmung seines Schicksals, wenig glaubhaft.

Einer der Hauptleute hatte freudestrahlend die letzte Aufnahme seiner Familie herumgezeigt, die ihm gestern die Post gebracht. Nun fragte er, ob Herr von Esserte Kinder besäße? Des Generals helle Kommandostimme sank:

»Jawohl. Ein Sohn, aber der ist an Diphtheritis gestorben. Die Frau auch. Vor ein paar Jahren, während Esserte im Kriege war. In Süd-West. Wie er wiederkommt, ist das Nest leer. Der Junge war ungewöhnlich begabt. Geborener Generalstäbler. Die Tüchtigen krepieren. Die Schweinehunde bleiben übrig. Ein Soldat sollte eben nicht heiraten!«

Die Herren bliesen schweigend den Rauch der Zigaretten in die dunstige Luft des kleinen Raumes. Der Kürassier aber sagte in der Stille, durch fernen Kanonendonner gleichsam unterstrichen, mit seinem Gesicht, bei dessen wilder Entstellung man nie recht wußte, ob es lachte oder ernst blieb:

»Herr General, wenn der berühmte Obrist auch so gedacht hätte, dann wären die Herren von Flurschütz am Ende ausgestorben!«

»Wär' nicht schade drum!« gab der zurück, aber er blinzelte dabei, eine Widerlegung erwartend, seinen Ordonnanzoffizier an, der, als nur zeitweise befehligt, freiere Worte sich zu erlauben pflegte, wie sie der dienstlich gebundenere Adjutant nie gewagt haben würde. Der Kanonendonner hatte derart zugenommen, daß alles hinaushorchte. Gewöhnt an solche Musik, beunruhigte sie doch jenes ständige Verantwortungsgefühl, das mehr an den Nerven fraß, als Schlacht und Gefecht. Man griff nach Mützen und Handschuhen. Leibriemen mit der Schußwaffe, die längst den Säbel ersetzt hatte, wurden umgeschnallt, in wenigen Augenblicken war die behäbige Stille gewandelt zu durcheinander quirlender Unruhe des gestörten Ameisenhaufens.

Hauptmann Hasenclever hatte den Fernsprecher in der Hand. Er saß nicht im Stuhl mit dem äußeren Sichgehenlassen des Herrn von Bißwang, als das Handelsgeschäft mit einer unbekannt bleibenden Stelle abgeschlossen wurde, sondern blieb in Haltung, sich leicht verbeugend hier und da, bei ständig wechselndem Ausdruck seines glatt rasierten, breiten Gesichtes. Nur ein »Jawohl« klang bisweilen. Die Offiziere hatten sich entfernt, still war es an dem Tisch geworden, um den die bunten Stilreihen der weggeschobenen Sessel standen, nur das Kritzeln des Bleistiftes klang, mit dem der Brigadeadjutant auf dem Meldeblock Einzelheiten des Gespräches festhielt. Auf dem Gange aber hörte man gehen, das heftige Schließen der Türe, das dumpfe Gemurmel von Menschenstimmen.

Draußen klang Kommandoruf, der ganze scheinbare Trümmerhaufen von Fresne-la-forêt hatte zu leben begonnen. Keiner nähte, fummelte, arbeitete mehr in Ruhe, sondern die Grenadiere waren beschäftigt mit Weglegen ihrer Sachen, Packen, Röcke anziehen, Umhängen der Koppel, daran die schweren Anhängsel gefüllter Patronentaschen, die den Ledergurt niederzogen und durch Knöpfe und Seitenhaken getragen werden mußten. Aus jedem Hause quoll es, jeder Steinhaufen lebte, Köpfe, Leiber, deutsche Soldaten stiegen aus den Kellerlöchern, von denen der flüchtige Blick nicht geahnt hatte, daß in ihrer unwirtlichen Tiefe Menschen wohnten. Während auf dem Kaiser-Wilhelm-Platz gestellt wurde, die beiden Reserve-Hauptleute die Meldungen der Zugführer entgegennahmen, marschierten auf jener Straße, die der Major von Esserte vor einer Stunde heraufgekommen war, unausgesetzt Truppen, die Pfeife im Munde, das Gewehr am Riemen um den Hals gehängt oder über der Schulter.

Generalmajor von Flurschütz war, während der Adjutant drin am Fernsprecher blieb, aus dem Weißen Rössel getreten. Auf einem Misthaufen, wie ihn der mangelnde Ordnungs- und Reinlichkeitssinn französischer Bauern auch in Friedenszeiten auf dem Dorfplatze geduldet, stand er neben Oberleutnant von Bißwang. Der Kürassier überragte den kleinen General, daß er ihn samt Helmspitze mit ausgestrecktem Arme hätte beschatten können. Als nun der Zug der Truppen unabsehbar die Dorfstraße sich hinaufwand, beim Blitzen der schwankenden Gewehre gleich einer schuppigen Schlange, leuchteten Stolz und Freude aus dem roten Gesicht des Generals:

»Das sind doch Kerle, was? Jeder nimmt drei Franzosen unter den Arm. Elendes schwarzes Kroppzeug. Qui vive? Kikeriki. Gallischer Hahn. Überhaupt schon so 'ne Idee, sich selbst als Hahn darzustellen. Und wir? Wir sind der Aar. Nicht Adler. Klingt nicht genug. Aar. Aar sollte es noch heute heißen. Die Sprache war recht heruntergekommen vor dem Kriege. Muß anders werden nach Friedensschluß. Lieber Gott, schieb' ihn noch recht lange hinaus, denn dieser Krieg ist die schönste Zeit meines armen Lebens! Bißwang, sehen Sie doch mal unsere Jungens an.«

Der kleine General hatte ganz schimmernde Augen bekommen. Plötzlich reckte er sich empor und rief mit seiner allen Lärm der schurrenden Tritte, der klappernden Kochgeschirre strahlend übertönenden Stimme:

