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13

Die Keller waren geräumig; die Ferme Ralinghien hatte, wie Major Pedröhl gesagt, wirklich etwas von einer alten Festung. Dem Baron und seinen Damen war es möglichst bequem gemacht worden. Die Schwestern hatten neben ihrem Vater einen abgeteilten Raum bekommen, und zwar jenen, der vom Hofe aus noch einiges Licht erhielt. Dort war gegen Sprengstücke eine Sandsackmauer vorgebaut. Oben im Arbeitszimmer der Offiziere hatte man die Karten der verschiedenen Kriegsschauplätze von den Wänden genommen und die Aktenkoffer heruntergebracht. In allen Ecken häuften sich schnell zusammengeraffte Gegenstände. Graue Hauptmanns-und Leutnantskoffer mit Namen und Charge standen da, Mäntel lagen umher, Sättel, Halftern, ein ganzer Pack von Säbeln, denn seit dem Grabenkriege trug keiner der Herren die alte Waffe mehr. Helme waren darüber aufgebaut. In der Eile hatte jeder etwas aus seinem Zimmer zu seiner Bequemlichkeit zusammengerafft. Am Boden standen auf einem Einlegebrett des Eßtisches Waschbecken. Wäsche lag gestapelt. Und noch immer wurde einzelnes heruntergeholt. Jedesmal, wenn das Feuer näherzukommen schien, rief Major Rennhöfer die Leute zurück, bis es ruhiger geworden war.

Major von Esserte blickte, wie er es draußen bei seiner unterbrochenen Grabrede gesagt: Nicht links, noch rechts. Oberst Bach, der Stabschef des Korps, tauschte mit ihm seine Meinung aus über die an der ganzen Front vermehrte Artillerietätigkeit, die vielleicht die Hauptstelle eines etwaigen Angriffs verschleiern sollte. Meldungen kamen von der Brigade Flurschütz, wo es am unruhigsten zu sein schien, von der Brigade Golm, deren Abschnitt weniger unter Feuer stand. Der Generalleutnant saß ruhig rauchend seinem Generalstabsoffizier gegenüber am Tisch und sah die Niederschriften vom Fernsprecher durch, die ihm gereicht wurden. Auf dem Rücken seiner scharfen Nase schaukelte ein Hornkneifer und immer blickten die weitsichtigen Adleraugen, wenn er etwas fragte, bei gesenkter Stirn über den schwarzen Rand des Glases. Da sie alle rauchten, der Stil der 347. I. D., war bald in dem niedrigen Keller so dichter Qualm, daß Major Rennhöfer, der nur ab und zu, der Gesellschaft halber, eine Zigarette anzündete, anfing zu husten und die Möglichkeit eines Rauchabzuges mit Vizewachtmeister Fiedler besprach. Sie suchten, die trockenen und kahlen, dunklen Keller möglichst wohnlich zu gestalten. Die Burschen und Ordonnanzen waren bei der Arbeit, Verschalungen herzurichten. Im Anbau hatten sie dazu Türen ausgehängt und Wandschränke herausgerissen. Ab und zu blickten wohl einmal wegen des Lärmes beim Hämmern die Arbeitenden mit gerunzelter Stirn vom Tisch auf, aber was bedeutete das gegen das Donnern, Schmettern, Krachen der englischen Granaten, die in den Hof in Flandern fielen. Es war nicht ein Streufeuer, wie es einst hier und da in den Park geschlagen, es blieb nicht mehr bei jenen »zwei Lagen« vom letztenmal, nein, nicht anders als eine planmäßige Belegung konnte man es nennen. Jedesmal, wenn es oben in das Dach schlug, ging die Erschütterung durch alle Mauern. Am stärksten, als ein Teil des Dachgerippes zwischen jene Sandsackmauer, die Splitter von den Kellerluken abhalten sollte, und die Hauswand stürzte. Dem Krachen und Brechen von Balken, dem Ausstoßen mit hellem Singen der Balkenenden folgte der rasselnde Donner niederprasselnder Steine, dann ohne Ende ein Schütten, Rollen, Poltern, die Wände hinab, bis es rieselnd erstarb. Man hatte die Öffnungen mit Stroh und Matratzen verstopft, da sie aber eingedrückt wurden, mühten sich nun die Soldaten, dort Bretter vorzuklemmen und sie mit Hölzern und Stangen zu verspreizen. Sägen knirschten, Hämmer klangen. Allmählich entstand zwar eine Reihe von Verschlägen, immerhin ein paar der Offiziere mußten im gleichen Raume schlafen. Nur der Divisionskommandeur bekam einen Keller für sich, den die Burschen bemüht waren, wohnlich zu machen. Sie hatten die Wände mit Vorhängen bespannt und waren dabei, an der Decke eine Art Zeltdach zu errichten. Doch es fehlte am Notwendigsten: an den Nägeln. Der Kriegsgerichtsrat schimpfte gegen Oberleutnant von Gereck, warum man nicht längst aus dem »Sauloch« fort wäre, er könne nicht arbeiten hier; denn der Plan, nach La Grenouillère umzuziehen, hatte sich schon herumgeredet. Aber der Oberleutnant, der sich immer mit ihm neckte, antwortete ruhig:

»Na, dann verurteilen Sie mal einen weniger.«

Doch jener antwortete gereizt, denn der sonst tüchtige und gute Mann hatte bei der »Schießerei« die Nerven verloren:

»Was ist das für eine lächerliche Anschauung! Als ob man nur immer zum Tode verurteilte.«

Der Ordonnanzoffizier lächelte zwar nur, aber die französischen Mädchen drüben schienen nicht anders zu denken. Es war, als hielten sie sich wirklich für zum Tode verurteilt. Die dicke Köchin lag auf ihrem mit den Mädchen heruntergeschleppten Bett, den Kopf unter dem Kissen. Jeanne saß in einer Ecke, den Kragen ihrer Winterjacke, ein Erbstück von Madame, hochgeschlagen, die Füße in den Lackschuhen von sich gestreckt, die Augen geschlossen. Sie verfluchte den ganzen Krieg, und wie sie jetzt die Füße einzog, denn in den durchbrochenen Strümpfen begann sie zu frieren, wandte sie sich an Nicolette, mit der sie nur zu sprechen pflegte, wenn Henriette Germallevoit geborene Avoine nicht da war. Mit den drei blonden Mägden war ja überhaupt nicht zu reden: Sie saßen regungslos gegenüber auf einem Lager, das sie jetzt zu dritt teilen sollten, die dicken roten Arbeitsarme auf die Knie gestützt, und steckten die Köpfe zusammen, wie Vögel an einer Schnur. Nur wenn es draußen krachte, duckten sie sich, als wollten sie dem Eisen- oder Steinhagel ausweichen, der über sie wegging. Nicolette saß lächelnd da, denn durch einen Spalt konnte sie Kühnscherf sehen, zu dem sie sich im Laufe der Monate bekehrt hatte, wie er ihr Zeichen machte, während er ein Brett zurechtsägte. So hörte sie kaum auf das, was Jeanne ihr ins Ohr sprach: Man solle Frieden schließen. Sie habe die Granaten satt. Wie käme sie überhaupt dazu. Sie hätte ja schon in Paris kündigen wollen. Wenn sie zu Madame Menier-Cressy gegangen wäre, säße sie nicht hier in so unmöglicher Lage. Überhaupt dieses ganze »Nord«, wo die Leute so schlechtes Französisch sprächen und keine Zivilisation hätten! In dem feuchten Klima bekäme man Rheumatismus. Doch Nicolette, die hier geborene, meinte spitz, sie könne Leute aus dem Midi nicht vertragen, und es gäbe keine reichere, schönere Gegend auf der ganzen Erde als Artois und Flandern. Dann sagte sie mit dem Zischen und aller Härte ihrer Gegend, die Pariser sprächen schlecht, das wahre Französisch redete man hier. Doch jetzt donnerte es draußen so fürchterlich, daß Jeanne sich die Ohren zuhielt und zu Nicolette sagte, um den Preis, daß nur der Krieg zu Ende wäre, möchten die Deutschen ihretwegen hier bleiben. Man solle ihnen das Land ruhig überlassen. Frankreich bliebe doch das reichste, größte, stärkste, schönste Land der Welt. Das dumme Département du Nord könnte es ruhig entbehren. Übrigens hätten die Boches ja doch nur den schlechtesten Teil und nur wenige Meilen davon besetzt. Nicolette legte die kleine, schmierige Hand an den Mund und flüsterte, was sie vielleicht von ihren Eltern, Bergleuten aus Courrières, gehört hatte:

»Gewiß! Ob die Deutschen hier regieren oder wir, ist gleich, das arme Volk muß sich schinden. Was haben wir von der Republik? Das Geld stecken sie ein, die Abgeordneten und die Advokaten in Paris. Ob es nun » Le Kaiser« bekommt oder Poincaré, wir haben es nicht. Drum kann's uns ganz gleich sein, ob wir Franzosen heißen oder Deutsche!«

Im Nebenraum drüben schritt Baron de Battaignies unablässig auf und nieder, im wirren grauen Haar, im Pelz, ein Tuch um den mageren Hals, und nur bisweilen blieb er stehen und lauschte auf das Heulen und Krachen rundum. Claire lag in der Ecke, in Decken gehüllt, aus denen ein Rosenkranz niederhing. Madame de Beaucourt saß in einem Stuhl aus ihrem Zimmer, davor das Daunenkissen, auf dem Major von Esserte gekniet. Mit erhobenem Kopf, kaum die Lider einmal schließend, starrte sie aus ihren großen, dunklen Augen in die Leere des Kellers. Er hatte ihr versprochen zu kommen, und die Granaten waren dazwischen gefahren. Da klopfte es. Laetitia zuckte ängstlich auf und blickte zur Tür, doch als sie Major Rennhöfer erkannte, sank sie in ihre Stellung zurück. Der Divisionsadjutant wollte in immer gleichbleibender Liebenswürdigkeit wissen, ob oben noch etwas wäre, das in einer Feuerpause gerettet werden könnte. Claire richtete sich auf und fragte angsterfüllt:

»Wird es denn nicht bald aufhören?«

Der Major scherzte: da müsse sie ihre Bundesgenossen fragen. Sie sank unwillig wieder zurück. Baron de Battaignies aber meinte mit großer Würde voller Beherrschung: nun so sei eben der Krieg und nichts dagegen zu machen. Laetitia fragte, wie es aussähe. Major Rennhöfer antwortete, rein von soldatischem Denken ausgehend: nun, je mehr entzwei ginge, desto besser, jetzt sei doch wohl alles dem Untergang geweiht. Da fuhr Claire empört auf: sie schien das für eine deutsche Rohheit zu halten. Major Rennhöfer lächelte nur: gewiß, denn wenn dieser arme Hof nun einmal dem Untergang geweiht sei, dann könne man nur wünschen, die Trümmerdecke wölbe sich möglichst hoch über den Kellern, damit auch schwerere Kaliber sie nicht durchschlagen könnten, es sei denn, es kämen einmal ein paar von den ganz großen geschwirrt. Der Baron fragte, gleichsam als alter Soldat, mit was sie jetzt schössen? Der deutsche Offizier antwortete, bisher wären es wahrscheinlich nur Feldgranaten oder doch mittlere höchstens gewesen. Mit etwas erkünstelter Ruhe, wobei er nur einmal eine Pause machte, als draußen ein neues Krachen klang, Claire zusammenfuhr und Madame de Beaucourt unbeweglich blieb, sagte der alte Patriot:

»Mein Herr, den Teil des Hauses, in dem wir schlafen, hat erst mein Großvater umgebaut. Der Anbau über den alten Kellern ist noch viel jünger. Sollte das zerstört werden, so blieben immer die uralten Mauern dieser Ferme, wie sie heute heißt, dieses château, wie man sie vor Jahrhunderten nannte, dieses manoir, das sie in alten Zeiten gewesen ist. Vielleicht könnte man dann einmal Ralinghien in alter Gestalt wieder erstehen lassen, mit dem Wassergraben, wovon der Teich drüben ein Rest ist. Das ist nur eine Geldfrage, und da einmal nach menschlicher Voraussicht mein Schwiegersohn hier mein Nachfolger werden wird …«

Laetitia fuhr dazwischen: » Ah mais non!«

Er sah sie einen Augenblick groß an, dann fuhr er, ohne sich irre machen zu lassen, fort:

»... wenn er auch in Beaucourt oder Paris leben sollte, so kann der das einmal ersetzen. Verstehen Sie, mein Herr? Ein anderes tut mir weh. Hier sind Bäume hundert und mehr Jahre alt, hier ist ein Garten, ein Park liebevoll gepflegt. Dinge, mit denen mein Leben verknüpft ist, wie draußen die Rhododendren, wie die Wellingtonie, die mein Vater gepflanzt hat, die Thuyen, die ich setzte. Soll das alles vernichtet werden? Das alles weggeweht durch den Hauch von ein paar schrecklichen Kriegsmonaten? Bauen kann man in einem Jahr. Das Großwerden von Bäumen erlebe ich nicht mehr, ja erleben meine Kinder nicht. Das tut einem weh. Ich habe diesen Park nicht gekauft, als ich genug Geld verdient hatte, wie die Industriellen, meine Herren Nachbarn. Ich habe diesen Park von meinen Vätern übernommen. Wenn er zerstört würde, so wie drüben in Opendaele die alten Bäume, die man früher von hier aus als Wald sah und die heute nichts sind als Gestrüpp, dann möchte ich lieber nicht mehr leben.«

Der kleine alte Patriot schritt erhobenen Hauptes in seinem Pelz, die Schalenden nach hinten baumelnd, auf und ab. Madame de Beaucourt fragte:

»Ist der général zurück? Ich glaube, Err von Esserte at ihn begleitet.«

»Sie sitzen drüben bei der Arbeit.«

»So, ich abe nicht geört seine Stimme.«

Dann fragte sie neugierig, wie sie immer alles mißtrauisch verfolgte:

»Sagen Sie, warum schießt man so?«

»Wahrscheinlich aus Ärger, daß wir ihnen Gräben genommen haben.«

Langsam stand Claire auf, blickte ihn mit starren Zügen an und sagte ruhig, das sei nicht wahr. Der Major verbeugte sich spöttisch: sie sei liebenswürdig wie immer. Aber Claire antwortete nur wie seherisch verzückt:

»Sie kommen, sie kommen!«

Major Rennhöfer verbeugte sich:

»Jawohl, die Granaten!«

Und als sollte es wirklich die Antwort sein, krachte, schmetterte, donnerte es, über ihnen klang ein Poltern und Schütten, als stürze die Wölbung ein.

Überall hatten sie den Einschlag vernommen. Die Pferde webten unruhig im Stall. Die Köchin schrie laut auf. Jeanne blickte todesstarr zur Decke, als müsse die herunter kommen. Die Offiziere, die Schreiber, die Telephonisten, die Burschen, die Ordonnanzen hoben die Augen von ihrer Arbeit. Bei der kargen Beleuchtung, denn Licht mußte gespart werden, sah man, wie durch die Räume ein Dunst zog, eine Wolke schwebte. Nicht Zigarrenrauch, nein Kalk, Ziegelstaub, Pulverqualm. Dann war alles ruhig. Dem Generalstabsoffizier kam der Gedanke an Laetitia, die er noch nicht erblickt. Da nun Meldungen nicht einliefen, der Gegner nur herumstreute wie so oft, sagte er zum Generalleutnant:

»Exzellenz, man sollte doch die Häupter seiner Lieben mal zählen.«

Er ging zum Stall. Die Stute wieherte leise und entblößte spielend die Lefzen. Er klopfte ihren Hals. Draußen fragte er nach den Leuten. Niemand fehlte. Die Decken hatten gehalten, nirgends war auch nur ein Splitter eingedrungen, nur Qualm und Staub erfüllte alle Räume. Luken und Fenster mußten dichter verschlossen werden. Als nun der Major auf seinem Gange durch das Haus an der Tür der Franzosen vorüberkam, sah er drin Baron de Battaignies, der zu Claire niedergebeugt, ihr Mut zuzusprechen schien. Laetitia huschte heraus, als habe sie ihn erwartet. Sie zog hinter sich die Tür zu und in dem Dunkel des Vorraums fühlte er ihre Arme um seinen Hals, und ihren zitternden Mund den seinen suchen. Er fragte, ob sie Angst habe. Sie hielt ihn umschlungen: niemals bei ihm. Und sie hing sich an ihn, sie wollte ihn nicht fortlassen, der zurückdrängte zu seiner Pflicht. Da sagte er dunkle Worte, er habe Gewaltiges draußen erlebt, habe Kraft gewonnen, den Sieg errungen über sich selbst. Und sie ließ ihn los. Sie bat ihn um Verzeihung: » Pardonne moi!« Er öffnete die Tür. Zwei traurig demütige Augen tauchten in zwei feste und klare. –

Mit diesem gewaltigen Einschlage schien es vorbei, wie ein Gewitter, das sich in einem letzten Donner entlädt.

