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Nach Tisch verteilten sich wie immer die Herren vom Divisionsstabe. Der Kriegsgerichtsrat, der Generaloberarzt, Hauptmann Giese und Oberleutnant von Gereck spielten Karten. Ein paar andere ließen auf dem Billard die Bälle zusammenschlagen. Major Rennhöfer las ein Werk aus dem Bücherschrank über die »Kunst in Flandern und Nordfrankreich«, das er, sobald es seine knappe Zeit erlaubte, durchzuarbeiten pflegte. Der Generalleutnant aber saß mit seinem Generalstabsoffizier am Kamin. Seitdem es still war draußen an der Front, unterhielt er sich gern abends bei der Zigarre noch ein Stündchen. Sie pflegten dann über Operationen zu sprechen, über Kriegsgeschichtliches, Kultur und Waffenkönnen der Gegner. Allerlei Völkisches, Volkswirtschaftliches, Dinge, die der Krieg geweckt, wurde abgehandelt. Auch von Pferden und reiten redeten die beiden Reitersleute. Die Zukunft Deutschlands erstand vor ihren Augen, und die Frage zuckte auf, wie man sich später im Verkehr der Völker einrichten werde. Dann verfolgte man die Fortschritte auf dem östlichen Kriegsschauplätze an der Hand der Karte. Nur Kunst, der Major von Esserte fremd gegenüberstand, wurde nicht berührt, und Persönliches blieb grundsätzlich ausgeschlossen. Als nun das Gespräch einmal nachdenklich stockte, fragte Major von Esserte, wie Rennhöfer ihm geraten hatte, nach dem gefangenen Verwundeten. Der General freute sich der Teilnahme. Das ungewisse Schicksal des Sohnes schien ihn zu beunruhigen, und er begann, mitteilsam wie noch nie, von seiner Familie zu erzählen.
Zuerst nur von seinem Jungen, mit dem er Not gehabt habe, da er auf dem Gymnasium nicht gut getan, auch dann im Kadettenkorps nur mit Ach und Krach sein Examen gemacht hätte. Als Friedenssoldat war es mit ihm nicht gegangen. Er hatte als Leutnant noch knapp einen ehrlichen Abschied nehmen können, war nach Südamerika und war jahrelang verschollen. Schon hatte ihn die Familie verloren gegeben, als ein Brief gekommen war, es ginge ihm gut, er zöge Vieh, schönes Vieh und besäße ein Stück Land, ausgedehnter als die größte deutsche Herrschaft. Freilich habe der Boden dort geringen Wert. Nachprüfungen bestätigten alles.
»Das kommt davon, wenn man einem den Beruf aufnötigen will. Der Junge ist nicht zum Garnisondienst geboren. Sie wissen, wie wundervoll er sich jetzt im Kriege gemacht hat. Schon wie er herübergekommen ist: als Heizer, noch dazu auf einem englischen Schiffe, ist eine Leistung. Ich habe mich gefreut, daß Sie nach dem Jungen fragen, denn die Gefangenschaft ist mir sehr nahe gegangen. Der Bengel hatte sich das E. K. I. verdient durch ein paar Fernpatrouillen, die mal im Generalstabswerk stehen werden. Und da muß es so enden! Und wer weiß, ob man Nachricht bekommt. Mich quält nur der Gedanke, man könnte ihn unwürdig behandeln. Dann nimmt er sich's Leben. Ganz bestimmt. Aber in diesem Kriege dürfen wir nicht an unser Einzelschicksal denken.«
Er rückte seinen Stuhl näher heran, schnippte die Zigarrenasche ins Feuer und, gleichsam warm geworden, sprach er zum erstenmal von seinem Herkommen:
»Man soll keinem Menschen einen Beruf aufnötigen, sagte ich. Sehen Sie, Esserte, ich war auch nicht zum Kästchenmachen geboren. Ebensowenig wie ich meinen Jungen begriff, ebensowenig verstand seinerzeit mein Vater, daß ich Offizier werden wollte. Ich stamme nämlich« – der General reckte seine vornehme Gestalt und sein gebieterisches Adlergesicht schien dem vollkommen zu widersprechen – »aus den einfachsten Verhältnissen. Mein Vater war Buchhalter in einer Kontobücherfabrik. Er war der erste, der darauf kam, statt zu packen, Packungen fertig zu liefern. Mit zweihundert Talern meiner Mutter, einer Pfarrerstochter vom Lande, haben sie sich einen kleinen Betrieb eingerichtet. Zuerst arbeiteten die Eltern allein. Mein Vater hat eine Heftmaschine erdacht, eine Klebemaschine gebaut. Sich ein paar Jahre so über Wasser gehalten. Mit einemmal, als ich schon geboren war, hatten sie nichts mehr. Dann ging's wieder. Die Fabrik, wo er gearbeitet hatte, nahm seine Packungen. Nicht aus Edelmut. Den gibt's wohl überhaupt sehr selten. Was meinen Sie, Esserte?«
Der Generalstabsoffizier lächelte nur, und der General fuhr fort:
»Bald wurden aus zwei Zimmern – Säle, aus Sälen – Häuser, aus Häusern – Werke. Die Zwischenhändler wurden ausgeschaltet. Leimsiederei, Knochenmühle, Papierfabrik angegliedert. Die Kohle kaufte er bald nicht mehr, sondern gewann sie im eigenen Bergwerk. Mein Vater hat so gearbeitet, daß er, als ich Offizier werden wollte, sich einbildete, er habe mit mir darüber gesprochen, daß ich die Nachfolge übernehmen müsse. Dabei hatte er nie ein Wort davon gesagt. Hier liegt vielleicht ein Unsegen der Arbeit: über der Arbeit kannte er seine Familie nicht. Ich hätte zum Erwerb nicht gepaßt. Meine Mutter verstand es. Meine Mutter, die Pfarrerstochter, die etwas Königliches hatte. Was ist alles aus deutschen Pfarrhäusern gekommen! Sie war groß und schlank. Mein Vater klein und rund. Meine Mutter hatte eine starke gebogene Nase. Mein Vater ein breites liebes Gesicht mit weißem Schifferbarte. Erst als ich in den Generalstab gekommen war, hat mein Vater sich mit meinem Berufe ausgesöhnt. Bis dahin gab er mir zwar einen hohen Zuschuß für die Kavallerie, war aber nicht etwa stolz, wie sich das welche eingebildet haben, – ja, das weiß ich sehr wohl –, daß der Sohn eines Mannes, der als kleiner Buchhalter begonnen hatte, nun Offizier sei. Nein, eigentlich hielt er die Offiziere für nutzlose Menschen. Wie er freilich sah, daß und wie ich arbeiten mußte, da begann er anders zu denken, denn jeder Beruf, in dem man arbeitet, nötigte ihm, dem Manne der Arbeit, wenn auch nicht Zustimmung, so doch Hochachtung ab. Sie sehen also, lieber Esserte, ich bin von einfachstem Herkommen. Aber ich erzähle Ihnen ja da nichts Neues. Das haben Sie ja längst gewußt.«