»Guten Morgen, Kameraden!«

Die zunächst vorüberkamen, zogen das Gewehr an und blickten, das Kinn erhoben, herüber. Aus der ganzen Heeressäule aber, der jener leichte Dunst von Schweiß, Tabak, Mensch entströmte, vermischt mit einer grauen Wolke dünnen Staubes, klang donnernd die Antwort wieder:

»Guten Morgen, Herr General!«

General von Flurschütz grüßte. Hier und da rief er einem Mann, den er zu kennen schien, etwas zu. Ein Hauptmann, Bataillonsführer, meldete und der Brigadekommandeur reichte ihm die Hand. Allen vorüberkommenden Offizieren winkte er. Nun marschierten auch die beiden Kompagnien ab. Als der letzte Mann vorüber war und hinter Sanität und dampfender Feldküche die Staubwolken mehlig sich setzten, stieg der General herab vom »Feldherrnhügel«. So hatte Bißwang diese schon mehrfach benutzte Stelle getauft. Die beiden gingen zum Weißen Rössel. Sie blieben nicht lange, denn der Brigadekommandeur hatte immer den Drang vorwärts. Im letzten Grunde besaß er noch etwas von den Indianerinstinkten seiner Leutnantszeit. Am liebsten würde er selbst zum Angriff geführt haben, und nur die höhere Einsicht hielt ihn zurück, daß der Führer hinter seinem Abschnitt sein muß, um nicht bei Teilerfolgen den Blick über das Ganze zu verlieren. Immerhin pflegte der General die Gefechtsstelle der Brigade so weit vorzuschieben, daß es darüber mit Exzellenz Greger, dem Divisionskommandeur, schon öfters Auseinandersetzungen gegeben hatte. Schon darum war man bei der 694. Infanteriebrigade auf die 347. Division nicht allzu gut zu sprechen.

Hauptmann Hasenclever blieb am Fernsprecher, bis der General mit seinem Ordonnanzoffizier die Gefechtsstelle erreicht haben würde. Dann übernahm Oberleutnant von Bißwang Meldung und Befehlsübertragung nach vor- und rückwärts, und der Adjutant kam nach.

Sie gingen durch schwimmenden Sand die waldige Höhe hinan, auf der Hauptmann Wessels mit seiner Batterie stand, und vor der die Schützengräben sich bald gleich Mondkratern rundeten, bald den Marskanälen ähnlich streckten. Ständig schien der Donner der Geschütze zu wachsen, so daß der General die Stimme erheben mußte, um verstanden zu werden. Wenn beim Umherstreuen und Abtasten des rückwärtigen Geländes seitens des Gegners einmal in der Nähe eine Granate krachend ihre Drecksäule emporwarf, unterbrach der General sich nicht, er redete nur etwas lauter.

Von dem breitgetretenen Kolonnenweg bogen sie ab in den nicht eben üppigen Wald. Seine Armut gab dem General Anlaß, auf das »gottverdammte Sauland« zu schimpfen, das keinen Vergleich aushalten könne mit den »unerhörten Herrlichkeiten deutscher Erde«. Das waren jedoch nur Augenblicke, denn sonst sprach der kleine Mann von anderen Dingen. Er ließ sich die Karte aus der Kartentasche reichen; ganz mit Einzeichnungen war sie bedeckt. Plötzlich blieb der Brigadekommandeur stehen, deutete auf eine Stelle und erhob fast krähend die Stimme:

»Hier fehlt die Sappe sieben! Warum ist die nicht eingezeichnet?«

Oberleutnant von Bißwang schloß die Absätze, und sein wildes Gesicht sah förmlich abschreckend aus:

»Weil noch keine Zeit war, Herr General!«

»Keine Zeit? Ausgeschlossen!«

»Darf ich ganz gehorsamst fragen, ob Herr General damit meinen, daß ich lüge?«

»Wie kommen Sie darauf? Ein preußischer Offizier lügt nicht. Wenn er es täte, so käme er vor ein Ehrengericht. Heute sind wir im Kriege. Gott sei Dank. Also Kriegsgericht!«

»Dann bitte ich ganz gehorsamst, mich vor ein Kriegsgericht zu stellen!«

»Bißwang, Sie sind wohl verrückt?«

»Nein, Herr General!«

»Oder etwas nervös geworden durch das bißchen Schießerei?«

»Ich nicht, Herr General.«

Generalmajor von Flurschütz wurde dunkelrot:

»Meinen Sie etwa mich, Herr Oberleutnant von Bißwang?«

»Das habe ich nicht gesagt, Herr General.«

»Aber gedacht!«

»Befehlen Herr General, daß ich darauf antworte?«

Des kleinen Mannes Züge verzogen sich mit einem Male zu einem Lächeln. Er streckte dem Ordonnanzoffizier, den er schätzte, wie selten einen Mann, die Hand hin:

»Nein. Ich habe nie an Ihnen gezweifelt, Bißwang, so wenig wie an uns allen und unserer Sache, unserem Siege. Ich bin heftig. Sie ooch, mein Alter, da ist nun nichts darüber zu reden. Aber wir sind im Felde. Und Sie wissen, was ich von Ihnen halte.«

Er schüttelte ihm die Hand. Oberleutnant von Bißwang verbeugte sich. Aus seinem wild zerrissenen Gesicht lachte dem Vorgesetzten etwas entgegen, fast wie Liebe, zum wenigsten eine Hingebung, die ihn gern für diesen Mann das Leben hätte opfern lassen. Nun in ganz anderem Ton setzte er auseinander, der Brigade sei die Kenntnis von Sappe sieben erst vor wenigen Stunden geworden. Es habe Arbeit gegeben, bei Essen, Fernsprecher, Geschichte vom Obristen Joachim (der General hob drohend mit jenem Schmunzeln das dem scharfen Manne so herzgewinnend stand, den Finger) endlich Paradeabnahme auf dem Feldherrnhügel.

Um den Aufenthalt einzuholen, begannen sie zu laufen. So trabten die beiden mit ihren ungleichen Schrittlängen, der eine kurz, eilig, der andere weit, bedächtiger, nebeneinander her im Walde, dessen Nadeln und Blätter durch Schrapnellfeuer dünn geworden waren, dessen Stämme hier und da abgesplittert umherlagen, von Granaten gefällt. Eine begrünte Kuppe überragte, nach rückwärts ausladend, den Berg. Sie stiegen nicht ganz hinan, sondern blieben auf halber Höhe. Dort tat sich eine Lichtung auf, wenige Schritte nur im Durchmesser, und sie standen jäh vor einem tief in den Boden geschobenen Unterstand, so gut versteckt, daß seine Lage nur kenntlich wurde durch die Fernsprechdrähte, die dort hinein abbogen, während er sonst nicht anders aussah, als etwa ein riesiger Ameisenhaufen. Es war die Gefechtsstelle der 694. I. B.

Im ersten Augenblick umfing Dunkelheit die Eintretenden, doch sobald das Auge sich an die veränderte Lichtfülle gewöhnt hatte, erkannte man bei dem Tagesschein, der durch das dem Feinde abgekehrte schmale, schlitzartig langgestreckte Fenster einfiel, den Fernsprecher auf einem großen Tisch, darauf allerlei Papiere lagen und Schreibzeug. Ein Granatboden diente als Aschenbecher. Im Ausbläser eines Feldschrapnells steckten frische Blumen. Stühle, nicht minder bunt als drunten in Fresne-la-forêt, warteten rundum. Aus einem schmalen Sehschlitze in der Vorderwand blickten die langgestielten, weit auseinander stehenden Augengläser eines Zeißschen Scherenfernrohrs. Ein Unteroffizier stellte es eben ein. Als der General herantrat, fuhr er auf, riß das Kinn hoch und schlug die Hacken zusammen.

Während Oberleutnant von Bißwang den Fernsprecher bediente, die langen Beine von sich gestreckt und Bemerkungen einflechtend in seiner humorvollen Ausdrucksweise für sachliche Schärfe, stellte der General das Scherenfernrohr seinen Augen gemäß. In einem Rahmen von unregelmäßig in das Bild ragenden Zweigen, nickend und lebend bei dem stoßweisen Winde, der seit kurzem ging, standen die sonnenbeglänzten Ruinenmauern von Aribes. Das Wunderglas deutschen Fleißes zeigte jede Einzelheit: Herausgebrochene Steine in den Giebeln und Mauern, das Sparrenwerk von Dachresten, die hoch aufgeschichteten Trümmer des Schiffes einer Kirche ja am helmlosen, halbeingestürzten Turm sogar jene von den Franzosen immer wieder aufgezogene Uhr, die Hauptmann Wessels so erboste. Gleich einer Luftspiegelung der Wüste, ein erschreckendes Wunder, stand das dem Untergang geweihte Dorf drüben im leisen flirrenden Lichte des warmen Oktobertages.

Hier sah man, wie auf der Schaubühne der stumm ergriffene Zuschauer das Ende schuldiger Menschen miterlebt, einen von Menschen gebauten, Menschen Heimat und Heimstätte gewährenden Ort unrettbar zugrunde gehen, weil jene darin sich bargen, deren Brüder einst diese Häuser bewohnten.

Die Mauern rauchten, die ganze Landschaft schien in Qualm und Dunst getaucht, ständig erneut durch frisch einschlagende Geschosse, wenn je einmal die grauen Schmutzwolken der hineindonnernden Granaten drohten, im reinen Äther wieder zu verlöschen. Deutsche Flieger hatten seit gestern Truppenbewegungen gemeldet. Der schlanke Ulan Graf Bielinski hatte, indem er heute mittag mit seinem Beobachter so tief sich hinunter gewagt wie noch keiner zuvor, letzte Gewißheit gebracht. Das eben war vorhin Major von Esserte erklärt worden:

In Forges-en-Bray, in La Neuveville-sur-Galaine, vornehmlich aber drüben in Aribes, waren von den Franzosen nachts Infanteriemassen zusammengezogen worden und schwere Artillerie in Stellung gebracht, gewiß nicht, »um Radieschen zu säen«, wie der Herr von Bißwang es zu nennen pflegte.

Über Aribes platzten Schrapnelle in schönen, weißen, unschuldigen Wölkchen. Bei der hellen Sonne sah man kaum den Feuerschein, nur den jähen, scheinbar aus dem Nichts hervorgezauberten Rauch, bald rechts am Eingang, bald links an der Kirche, oft vor dem Orte im reinen Ätherblau, dann wieder dahinter die schmutzigen Stickschwaden versöhnend, mit denen Granaten das einst reiche Aribes verpesteten. Sie galten allem, was sich auf den Straßen befinden mochte, während die krachenden mittleren deutschen Kaliber, das Haubitzenfeuer, von dem Höhenrücken her, auf dem die Gefechtsstelle der 694. I. B. lag, die Rothosen aus den Kellern scheuchen, ihre Unterstände verschütten, ihre Geschütze zum Schweigen bringen sollten.

Man war den Franzosen zuvorgekommen, so klang ihre Antwort von drüben wütend überhastet. Lagen zu 8 und 8 rollten herüber auf die bewaldeten Höhen, die deutsche Artillerie suchend, damit sie endlich das furchtbare eherne Maul hielte. Aber die Granaten brachen nur krachend Bäume um, splitterten Zweige ab oder pflügten gar Schonungen und Kahlschläge. Dort ließen sie an den winzigen Bäumchen ihre Wut aus oder rotteten Baumstrünke aus, die mit üblicher französischer Materialverschwendung ellenhoch stehen geblieben waren. Bisweilen kamen die gegnerischen Eisengrüße nahe heran und in der Nähe splitterten Stämme und Äste, ja einmal spritzten gegen das rückwärtige Fenster Dreckklumpen, die eine vorwitzige Granate von der Mutter Erde gelöst hatte.