Esserte lehnte sich im Stuhl zurück und sagte, die Fingerspitzen beider Hände taktmäßig aneinanderfügend:
»Ich habe davon gehört, Exzellenz.«
Es war noch mehr als Hörensagen: Man wußte in der Armee, daß es die Schwäche dieses ausgezeichneten Mannes war, seine Herkunft im Dunkel zu lassen. Es hieß, er sei stolz auf seiner Frau altadeligen Namen. Ja, wie es immer lose Mäuler gibt, die etwas aufbringen, gedankenlose Klatschtanten, die es weitertragen, vielleicht auch einmal einen, dem man auf das Füßchen getreten hat, so behaupteten dunkle, nie zu fassende Stimmen, er liebe eine möglichst hochgezogene Umgebung. In Wirklichkeit waren alle Herren des Stabes bürgerlich bis auf den Generalstabsoffizier, denn Oberleutnant von Gereck, der Ordonnanzoffizier, zählte insofern nicht mit, als er erst in der Champagne, und zwar ganz ohne Zutun des Divisionskommandeurs, hinzugekommen war. Er sollte nämlich den bei Überbringen einer Meldung gefallenen damaligen Ordonnanzoffizier Oberleutnant Werder ersetzen.
Major Rennhöfer hatte sein Buch weggelegt und fragte, ob Exzellenz noch Befehle habe. Der Generalleutnant hielt sonst seine Herren nie zurück. Heute abend aber schien er besonders aufgelegt und fragte:
»Wollen Sie denn schon schlafen gehen, lieber Freund?«
»Zu Befehl, Exzellenz. Ich wollte morgen frühzeitig einmal zur Verzehlfeste hinaus. Wegen des Wassereinbruches. Ich will eine elektrische Pumpe aufstellen.«
Und Major von Esserte fügte hinzu, auch er müsse möglichst bald einmal hinaus. Das Grabenstück zwischen dem Hasenclevergraben und dem Bißwanggraben müsse entweder freiwillig aufgegeben oder das Wäldchen vor der Flurschützfeste dazu genommen werden. In diesem Grabenstück seien täglich Verluste.
Er stand auf, um die Karte zu holen. Der Generalleutnant sah seinen Adjutanten freundlich an:
»Ich erzähle eben Esserte von meinem Ursprung. Sie wissen es ja. Nun, mein seliger Vater würde heute auch anders denken. Aber was für merkwürdige Ansichten manche Kreise über die Armee hatten! Wo wären wir denn jetzt ohne die Armee? Dadurch, daß die Armee in schwerer Rüstung vierundvierzig Jahre lang Gewehr bei Fuß gestanden hat, ist doch erst die ganze industrielle Entwicklung Deutschlands möglich geworden. Also sollen sie uns dankbar sein.«
Der Adjutant stützte sich mit verschränkten Armen auf die Lehne des Stuhles, in dem Herr von Esserte gesessen:
»Exzellenz, ich glaube, das sehen aber auch die Leute jetzt ein.«
»Ja, angesichts des Beweises, den der Krieg gibt. Wie soll man auch Offiziere beurteilen im Frieden. Ich habe es immer für eine Tragik unseres Berufes gehalten, wenn ein Offizier den Abschied nehmen muß, ehe er Pulver gerochen hat, und das ist doch einer Menge so gegangen, die nach siebzig eingetreten sind, es bis zum General gebracht haben und vor dem Kriege den Abschied nahmen. Und man kann Gott nicht genug danken, daß er einen gesund erhalten hat und daß wir nun hier draußen stehen.«
Major Rennhöfer dämpfte seine Stimme:
»Exzellenz, es war doch schöner, als es noch vorwärts ging.«
Aber da ereiferte sich der General:
»Zum Donner noch mal, Rennhöfer, sind Sie auch etwa schwach? Hier spielen doch strategische, ja sogar politische Fragen mit herein. Wir stehen hier auf Vorposten für ein ganzes Volk. Jeder sollte sich immer sagen, daß es sein kleines Tun erhöht, ihn stolz machen muß.«
Major Rennhöfer nahm die verschränkten Arme auseinander und ließ sie fallen:
»Gewiß, Exzellenz. Exzellenz wissen auch, daß ich nicht schwachmütig bin. Aber mir klingt immer die Proklamation Napoleons des Ersten, als er von Elba kam, in den Ohren, so etwa …. etwa so: ›Die Adler Frankreichs werden fliegen von den blauen Gestaden des Mittelmeers bis zu den Türmen von Notre Dame‹.«
Der Generalleutnant klopfte seinem Adjutanten auf die Schulter:
»Rennhöfer, Sie sind immer der alte Phantast. Sagen Sie's doch lieber gleich französisch! Das klingt, was? Sie wissen, was ich von Ihnen halte, aber Sie sind mir wirklich manchmal zu französisch. Da sollten Sie sich an Esserte ein Beispiel nehmen. Obgleich der wieder an der anderen Grenze ist. Gegen Damen muß man artig sein. Na, nun wollen wir mal die Karte ansehen.«
Da man aber hier die kleine Schrift nicht lesen konnte, gingen sie hinüber, wo am Fernsprecher der zweite Ordonnanzoffizier saß. Sie breiteten die Karte aus. Major von Esserte sagte, er hätte mit dem Stabschef des Korps, mit Oberst Bach gesprochen, der sei derselben Ansicht wie er wegen des Grabens. So war der Generalleutnant einverstanden, daß der Major so bald als möglich einmal hinaus sollte, um sich die Lage an Ort und Stelle anzusehen.