Während des Krachens rundum trat Hauptmann Hasenclever ein und erzählte, eben sei ein Volltreffer in die zweite Kompagnie gefahren, die hinter dem Höhenrücken in Bereitschaft stand. Er habe es im Vorbeigehen erlebt. Natürlich habe es Verluste gegeben. Der General rief mit Schulterzucken, daß die durch graue Überzüge unkenntlich gemachten Achselstücke bei dem kurzen Halse ihm fast bis zu den Ohrlappen stiegen:

»Wo gehobelt – ich meine geschossen – wird, fallen Späne – ich meine Grenadiere!«

Dabei tadelte er scharf dieses Warten hinter der Höhe, die vom Feinde mit Sperrfeuer belegt sei. Eben deswegen habe er doch die braven Kerle so schnell herausgetrommelt, damit sie noch vorher vorkämen.

»Wer führt die zweite? Oberleutnant Ehrlich nicht wahr?«

»Ist eben dabei gefallen, Herr General!« gab der Hauptmann zurück, während er den Ordonnanzoffizier am Schreibtisch und Fernsprecher ablöste. General von Flurschütz brummte grimmig etwas wie: Das käme eben von solchen Dummheiten. Dann aber nahm er Oberleutnant von Bißwang beim Rockknopf – seine Art, wenn er freundschaftlich sein wollte und leise zu sprechen genötigt war – und flüsterte mit ihm, denn schon war wieder der Fernsprecher im Gang, vom Bleistift begleitet, der auf dem Meldeblock kritzelte. Der Kürassier sagte ein paar Mal »Zu Befehl«, dann zog er die feldgraue Mütze mit dem bunten Stirnbande über den Kopf, nahm seine Handschuhe, grüßte und verschwand.

In dem Augenblick, während die Türe offen stand, dröhnte betäubender Lärm herein: Der ganze nervenstachelnde, erschütternde Donner eines Artillerieduells. So unerhört war das Krachen, Splittern, Rauschen, Schütten, Dröhnen, von irgend einem Echo der Hügelwand ständig verdoppelt, daß der Herr von Bißwang, zu ganzer Größe aufgerichtet, darüber vor sich hin lachte und wie im Selbstgespräch rief:

»Na, na, na Kinder, seid milde, seid milde, beruhigt euch!« Dann zündete er sich im eiligen Schreiten eine Zigarette an.

Von weitem sah er durch die Stämme eine gelagerte Truppe. Er schritt darauf zu, fragte den Nächsten, wer sie befehlige. Während er noch sprach, trat schon ein Leutnant ihm entgegen. Nun setzte der Ordonnanzoffizier der Brigade auseinander, der Herr General sei ungehalten über den nicht befohlenen Aufenthalt hinter der Höhe, denn hierher funke der Feind beständig, während es weiter vorne bessere Deckungen gäbe. Doch der junge Herr ließ sich nicht beirren. Mit jener ruhigen Sicherheit, die, unversehens reifen lassend, der Krieg seinen Jüngern verleiht, indem sie bei ständiger Todesgefahr verlernten, Menschen zu fürchten, erklärte er, just jene vorderen Hänge seien derart »belegt« gewesen, daß man dort ganz andere Verluste hätte gewärtigen müssen. Im Augenblick habe ja der Gegner sein Feuer ganz nach hinten verlegt, wohl um die Batterien zum Schweigen zu bringen, die ihn in Aribes beunruhigten. Dort suchte er sie offenbar. In der Tat rauchte es da unten, als würden qualmende Kartoffelfeuer entzündet, auf allen Feldern um Fresne-la-forêt. Der dumpfe Krach der Entladungen dröhnte ununterbrochen herauf. Um die beiden Offiziere lagerten die Grenadiere, weit auseinander gezogen, um bei einem Einschlag nicht alle getroffen zu werden, und gegen Flieger unter den Bäumen versteckt. Welche lagen auf dem Bauche, die Arme breit aufgestützt, einen Grashalm im Munde, andere auf dem Rücken, die Augen geschlossen, dösend oder schlafend, mit jener erstaunlichen und glücklichen Fähigkeit des einfachen Mannes, überall, wann und wo es auch sei, durch ein Nickerchen verbrauchte Kräfte zu ersetzen. Der Schlummer fand sie trotz der Gefahr, die sie ständig umgab, die noch eben den Tod unter sie gesandt und die jeden Augenblick wiederkehren konnte.

Und mitten unter ihnen schliefen die kaum gefallenen Kameraden, während man Schwerverwundete, in ihre Zeltbahn gehüllt, schon zurückgetragen hatte, die Leichtverwundeten aber allein oder einander stützend sich den Weg suchten den Hang hinab zum Verbandplatze.

Einen Augenblick trat Oberleutnant von Bißwang an die Stillen, die nebeneinander ruhten. Ihr Kompagnieführer mitten darunter, im Tode mit ihnen kameradschaftlich vereint. Der Kürassier sah dem Oberleutnant Ehrlich, den er wohl gekannt, in das ruhige Angesicht, dessen noch vor einer halben Stunde strahlend blaue tapfere Augen eines anderen Hand geschlossen hatte. Gedämpft fragte er den jungen Offizier, der nun die Kompagnie führte, wo die Wunde sei. Der hob vorsichtig den Helm ab und zeigte den blutig aufgerissenen Scheitel. Bißwang blieb noch einen Augenblick schweigend stehen, dann ließ er langsam, gleichsam wie durch ein Spiel der nachgebenden Finger, ein paar einfache Feldblumen auf den Toten fallen. Vom Ausbläser, der auf dem Schreibtisch im Unterstand der Brigade-Gefechtsstelle gestanden, hatte er sie genommen.