Der Divisionskommandeur ging mit seinem Adjutanten hinauf, während Major von Esserte über der Karte sitzen blieb.
Als die beiden die Treppe hinaufstiegen, schob der General seine Hand in des Majors Arm:
»Ihr Freund Bonaparte hat mal, als ihn jemand nach dem Grund seiner Erfolge befragte, geantwortet, er habe Nächte gebrütet über der Karte. So muß es sein. Vom Himmel fällt es keinem. Ich kann Ihnen sagen, Rennhöfer, nicht bloß, wenn ich meine Generalstabsreise geleitet habe, nein, im Manöver habe ich mir die Karte so zu eigen gemacht, daß ich sie gar nicht aufzuschlagen brauchte. So stand sie mir vor Augen. Um das zu erreichen, habe ich sie fünfmal, zehnmal abgezeichnet. Ich glaube, ich könnte Ihnen von jedem Manöver, jedenfalls seit ich im Generalstab war, noch heute alle Namen und Entfernungen sagen.«
Als sich am Treppenabsatz vor dem Spiegel ihre Wege trennten, meinte der Major:
»Exzellenz, ich habe ja leider den Generalstab verpaßt bei meinem Prinzen.«
»Dafür haben Sie dort andere Werte fürs Leben gewonnen. Das Leben ist wichtiger als der Beruf, den einer vielleicht jäh aufgeben muß. Wegen der Gesundheit zum Beispiel. Aber was man fürs Leben lernt, kommt dem Beruf zugute. Je weiter, je bedeutender ein Mensch – desto tüchtiger als Führer. Das erleben wir hier draußen täglich. Hier zeigen sich viele erst wie sie wirklich sind. Das ist ein Segen des Krieges. Er schafft Männer. Er scheidet die Stadtsoldaten von den Feldsoldaten.«
Der Major blickte träumend zum Fenster:
»Es ist herrlich, wie alles gegenständlicher jetzt ist, wirklicher, und darum eigentlich einfacher und leichter. Mir kam der »Türke« auf dem Exerzierplatz immer furchtbar komisch vor. Wenn einer sagte: ›Dort ist 'ne Schützenkette, da steht 'ne Batterie‹, hätte ich immer antworten mögen: ›Das ist ja gar nicht wahr!‹«
Der Generalleutnant lächelte:
»Na, Sie haben aber doch Phantasie genug!«
»Jawohl, Exzellenz, aber nun sage ich mir, wenn mir das schwer wurde, wie wird das wohl dem Kanonier Abromeit oder dem Füsilier Müller gegangen sein. Hier schwindelt man nichts vor. Hier ist alles harte Wirklichkeit. Die Granaten bilden wir uns nicht ein.«
In dem Augenblick krachte ein so starker Donner, daß irgendwo, dem Luftdruck nachgebend, klirrend eine Fensterscheibe zerbrach. Der General hob den Kopf wie ein Adler. Man vernahm Stimmen, eine Tür schlagen, und ein zweiter Donner, stärker, näher, schmetterte in der stillen Nacht. Major Rennhöfer eilte die Treppe hinab. Unten hörte man laufen. Drüben am Stall irrte ein Licht. Auf dem Gang sprang eine Tür auf. Der Turban des Barons de Battaignies erschien. Dann Claire, die sich irgend ein Kleidungsstück umhielt. Der General rief ein paar beruhigende Worte: Es sei allerdings sehr nahe gewesen, aber … Der dritte Donner dröhnte. Es schwirrte und pfiff. Es klang wie Schläge an Holz, ein dumpfes Patschen an die Mauer, und klirrend spritzte das Glas aus dem Spiegel. Der Generalleutnant sagte zu den Franzosen: »Ich bitte, sich anzuziehen, aber schnell. Für den Fall, daß es weitergeht.«
Laetitia rief ängstlich:
»Was ist das?«
»Englische Granaten, gnädige Frau.«
Auch er ging auf sein Zimmer, um Mütze und Mantel zu holen. Claire kreischte auf.
Unten waren die Herren vom Kartentisch aufgesprungen. Die Billardspieler ließen die Bälle laufen, die nun langsam fortrollten, ehe sie zur Ruhe kamen. In der Küche schrien die Mägde. Die dicke Köchin stand zitternd an der Wand. Der alte Blaise erschien in der Tür, warf wild die Arme und brüllte: »François, François, François!«
Vizewachtmeister Fiedler schickte Jeanne hinauf, die Damen zu wecken. Während er noch sprach, krachte ein Donner wie Einschlag beim Gewitter. Das ganze Haus schien zu beben. Echo gellte auf der Treppe. Der Luftdruck lief förmlich den Gang herab, und wieder klirrten irgendwo Fensterscheiben. Es spritzte an die Wand. Kalk rann. Man hörte rufen. Der General stand da:
»Bringen Sie die Franzosen in den Keller!« Dann begann er zu husten, denn eine Wolke von Ziegelstaub schlug ihm entgegen und zog durch alle Räume. Es war jäh finster geworden. Lampen und Lichter waren verlöscht. Dabei jammerten die Frauenzimmer. Und der alte Blaise brüllte wieder: »François, François!« So hieß der Knecht. Taschenlampen flammten auf. Oberleutnant von Gereck wollte die Franzosen die Treppe hinabführen, doch die Damen fanden den Weg schneller als er. Der alte Patriot blieb bei den Offizieren stehen, einen Pelz über das abenteuerliche Nachtgewand gezogen, den Turban auf dem Kopf, einen Schal um den Hals geschlungen.
Als die Lichter notdürftig wieder flammten, gab der Major auf dem Hofe kurz Befehle: »Die Pferde herausbringen. Wie sie sind. Stallhalfter. Fortführen. Trab. Allee nach Bobines! Klostermann, die Autos raus. Sie fahren die Allee hinunter, bis aufs freie Feld. Dort halten. Scheinwerfer brennen lassen. Front Bobines. Dann sieht man nichts. Aber nu dalli, raus!«
In dem Augenblick krachte die fünfte Granate. Sie schien etwas weiter entfernt zu sein. Es splitterte nur in den Bäumen. Da heulte der alte Blaise so laut, daß ihm sein Herr auf die Schulter schlug, ihn einen Feigling nennend:
» Vieux poltron, va!«
Aber der alte Säufer lag an die Wand gelehnt, riß das Maul auf, zog die Luft ein, stieß sie keuchend aus, spuckte, spie, verdrehte die Augen und es schüttelte ihn wie ein Krampf.
Major Rennhöfer trat wieder ein und sagte zum General, der ruhig dastand, die Hände in den Manteltaschen:
»Es hat ein tüchtiges Loch rausgehauen, Exzellenz!«
Der General fragte:
»Sind die Frauen in Sicherheit?«
Oberleutnant von Gereck kam eben die Treppe heraufgesprungen:
»Zu Befehl, Exzellenz. Im Keller.«
»Sind sie vernünftig?«
»Zu Befehl, Exzellenz. Nur die Köchin heult!«
Der General lächelte:
»Der Kürassier-Wachtmeister?«
Ein neues Krachen schnitt ihm das Wort ab. Aber es klang noch ferner. Zweige brachen, rauschten. Man hörte ein scharfes, dünnes Pfeifen. Dann klatschte etwas an die Wand und fiel zu Boden. Und der alte Blaise brüllte wieder laut auf.
Der General sagte kalt:
»Sorgt mal, daß dieser feige Hund wegkommt. Ich kann den Kerl nicht mehr sehen!«
Major Rennhöfer hatte die Mauer abgeleuchtet, wo eine frische weiße Stelle im Verputz zeigte, daß hier ein Granatsplitter getroffen hatte. Er bückte sich nach dem Metallstück am Boden, ließ aber gleich wieder den kleinen, merkwürdig korkzieherartig verdrehten Metallsplitter fallen, denn er war glühend heiß. Nun betrachtete er den alten Kerl am Boden, dem der Speichel aus den Mundwinkeln lief, und wandte sich lachend zum General:
»Exzellenz, betrunken ist er.«
Vizewachtmeister Fiedler riß ihn auf die Beine und brachte ihn fort. Major Rennhöfer rief ihm nach:
»Lassen Sie ihn auf der Ostseite des Hauses. Falls sie wieder reinfunken sollten. Es kommt von Westen.«
Wieder schmetterte es, doch abermals irgendwo draußen im Park. Irgend jemand zählte laut: »Sieben.« Der General fragte den alten Franzosen, ob er nicht lieber zu den Damen gehen wolle. Aber der erklärte in völliger Ruhe, er zöge es vor, hier zu bleiben.
Major Rennhöfer eilte wieder ins Dunkel hinaus. Er stürmte in den Park, die Allee nach Bobines hinab und rief:
»Weiter vor! Immer weiter vor! Vorwärts! Vorwärts!« Man sah vom das Licht der Scheinwerfer, das ein Stück Straße und die Stämme traf. Da hier Granaten in der Nähe eingeschlagen waren, leuchtete er den Boden ab, hielt inne und lauschte, ob er etwa ein Stöhnen vernähme, etwa von einem, der liegengeblieben sei. Aber er hörte nur vor sich irgendwo das Knattern des Motors und ein Pferdegewieher. Der Adjutant hielt beide Hände an den Mund und brüllte noch einmal: »Weiter, weiter, immer weiter!« Da klang rechts ein Pfeifen in den Lüften, ein Helles, hohes Singen, das allmählich niederstieg zu tieferem Ton. Major Rennhöfer sprang, während das Feuer der platzenden Granate aufblitzte und der Donner klang, hinter eine gewaltige Ulme. Ganz schmal stellte er sich. Wie einst Bißwang auf der Yperner Straße. Sprengstücke heulten, pfiffen, schwirrten um ihn, klatschten an Stämme, knickten Zweige, ratschten, peitschten, rissen irgendwo etwas fort, und nach einer ganzen Weile noch war es, als ob sie irgendwo zwischen den Bäumen niederfielen.