»Ich muß weiter. Noch zur Abteilung!« Es klang laut, eine Loslösung aus der Weichheit von Sekunden. Hier im Kriege hatte mehr noch als sonst der Lebende Recht. Wieviel Kameraden waren schon gefallen! Wieviele würden noch auf den ewigen Truppen-Übungsplätzen dort oben sammeln! Zum Trauern war keine Zeit. Der Kürassier zog wieder an seiner Zigarette, die er angesichts der Toten in der linken Hand verborgen gehalten, und drückte dem jungen Leutnant die Hand. Dann stieg er vorsichtig über die Schlafenden hinweg, rief Wachen, die aufstehen wollten, zu, sie sollten ja ruhen bleiben, scherzte im Vorübergehen, und bald lag die Kompagnie hinter ihm.

Während seines Ganges dröhnten ununterbrochen die Abschüsse der deutschen Kanonen, krachten ohne Unterlaß die wahllos einschlagenden französischen Granaten. Aber sie blieben immer in maßvoller Entfernung, und der Oberleutnant von Bißwang hatte sie längst vergessen. Ganz andere Dinge beschäftigten ihn. Er mußte lachen, wenn er daran dachte, wie Herr von Flurschütz ihnen allen von Major von Esserte und seiner Familie erzählt hatte. Dabei kannte er, Harry Bißwang, die Essertes doch viel besser als sein Kommandeur. Stine Esserte und er hatten ja sogar an Kriegstrauung gedacht. Er hatte Stine zwar nur ein dutzendmal gesehen, aber dieses klare, offene, ehrliche, niedersächsische Mädchen, das um den Preis seines Lebens keine Unwahrheit gesagt hätte, mit dem er sich am ersten Tage unterhalten hatte, als kennten sie sich seit zwanzigtausend Jahren, Stine, Stine Esserte aus Esserte, Herr Gott noch mal, was sollte ihm denn an Stine verborgen sein? Aber ihr Bruder, der Major! Bei dem wurde einem nicht warm und nicht kalt. Gescheit war er, gewiß. Wahrscheinlich zu gescheit. Eigentlich – rund heraus – er konnte ihn »nicht riechen«. Der General – großartig! Funken aus dem Helm. Mord und Totschlag oder Kuß und Friedenspfeife. Auch Hasenclever – wenn auch ein bißchen still und stumpf bisweilen, doch eine ehrliche Haut. Aber »Herr von Esserte«? Er hätte ihn nie Esserte oder gar beim Vornamen nennen können. Eigentlich blieb er für ihn immer der Herr Major. Ganz richtig übrigens, denn Harry Bißwang war ja Oberleutnant.

Harry? Engländer? Dummheit der Deutschen! Aber er hieß doch nun einmal Harry, und in Berlin kannte ihn jeder so, auf dem Hofball wie beim Rennen, im Kasino wie in der Kavallerie-Division: Harry Bißwang. Da hätte er sich plötzlich der Engländer wegen umtaufen lassen sollen? Zu viel Ehre für die Krämerschufte, denn anders als Krämerschufte nannte er sie nicht. Und Stine schrieb doch auch »Harry«. Der Gedanke an das Mädchen überrann ihn so heiß, daß er im Schreiten an die Brusttasche faßte, als müsse er sich überzeugen, ihr Bild sei noch da. Am liebsten hätte er es einmal schnell angesehen, doch als der Geschützdonner ihn umdröhnte, noch gewaltiger wie ihm dünkte als bisher, war es ihm, als sei jedes Abirren vom Kriege eine Sünde an seinem Vaterlande. So schien er eine glückliche Rücklenkung zur Pflicht, als er vor sich einen Offizier gehen sah, dessen roter Bart zu beiden Seiten des Halses nach hinten wehte. Hauptmann Wessels? Was tat er denn hier? War er doch in diesem tollen Feuer nötig genug bei seiner Batterie.

Der Ordonnanzoffizier schritt mächtig aus mit seinen langen Beinen. Er holte den Hauptmann ein, just als der Beobachtungsstand der Abteilung in Sicht kam, den der Abgesandte des Generals aufsuchen sollte, um persönlich mit der Artillerie Fühlung zu halten. Er erfuhr, daß der Hauptmann kam, als ältester Batteriechef den Befehl über die Abteilung zu übernehmen, deren Kommandeur, Major Bardowiek, verwundet worden.

Ein junger Assistenz-Arzt war im Beobachtungsstande beim Verbinden. Der Verwundete, ein rundliches Männchen mit blondgelocktem Schnurrbart lag, auf dem Bauche. Waffenrock und Beinkleider waren halb aufgeschnitten, halb von der Geschoßwirkung zerfetzt, so daß des Majors mädchenhaft rosiges Fleisch schimmerte. Der Verwundete verkündete lebhaft selbst, was ihm zugestoßen war:

»Denken Sie mal, lieber Wessels, acht Schrapnellkugeln! Was nur die gottverdammten Franzosen davon haben! Zwanzig Francs kostet es sie, 'nen ollen Krippensetzer zur Strecke zu bringen. Der Leichtsinn, mit dem die Leute ihr Geld ausgeben, ist unglaublich! Meine schöne Hose haben sie mir kaputt gemacht, das Fell zerschunden, bißchen Schweiß abgelassen, aber was ist nun herausgekommen dabei? Lieber Bißwang, sagen Sie nur dem Herrn General, mir wäre es gar nicht eingefallen, das Kommando abzugeben, wenn ich nur – sitzen könnte. Aber das Peinliche ist – ich kann nämlich nicht sitzen. Die Ladung ist mir – verzeihen Sie das harte Wort – es sind ja keine Damen da – in den Podex gegangen. Peinlich, höchst peinlich! Wenn die zu Hause nun in der Verlustliste lesen: Major Bardowiek Schrapnellschuß in die Verlängerung seiner Oberschenkel? Was meinen Sie, lieber Bißwang? Kann doch unmöglich 'nen guten Eindruck machen!«