Drin aber sagte, wo die Herren standen, wieder eine Stimme zählend: »Acht.«
Major Rennhöfer rannte die Straße hinab, bis er am Ausgang des Parkes die Pferde eingeholt hatte. Nun dem wahrscheinlichen Feuerbereich entrückt, ging er langsamer. Er war ganz außer Atem »Uff, uff« blies er die Luft von sich. Dann rief er:
»Kühnscherf!«
»Zu Befehl, Herr Major.«
»Kinzig! Seid ihr alle da?«
Er sah dunkle Gestalten, dämpfte die Stimme, fragte, zählte. Klostermann sagte:
»Herr Major, die Pferde sind ja gleich raus, aber bis man den kalten Motor anwirft. Na, ich deck'n schon immer die Nacht schön zu. Gerade der 60er will oft gar nicht anspringen. Heute gleich.«
Der Major scherzte:
»Sonst sollt ihr mit den Weibsbildern nicht solange rummietzen. Aber heute hat es sein Gutes gehabt. Wenn ihr zu Bett gewesen wärt, wär's nicht so schnell gegangen. Da will ich also weiter nichts sagend
Eine Stimme in der Dunkelheit meinte:
»Herr Major, wir müssen doch abtrocknen.«
»Na, wen ihr da abtrocknet, will ich lieber nicht wissen. Übrigens ist's jetzt ruhig. Sind denn die Pferde zugedeckt?«
»Zu Befehl, Herr Major«, klang es im Chor.
»Hier ist eine Brücke links aufs Feld hinaus. Dort bleibt ihr stehen. Ich werde mal reingehen. Wartet, bis ich's sagen lasse. Klostermann, Sie auch. Wieviel waren's denn Granaten?«
»Sieben,« sagte einer.
Und ein anderer:
»Nee, bloß fünf.«
Klostermann aber, der die größte Erfahrung hatte, weil er die Herren vom Stabe fuhr, während die anderen meist zurückbleiben mußten, schnitt alle Widerrede ab:
»Herr Major, ich zähle immer. Es sind acht gewesen. Vier uffs Haus und Viere uff'n Park. Da gibts gar keenen Streit. Gleich die erste saß. Muß ins Dach ringegangen sein. Die zweite ist richtig in den Wirtschaftshof. Die dritte, das kann ich nu nich sagen. Die vierte, die hat die Ecke mitgenommen. Und dann war 'ne Pause. Dann ging's nochmal los. Aber da sind se schlecht abgekommen.«
Der Major sagte nichts als: »Zwei Lagen!«
Dann eilte er durch den Park dem Hof wieder zu, während die Burschen bei den Pferden anfingen zu streiten, wo die Granaten gesessen hätten.
Es blieb ruhig. Sie hatten eben drüben nur wieder einmal gestreut. Aber wer sollte wissen, ob es nicht in ein paar Minuten abermals begönne. So blieb man denn im Salon, der vom Gegner abgekehrt lag. Der General lud Baron de Battaignies ein, bei ihnen zu verweilen. Auch Claire und Madame de Beaucourt traten ein. Nicolette war gleichfalls aus dem Keller heraufgestiegen und lief mit Scholastique neugierig umher, um zu sehen, wo die Schüsse gesessen hatten. Oberleutnant von Gereck erzählte, die dicke Köchin hocke weinend auf einem Krautfaß und sei nicht zu bewegen, wieder heraufzukommen. Generalleutnant Greger sagte zu Madame de Beaucourt, während er selbst noch einen Scheit in den Kamin warf:
»Haben Sie keine Angst, es ist anzunehmen, daß es vorbei ist. Trotzdem würde ich Ihnen empfehlen, aufzubleiben, damit Sie, falls es wieder anfinge, gleich in den Keller gehen können.«
Der Kriegsgerichtsrat übersetzte es dem alten Herrn und Claire. Für die Damen wurden Stühle herangerückt. Man bat sie abzulegen, aber sie mußten ihre Mäntel anbehalten, die sie in der Eile über die Nachtgewänder geworfen hatten. Der Generalleutnant sah sich um; alle waren versammelt, nur Major von Esserte fehlte, an den man nicht gedacht hatte, weil er immer ein wenig abseits stand. Major Rennhöfer ging, einen Augenblick beunruhigt, zum Nebenzimmer und öffnete die Tür, nach dem Kameraden zu sehen. Da erblickte man am Arbeitstisch unter dem Bilde des Herrn Alfred Vison de Beaucourt, des kleinen stolzbebarteten Männchens mit den Stelzabsätzen und den hellen Gamaschen, den Generalstabsoffizier unbeweglich auf die Karte gebeugt. Und so erstaunlich war dieses ruhige Bild nach all der Aufregung, daß der Major in scherzhaftem Einfall auch den zweiten Flügel entriegelte, damit die ganze Gesellschaft Esserte sähe. Madame de Beaucourt, die schon ängstlich nach Herrn von Esserte umhergespäht, blickte hin. Der Divisionsadjutant sagte scherzend prahlerisch:
»Gnädige Frau, Sie kennen doch die Geschichte vom Archimedes: ›Störe mir meine Kreise nicht‹. Sehen Sie, das ist der Offizier der Barbaren. Ich würde meinen Freund ja gern herüberrufen, aber ich fürchte, wenn ihn die englischen Granaten nicht geweckt haben, so hört er auch nicht auf mich.«
Er sah das fast anbetende Antlitz der jungen Frau nicht, wie sie hinüberstarrte zu diesem Mann, der wirklich dem Bilde zu entsprechen schien, das sie sich heimlich von ihm gemacht.