Dabei lachte der Major herzlich, bis der Arzt etwas von »Stillliegen, Blutung« sagte. Inzwischen hatte Hauptmann Wessels die Feuerleitung übernommen. Er ließ sich vom Adjutanten der Abteilung unterrichten, sah Meldungen und Befehle durch und trat an das Scherenfernrohr, um hinaus, hinüber, hinunter zu schauen auf das Kampffeld, das vorerst nur der Artillerie zu gehören schien. Man konnte die ganze Tiefe überblicken: soweit den Hang hinabgeschoben lag der Beobachtungsstand. Im tiefsten Dickicht verborgen, ahnte ihn der Gegner gewiß nicht, und nur zufälligem Umherstreuen wäre er zum Opfer gefallen. So war denn auch Major Bardowiek nicht hier verwundet worden, sondern als er auf die breite Höhe gegangen war. Er hatte feststellen wollen, ob man einen abgezweigten Zug seiner Abteilung, der wegen heftigen, offenbar nur ihm geltenden Feuers seine Stellung hatte wechseln müssen, einsehen könne. Der Abteilungskommandeur hatte das befürchtet, im Gegensatz zum immer vertrauensseligen Hauptmann jener Batterie.

Es war ein Wunderschauspiel des Krieges, das sich hier entzückten Augen bot: Gegen das Licht der Nachmittagssonne standen die hellen Kalklinien der Schützengräben jetzt schärfer als am Morgen. Die öde, scheinbar verlassene Landschaft, darin man Menschen nicht ahnte und nur an der wilden Tätigkeit gegenseitiger Vernichtung auf ihr Dasein schließen mußte, flimmerte und flirrte, wie von Goldstaub übersät. Von all den Entladungen der gleich jäh erschlossenen Hochdruckquellen unausgesetzt aufspritzenden Geschosse war in der von Herbstnebeln feuchtigkeitgesättigten Luft ein Dunst hängen geblieben, der an allen tief gelegenen Punkten Einzelheiten verschleierte. Aber eben dieses malerische Zusammengehen der Farbenwerte störte die Beobachtung und brachte einen soldatischen Wirklichkeitsmenschen, wie Hauptmann Wessels, in helle Wut:

»Die Schweine fangen immer nachmittags an, wo wir die Sonne im Gesicht haben!« sagte er zu Oberleutnant von Bißwang, der nur billigend nickte. Er machte sich gerade für seinen General Aufzeichnungen nach dem, was der Adjutant ihm flüsternd mitteilte, über Karte, Meldungs- und Befehls-Material gebeugt.

Die Franzosen hatten plötzlich das Feuer verlegt. Nun wurden die deutschen Gräben beschüttet. Hier oben war es wie mit Zauberschlag ruhig geworden. Nur der Donner der deutschen Abschüsse dröhnte platzend, während der Einschlag der Granaten von unten herauf schmetterte. Um die scheinbar toten Gräben der Deutschen stiegen kreideweiße Dampfwolken. An Stellen anderer Bodenart, vielleicht Lehmschichten späterer Aufschwemmungen, färbten die Rauchkegel sich schmutzig gelb, ja an einzelnen Orten wurden die schmal aufschießenden, schnell zur Baumgestalt verbreiterten Gas- Brand-, Erdtromben fast schwarz.

Die beiden jungen Offiziere traten, nun hierher kein Feuer mehr kam, aus der Deckung ins Freie. Zwischen Zweigen spähten sie in die Tiefe, mehr und mehr von ziehenden Dünsten erfüllt. Der Kürassier stieß jedesmal einen leisen Jubelruf aus, wenn französische Granaten zu kurz oder zu weit gingen. Dann verstummte er, falls irgendwo, soweit es sich beobachten ließ, die deutsche Brustwehr abgekämmt zu sein schien, oder gar einmal ein Volltreffer einschlug. Freilich, wer sollte es sagen, sah man doch nichts als ein Umherspritzen von Erde und Steinen an der Grabenlinie, darin nichts lebte, die sich auch, wenn der Rauch sich verzogen hatte, nicht rührte, daran keine Bewegung kund tat, hier seien etwa Opfer gefallen. Nein, alles schwieg, als atme in diesen Ringmauern und vorgeschobenen Winkeln, einspringenden Linien, flankierenden Ecken kein sterblicher Mensch.

Der Adjutant aber blickte, den Fernsprecher in der Hand, nach seinen Zielen, den französischen Gräben dicht vor Aribes, an denen das gleiche Schauspiel sich vollzog. Ohne daß Hauptmann Wessels das Auge vom Scherenfernrohr gelassen hatte, ging durch die offenstehende Türe die Unterhaltung der beiden Artilleristen. Von plus und minus war die Rede, dazwischen fragte Hauptmann Wessels nach jenem langgestreckten weißen Trümmerfelde, das links eben noch im Gesichtskreise stand: La Neuveville-sur-Galaine. – Ihm war es neu, hatte er es doch von seiner Batterie aus, vom rechten Flügel der Abteilungsstellung, nicht sehen können. Und so vertieft war der beiden Offiziere Unterhaltung, allein auf den Feind gerichtet, daß, wie man sich um das Fortbringen des verwundeten Majors nicht hatte kümmern können, so jetzt sie nicht bemerkten, daß der Ordonnanzoffizier zu seinem General zurückgekehrt sein mußte.