Als nun der General »Esserte!« rief, blickte der Major auf und gewahrte voller Staunen die Herren mit den französischen Damen am Kamin. Die gleichsam anbetenden Augen der Madame de Beaucourt senkten sich in die seinen. Er fühlte Bewunderung, Sorge, eine Liebe vielleicht sogar in dem Blick, und während er sich erhob und blind »Exzellenz« antwortete, dachte er immer nur an die Frau, die jetzt durch den Traum seiner Tage und Nächte ging, solange der Dienst ihn nicht gefesselt hielt, dieser Dienst, den kein irdisches Wesen je gestört hätte, bedeutete er doch sein innerlichstes Wesen und seine Pflicht.
Man setzte sich am Kamin. Die Herren rauchten, nachdem der General artig die Damen um die Erlaubnis gebeten hatte. Baron de Battaignies nahm eine Zigarette an. Er saß würdig da in seinem Pelz. Claire dagegen hörte kaum auf die Unterhaltung, die der Kriegsgerichtsrat mit ihr begann. Sie dachte, jeden Augenblick müßten die Granaten wiederkehren, und blickte mißtrauisch zum Fenster. Als draußen eine Tür ins Schloß fiel, rief sie: » Ah, mon dieu!« Dann faltete sie unter dem Pelzumhang, der gleich einer Stola niederhing, betend die Hände. Ihre Lippen bewegten sich und ihre Augenbrauen zuckten in unruhigem Spiel.
Major Rennhöfer hatte dem General vorgeschlagen, die Kraftwagen draußen stehen zu lassen und nur die Pferde hereinzubringen. Es gab einen Keller, dessen dickes Gewölbe, von mächtigen Pfeilern getragen, gegen nicht allzuschwere Kaliber Schutz gewährte. Er war der älteste Teil der Ferme, wie der Baron gesagt. Die französischen Mädchen hatten sogar behauptet, er sei einst Verließ gewesen. Erstaunlich tief unter den Boden geschoben, war er vom Hofe aus durch eine sinkende Rampe zu erreichen. Dort unten gab es Platz genug. Mit den Gewohnheiten der Engländer in diesem Abschnitt vertraut, durfte man annehmen, daß sie nach zwei Lagen das Feuer weitergeschoben hatten und nun etwa wieder das unglückliche Opendaele mit ihrem Kugelsegen beglückten, vielleicht auch Ralinghien, das Dorf. So winkte Major Rennhöfer Oberleutnant von Gereck heran und befahl ihm, die Pferde hereinzuholen. Während der Generaloberarzt und Major von Esserte bei Seiner Exzellenz und den Franzosen sitzen blieben, gingen die anderen Herren auf den Hof, um die Wirkung der Granaten zu sehen. Die Taschenlampen ließ man aufleuchten, und bald irrten Punkte wie Glühwürmchen durch die Nacht. Nur der Wirtschaftshof war getroffen. Eine Granate, wahrscheinlich jene, die ihre Sprengstücke ins Treppenhaus geschleudert hatte, war mitten darauf geplatzt. Nicht ohne Glück, hatte sie sich doch in den großen Misthaufen in der Mitte gebettet. Wenn auch zusammengesunken vom Regen, war er doch durch Dung wieder aufgefüllt. Freilich nur von den Pferden, denn Vieh gab es nicht mehr. Das war schon vor Monaten requiriert worden. Eine zweite Granate war in das Strohdach der Scheune gefahren, auch hier wieder Segen im Unsegen, denn Regen und Feuchtigkeit, die Wahrzeichen dieses Landes, hatten einen Brand hintangehalten. Jemand rief:
»Die Hausecke ist futsch!«
Sie strömten hinzu. Es war just die Kammer der Mägde. Bei dem Licht einer Lampe, die jemand schnell hinaufgebracht, sah man Betten wie in einer Puppenstube stehen. Die Mägde wurden geholt. Sie weinten im ersten Augenblick, in der Meinung, sie hätten all ihr Eigen verloren. Als sich nun aber herausstellte, daß nichts beschädigt, alles nur vom Ziegelstaube wie mit rotem Pulver überstreut schien, klärten sich ihre Mienen auf. Als nun gar ein paar der jüngeren Herren daran gingen, ihnen zu helfen, die sieben Sachen zusammenzulesen, kicherten sie und schämten sich, ihre paar Herrlichkeiten zu zeigen. Dachbalken und Trame waren wie Streichhölzer geknickt, Holzstücke, Steine, Ziegel lagen umher, und in all dem roten Staub, den sie von den Betten schüttelten, hatte weißer Verputz helle Straßen eingezeichnet, etwa wie bei einer Fliegeraufnahme. Nun wanderten die Mädchen aus. In einem Raum neben der Küche sollten sie schlafen. Doch sie wollten lieber in den Keller gehen. Sie arbeiteten, jetzt wieder lachend, mit starken Bauernarmen, trugen Betten, schleppten Spind und Schrank. Auch für die Burschen und Ordonnanzen, die mit den Pferden zurückkamen, gab es Arbeit genug. Der Keller mußte als Stall und Wohnung hergerichtet werden. Kinzig meinte, es sei hübsch warm da unten. In Wirklichkeit freuten sie sich über die ungehinderte Nachbarschaft mit den drei blonden Mädeln.