Alle waren sie am Werk, die deutschen Soldaten, die hier nach gewaltigem Stoß gegen das Herz Frankreichs nun still lagen auf der Westwacht, bis ihnen drüben im Osten die Sonne der großen Siege aufginge. Gegen Weiße und Schwarze, Turkos, Zuaven und französische Linien-Infanterie, Alpins und Marokkaner, Senegalneger und Territorial, Gurkhas und Engländer, Schotten und Sikhs, Belgier und Kanadier, standen sie wie eine Mauer, von einer Manneszucht in einem Geiste erzogen, von einem Hochgefühl getrieben: dem Gedanken an das große, das liebe, das herrliche deutsche Vaterland. Deutschland, darin ihre Eltern, ihre Frauen, ihre Kinder lebten, wo Braut und Schwester zurückgeblieben waren, für die sie kämpften wie für ihrer Muttersprache anheimelnden Laut, für ihre Sitte und Gewöhnung, für Haus und Hof, ihre alten Gotteshäuser, Dörfer und Städte, wie ihre neuen, stolzen, aus dem Boden gestampft seit dem 70er Kriege, bei wachsendem Wohlstand, durch Arbeit, Fleiß, Lernbegierde, Unternehmungsgeist und Kraft. Deutsche Kraft ohnegleichen auf der ganzen weiten Erde Gottes, den diese hier im schweren Kampf stehenden Männer nie verloren oder sich erst wiedergefunden hatten aus der Kindheit Tagen.

Sie waren am Werk heute, wie täglich, seitdem der Krieg entbrannt, am Werk dahinten, wo alle Drähte der ganzen langen Front zusammenliefen, von den Bergen der Alpen bis zu den Wellen der Nordsee, am Werk bei den Armeen, denen gewaltige Abschnitte untertan, am Werk bei den Armeekorps aller deutschen Stämme, wo die harten Laute des Nordens klangen, die vollen des Südens, die weichen der Mitte.

Drüben bei der Division wurde nicht Bacchanal, Bankett, Festmahl gefeiert, wie General von Flurschütz gesagt hatte, mit jener Schärfe und Übertreibung, die des Mannes Art nun einmal war. Nein, gearbeitet wurde, wenn dort auch ein anderer Ton herrschte als bei der 694. I. B., als bei den Kompagnien, die durch Fresne-la-forêt ins Feuer gezogen, oder den Grenadieren da vorn, die sich eben mit einem Hagel von Geschossen bedecken ließen, um, wenn das Trommelfeuer schwieg, wieder aufzustehen, soviel von ihnen übrig blieb, um den schwarzen oder weißen Feinden zu zeigen, daß sie es mit Deutschen zu tun hatten.

Über den Stellungen kreisten Flieger, von weißen Wölkchen todbringend umzuckt. Nun die Sonne niedriger stand, nun die Luft dunstiger geworden war, füllte sich der ganze Himmel mit den feurigen Sternen platzender Schrapnelle, als zöge eine aufblitzende Milchstraße dort oben über die ewige Wölbung. Unter dem Luftkampf aber tobten weiter die Einschläge der Granaten. Die Höhe rauchte, es dampfte das Tal, im Walde brach und krachte es aus Wiesen, Feldern, Schonungen stiegen Staub- und Dreckwolken empor, von den Gräben hüben und drüben schoß dunkler Rauch. In den Dörfern prasselten Dachstühle, von letzten Balken noch gehalten, gleich Kartenhäusern zusammen. Mit einem Donner, daß die Erde bebte, flog Munition empor, ein gewaltiges Feuerwerk mit einzelnen, gleich Raketen fortschießenden Geschossen. Giebel sanken steif, langsam, eilig, eiliger um. Der Turm der Kirche von Aribes, darin noch bis zuletzt die Uhr ihre Zeiger hatte wandern lassen, als wolle sie Freund und Feind die Dauer des Höllenfeuers vormessen, wankte, neigte sich, brach und warf sich langsam über die Straße. Dann rauchte es drüben von Bränden rot, von Qualm schwarz, von Staub weiß, rauchte, rauchte endlos, die Reste des armen Dorfes in eine einzige Wolke hüllend. Sie blieb lange stehen, wie um mitleidig zu verbergen, was darunter an Menschengebein, an dumpfem Wimmern der Verschütteten, an der Verwundeten Schrei zum Himmel bat.

Das Toben der Geschütze wuchs. Ein Brüllen klang durch die Natur, ein Rasseln, Rasen, Zischen, Sausen, Pfeifen, Heulen, ein Donner, steigend bis zu letzter Wut. Einzelne Schüsse gingen unter in einem Rollen ohne Anfang, ohne Ende, einem einzigen, wie in solcher Stunde, wo Mensch entfesselt war gegen Menschen, das einzelne Weh dahinsank: ein Nichts vor diesem Kampf auf Leben und Tod zwischen zwei Völkern, zwei Geschichten, zweierlei Zukunft.

Da mit einemmal, wie im Orchester alle Instrumente anstürmen, um mit Pauken und Beckenschlag zu enden, schwieg das Feuer der Franzosen. Beide Gegner verrückten das Ziel. Die deutsche Artillerie der Höhen zog es ein auf die Gräben und ihr Hinterland, die nun überlaufen würden von der Flut der roten Hosen. Die Kanonen des Gegners hatten den Winkel erhöht, aus ihrem Trommeln war wildes Sperrfeuer geworden, das die Annäherungswege betastete, den Wald zerspellte, die Höhen absuchte, streute rechts und links, wirr und wüst, hinter die Hügel griff, Reserven, Ruhe-Stellungen zu fassen, damit keiner vorkäme, jenen Hilfe zu bringen, die noch übrig geblieben waren in den Gräben der Deutschen.

Und nun ward glücklichen Augen, die es sahen von Beobachtungsständen und Gefechtsstellen da oben, ein Schauspiel, daß General von Flurschütz den Kürassier ans Fernrohr rief, während der Adjutant den Fernsprecher bedienen mußte: Sie stiegen aus den Gräben, von Schrapnellen umblitzt, von Granaten umkracht, die Turkos hier, die Zuaven da, die Rothosen dort längs der ganzen Grabenfront. Die Ode des Schlachtfeldes war gebrochen, das tote Land begann zu leben. Aus der erstorbenen Mondkrater, der einsamen Marskanäle eintönigem Hellgrau zuckten Farben auf: blau und rot. Da und dort verblaßten sie wieder: der weiße welsche Kerl, das braunschwarze Gesindel flutete zurück über den Grabenrand. Aber Flecken blieben rot gleich Blut: Rote Hosen, die nie wieder stürmen, nie wieder heimkehren würden zu Mutter, Weib und Kind.

Wie nun die farbig-dunkle Feindesmasse vorgetragen ward, sah man auch in den Gräben der Deutschen, deutlich mit den Gläsern, Köpfe auftauchen, Gewehre sich vorschieben, Arme sich stützen auf die heimische Brustwehr, abgekämmt und eingestürzt wohl hier und da, doch in langen, stolzen Linien ein schimmernder Schutz. Und die Gräben, die Stützpunkte, die Sappen, die Horchstollen, nun bald eine Stunde unter jenem Feuer, das die Hirne verwirren sollte, die Leiber dahinraffen, lebten in drohender, fürchterlicher Gegenwart. Auf das Signal der Posten: »Feindlicher Angriff« waren sie wimmelnd aus den Unterständen gekrochen. Von hinten aus dem Deckungsgraben stürmten Gestalten vor, das Gewehr im Arm. In den Annäherungsgräben drängte es nach vorn, ein Bienenschwirren, ein Ameisenleben. Da füllte sich der Kampfgraben, Mann an Mann stand auf der langen Front. Vor den Mündungen der Gewehre strich grauer Dunst leise ab. Knattern klang, Rollen, Peitschen, Jubeln und Jauchzen, Schrecken und Graus deutschen Infanterie-Feuers.

Vor den Maschinengewehren flogen die Masken: Sandsäcke und Rasenstücke, fort. Dann redeten sie mit ihren meckernden, tickenden, tackenden, fürchterlichen Stimmen und sprachen den Feind an, der, den schützenden Gräben entstiegen, sich breit auseinander zog, wie Wasser, das überlaufend auf weiter Wiese verrinnt. Indem Lärm aller Unterwelten da in der Tiefe, bei dem Heulen und Pfeifen der Granaten, die über die Köpfe des Fußvolkes hinweg krachend ihr Ziel suchten, in dem Knarren und Peitschen der Gewehre, dem Rasseln, Trommeln der »M.-G.« meinte man Signal-Trompetenstoß zu unterscheiden. Oder war es nur das von all dem Tosen verwirrte Ohr, das Untertöne meinte zu vernehmen, mitschwirrend bei der erschütterten Musik der Schlachten, die gar nicht klangen?

Die Menschenflut vor den deutschen Gräben, gleich einer Brandungswelle vorgetragen, quoll hier weit vor, blieb dort im Rückstand. Sie ließ rote Tropfen zurück, gleich blutigen Tränen. Verwundete krochen rückwärts, standen auf, taumelten, als wollten sie sich retten in des heimischen Grabens zweifelhaften Schutz. Dann rollten sie hin und blieben neu getroffen liegen. Regungslos gleich allen jenen, die nun das dritte Reich, den Raum zwischen Freund und Feind, mit ihrem Blute färbten. Zu Haufen geballt lagen sie, gefällt von den pfeifenden Todbringern aus den heißer und heißer werdenden Läufen der Deutschen. Gleich reifer Mahd sanken ganze Reihen nieder beim Tacken der Maschinengewehre. Rote Streifen durchschnitten das Feld, in langer Linie schräg gebettet, als ob ein Riesenkind lachend mit dem kleinen Finger an aufgebaute Bleisoldaten gestoßen hätte, die nun purzelnd einer den anderen mit sich rissen.

Neue Massen drängten nach, frische Wellen stiegen aus den Gräben der Welschen, aber nicht mehr mit unwiderstehlicher Gewalt. Es war, als lähmte etwas ihren Schwung, als hielten sie zögernd inne angesichts des Schicksals ihrer Kameraden, die sie da vorne fallen gesehen wie Kräuter im Maien.

Bis an die Drahthindernisse der deutschen Gräben waren einzelne gekommen. Man sah sie zögern, halten. Sie wurden abgeschossen und hingen nun regungslos im Hindernis verstrickt. An einer Stelle nur, just vor Aribes, wo tiefe Trichter die Drähte zerrissen, die Brustwehr zerstört, den Graben eingeebnet hatten, war die Flut bis in die deutsche Stellung geleckt. Dort setzte der Gegner neue Kräfte an, frische Massen nachzuschieben.

Vom Artillerie-Beobachtungsstand der Abteilung Wessels klang kurzer Befehl hinaus zu einer Batterie. Sekunden verrannen. Nur Sekunden. Dann krachten die Granaten fast in die deutschen Gräben hinein und ihrer einschlagenden Wut wichen die Franzosen.

Dunst und Qualm verdeckten die Aussicht. Die tiefe Sonne blendete in die Augen aller, die dort oben ernster Stirn hinunterschauten auf das gewaltige Schauspiel, wie ein feindlicher Angriff machtlos zerschellt war an unerbittlichem Ausharren, an überlegener Kraft, an der Tapferkeit deutscher Soldaten.

Es wurde still dort drüben bei den Franzosen. Ihr Artilleriefeuer erlosch, als hätten sie ihre Ohnmacht gefühlt. Auch die Deutschen stellten allmählich das Feuer ein. Bald lag nach all dem wilden Tosen der Höhenrücken wieder schweigend da. In der Tiefe davor regte sich nichts mehr. Wieder blickten die Gräben stumm herauf, abenteuerlich jetzt beim roten Schein der vom blutgetränkten Lande scheidenden Sonne, gleich den Ringkratern erloschener Himmelskörper. Nur das dritte Reich zwischen den Kämpfern zeigte ein verändertes Angesicht. Soweit das Auge ging, leuchtete der tote Raum blutig rot von den Hosen tausender gefallener Feinde, als stünde ein langgestrecktes, riesiges Mohnfeld in brennender Blütenpracht.


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