Allmählich war alles wieder ins Haus gegangen, nur Major Rennhöfer blieb mit Oberleutnant von Gereck aus dem Hofe zurück. Den kunstsinnigen Husar und den Divisionsadjutanten band mancherlei: die Musik, wie Beziehungen zum gleichen Hofe, denn Gerecks Vater war der Oberhofmarschall des regierenden Herrn. Dazu regten sich auch in des Husarenoberleutnants Seele bisweilen, wenn auch nicht gerade des Majors Wunder und Rätsel, mit denen die Welt ihm behängt schien, so doch manche Herrlichkeiten, die diese Erde einem offenen Sinne schenkt; nicht zum wenigsten im Kriege. Die Nebel hatten sich zerteilt, die noch während der Beschießung über dem Hof von Ralinghien gehangen und dadurch dem »kleinen Zwischenspiel«, wie Rennhöfer es nannte, etwas Märchenhaftes gegeben hatten. Am Himmel standen zuckend klare Sterne. Wie die Offiziere miteinander an den Ställen hingingen, die längst keine französischen Pferde mehr bargen, brach der Mond irgendwo durch oder stieg irgendwo herauf. Erstaunt blickten sie sich um, wo er herkäme. Da stand er, ein Dreiviertelmond, friedlich, unschuldig, als sei nichts geschehen. Major Rennhöfer meinte:
»Da soll mal einer sagen, der Krieg wäre nicht erschütternd schön. Wo erleben wir denn sonst so was? So 'ne Geschichte pulvert einen ordentlich auf. Es gibt ja zwar Leute, die behaupten, so 'ne Schießerei sei ihnen ganz egal. Nun, ich muß sagen, wenn man sich auch selbstverständlich anständig benimmt, zu den Annehmlichkeiten des Lebens zählt das doch eigentlich nicht. Wir sprachen eben noch von Granaten. – Ich weiß den Zusammenhang nicht mehr. – Und da kracht so'n Luder rein. Und für die Frauen, die Franzosen, habe ich angst gehabt. Wir sind ja dazu da, aber die Damen? Übrigens, der alte Herr benahm sich großartig. Haben Sie das Fräulein Claire gesehen? Die hat's rumgerissen! Sie betete eben wie verheult.«
Der Oberleutnant meinte nachdenklich:
»Dabei müßten Leute, die so fromm sind, doch eigentlich keine Beunruhigung empfinden. Was soll ihnen denn geschehen. Sie stehen doch in Gottes Hand.«
»Darf ich mal eine Frage an Sie richten?«, sagte der Major, »eine ganz persönliche Frage. Glauben Sie eigentlich?«
Gereck senkte den Kopf und antwortete leise, gleichsam ein Bekenntnis, das sich ihm schwer entrang, etwas das unsicher in ihm gelebt:
»Mich hat früher nur Musik bewegt. Ich weiß noch, wie ich als Kind zum erstenmal in einer Oper war. Meine Mutter erzählte, ich sei so aufgeregt gewesen, daß ich sie gebeten hätte, die Nacht bei mir zu bleiben. Die Gestalten, die ich da gesehen hatte, ängstigten mich fast. So ist es mir auch im Anfang des Feldzuges ergangen: Der erste Tote, den ich auf einem Patrouillenritte gesehen habe, ist mir unüberwindlich im Gedächtnis geblieben. Er lag mitten auf der kreidig weißen Straße, die ich im Schrapnellfeuer ritt. Und zwar lag er auf dem Gesicht. Mir war es so schrecklich, daß er auf dem Gesicht lag. Ich hatte einen ganz merkwürdigen Gedanken. Ich meinte, er müsse zum Himmel blicken, sonst könne seine Seele nicht hinauf. Dieser Tote, übrigens war es ein toter Husar von uns, hat mich verfolgt wie das Kind die Bühnengestalten. Und nun komme ich dazu, was Herr Major fragen. Ich bin nur bei der Kirchenparade mit der Schwadron in die Kirche gegangen. Ohne Kirchenparade nie. Seitdem ich nun an dem heißen Augusttage diesen toten Husaren auf der Straße habe liegen sehen, diesen toten Husaren, dessen Seele nicht zum Himmel konnte, bin ich anders geworden. Ich sehe ihn heute noch liegen. Mein Pferd scheute, daß es uns bald an die andere Seite der Straße an die Bäume gehauen hätte. Ich habe keine Bibel, Psalmen oder so was mit. Aber seit es mich quälte, daß die Seele des toten Husaren nicht zum Himmel könnte, … nun ich habe hier ein französisches Neues Testament gefunden. Das ist das einzige, was ich requiriert habe. Na, und wenn wir mal hier fortgehen, lege ich's natürlich wieder schön auf seinen Platz. Herr Major, das ist wohl etwa die Antwort.«
Major Rennhöfer legte die Hand auf die Schulter des Husaren und sagte fast feierlich:
»Man steht hier im feindlichen Land, nachts im Mondenschein. Man ist der beste Mensch von der Welt. Man hat im Grunde, mir wirds ja immer vorgeworfen, die ollen Franzosen ganz gern, und dann kommen mit einemmal, von irgendwoher, kein Deubel ahnt von wo, Granaten, mitten in dieser wunderschönen Nacht. Und der Herrgott sitzt da oben im Himmel und sieht ruhig zu. Ich bin durch die Schöpfung gegangen wie durch ein Wunder. Ich habe im Grase gelegen und irgend eine kleine dumme Wicke angesehen und hätte' darüber eine Stunde träumen können: Mein Vater ist nicht religiös. Meine Mutter war es desto mehr. Ich habe immer geglaubt, wie ein treues, gutes Kind der Mutter glaubt. Sie spricht von Gott, also muß es so sein, denn alle können lügen, nur Mutting nicht. Und dann kommt der Krieg, kommt so 'ne Schießerei. Und ich frage mich, wie kann Gott das erlauben, und warum? Gereck, sehen Sie, deswegen habe ich Sie gefragt, ob Sie glauben. Das ist nun meine Antwort.«
Der Major blickte in dem tiefen Schweigen zum Himmel auf, wo die Sterne gleichgültig, kalt, fern brannten, in dem tiefen Schweigen, denn der Gegner schoß nicht mehr. Sie gingen um den Hof. An einem Wasserbecken kamen sie gerade vorüber, das als Schwemme oder Tränke ausgemauert stand. Eine sich senkende Rampe, grade jener anderen, die in den Keller ging, gegenüber, führte hinab zu dem sumpfigen Wasserspiegel, vom Regen immer gefüllt. Der Major tat ein paar schnelle Schritte zu etwas Dunklem, das dort im hellen Mondenschein lag. Er beugte sich zu einem Körper, berührte ihn, redete ihn an. Oberleutnant von Gereck drehte die Leiche um. Es war François, der alte Knecht. Und jener, dem der tote Husar so unauslöschlich im Gedächtnis stand, sagte, nun längst an den Krieg und seine Opfer gewöhnt, wie etwas Alltägliches:
»Er muß grade über den Hof gegangen sein und da hat's ihn erwischt! Drum rief der Besoffene immer den Namen!«
»Wir wollen den Damen keine unruhige Nacht bereiten. Erzählen Sie drin nichts. Ich werd's dem Vizewachtmeister sagen,« meinte der Major. Dann gingen sie ruhig hinein.
Man blieb noch lange sitzen, auch die Franzosen, endlich erhob sich der General. Die Lichter erloschen, nur der wachhabende Offizier blieb auf. Major von Esserte stieg als letzter, eine Kerze in der Hand, die Treppe hinan. Er sah noch immer Madame de Beaucourts Augen auf sich gerichtet, und als er sich aufs Bett warf, die Arme unter den Kopf verschränkt, konnte er nicht schlafen. Er dachte: Hat sie nicht Angst, wird sie ruhen? Plötzlich sprang er auf und tastete sich die Treppe hinab. Es war halbhell vom Mondlicht, das aus einem zertrümmerten Spiegelstück am Boden an die Decke einen Wiederschein warf. Er trat in den Park hinaus. Eben ging der Posten drüben langsam um die Ecke. Major von Esserte blickte zu den Fenstern auf. Eins war erleuchtet. Er zählte. Es war bei Laetitia. Mit kurzem Entschluß stieg er die Stufen hinauf, bog links ab, schlich auf heimlichen Sohlen, an Claires Zimmer vorüber, klopfte und fragte leise: »Madame?« Keine Antwort. Er versuchte zu klinken. Die Tür ging auf. Laetitia stand ihm gegenüber. Als müsse er sich entschuldigen, fragte er:
»Sie haben nicht zugesperrt?«
Sie antwortete einfach:
»Ich wußte, Sie werden kommen.«
Er war wie verwirrt:
»Sie wußten es?«
»Ja, denn ich kann nicht sein ohne Sie eute abend. Wenn sie nun noch einmal schießen?«
»Das können wir nicht ändern.«
Sie legte die Hand über die Augen:
»Ich möchte, daß sie schießen wieder. Ich möchte, daß ier alles wäre zu Ende.«
Er fand zum erstenmal ihren Vornamen:
»Laetitia, das dürfen Sie nicht sagen.«
»Es ist keine blague. Ist es nicht ein Unglück, daß Sie gekommen sind ierer?«
»Wir werden ja wieder gehen.«
» Et moi?«
»Ihr Mann wird wiederkommen.«
Sie fügte ihre Finger wie betend zusammen:
»Er wird nicht wiederkommen. Er darf nicht wiederkommen. Lieber Gott, mache, daß er nicht wiederkommt.«
Er blieb erschüttert vor ihr stehen:
»Laetitia, das dürfen Sie nicht sagen.«
»Ich bin gewesen immer eine unglückliche Frau. Nicht eine Frau, nicht verstanden, wie man sagt. Verstehen at monsieur nie versucht. Ich bin unglücklich jetzt auch. Was soll dieses? Ich bin Französin. Ich liebe mein Vaterland. Sie kommen ierer. Sie sind mon ami, aber Sie sind der Feind meines Vaterlandes. Wie soll man da eraus?«
Plötzlich sprach sie französisch, als könnte sie es nicht deutsch sagen:
» Je suis une femme honnête! Wie soll ich da eraus?«
Er sah, wie sie zitterte und daß sie sich fast nicht aufrecht halten konnte. Da führte er sie an den Stuhl am Kamin:
»Laetitia, davon wollen wir sprechen!«