Die Granaten entfernten sich mehr und mehr den Park hinaus, »Kleinholz machend«, wie die Herren es nannten. Die Türen wurden geöffnet, daß Qualm und Rauch abzöge. Wie aus der Arche Noah steckte Major Rennhöfer den Kopf ins Freie, hielt scherzhaft die Hand hoch und rief:

»Es regnet nicht mehr!«

In der Ferne freilich klang noch immer ein Dröhnen, Platzen, Bumsen, Schmettern, Krachen auf dem Untergrund jenes endlosen Rollens, das jetzt Tag und Nacht die Musik der Stunde war. Durch die offene Tür strömte neblig frische Nachtluft herein. Man sah den Austausch des Schwefel-, Staub- und Zigarrenrauch geschwängerten Innenqualms mit reinen feuchten Nebelschwaden, und die Wärme drin von Abgeschlossenheit, Lichtern und atmenden Menschen wich der Kühle der Nacht. Nun kamen sie alle herausgekrochen wie aus einem Dachsbau. Jeder wollte sehen, was oben geschehen sei, und jeder hatte noch irgendeinen Wunsch, etwas zu retten, das in der Eile liegen geblieben war. Laternen, Taschenlaternen, Lichter leuchteten die Treppe hinauf voll Ziegelstaub und Schutt. Major Rennhöfer hob ein Sprengstück auf und erklärte:

»Zwölf cm

Wo man Splitter, einen Granatboden, einen Zünder fand, wurde er geprüft. Daß er fast immer von Feldgeschützen war und höhere Kaliber als 15 nicht festgestellt wurden, brachte sie in gute Laune. Ein paar der Leutnants haschten sich wie die Kinder über den Treppenabsatz, der bis auf herumgeworfene Ziegel, ein Sprengstück und knisternde Glassplitter unversehrt schien. Der Anbau freilich, der beiden Majore Zimmer, hatte »ausgelitten«, wie Oberleutnant Gereck sagte. Mit hochgehobenen Laternen drängten die Herren heran. Ein Teil des Daches war abgerutscht und saß wie der von seiner Kiste gefallene Deckel auf den Sandsäcken auf. Die Mauern lagen in sich zusammengebrochen. Zwischen ihren gezackten Resten wölbte sich in der Tiefe ein Hügel von Steinen, Balken, Schutt Möbeln, zerdrückten Wandschränken über der Betondecke der Pioniere. Drüben am Ende des Ganges stand unerreichbar die hohe, kahle Brandmauer mit ihren Tramlöchern, daraus die Kopfenden der Hölzer ragten, abgebrochen wie ein fauler Zahn. Die Zimmer zweier Stockwerke verrieten sich in verschiedenfarbigen Tapeten an der Wand. Als nun Lichtkegel darüber irrten, leuchtete, allein unversehrt in dieser vollkommenen Vernichtung, ein Bild: Die helle Gestalt des Heilands, von mattem Schein das Haupt umstrahlt, vor der auch die Granaten wie durch ein Wunder Halt gemacht hatten. Nächtliche Nebel wehten Weihrauch gleich über die so einzig geschmückte Wand, und durch die Dünste zuckten gen Westen Lichter auf, draußen an der Front, wo die Raketen das dritte Reich ableuchteten.

Als die Herren schweigend zurückwichen in das Treppenhaus, dessen halbes Dach aufgeblättert schien, als öffne sich hier ein Künstlerwerkstattfenster, stieg, eine Kerze in der Hand, eine Gestalt die Stufen herauf, eine Gestalt in weißem Haar und weißem Bart, unbewegt das ernste, feierliche Antlitz: Der Besitzer dieses jäh zerstörten Hofes in Flandern wandelte durch sein vernichtetes Heim. Major von Esserte geleitete die beiden Damen. Soweit man noch gehen konnte, denn vom Boden des Ganges hingen nur noch ein paar kurze Tramme, rätselhaft schwebend in der Luft, wie die Schienenschwellen der Bahn vor Ralinghien, dem Dorf. Da trat der alte Patriot heran, in seinem, von rotbraunem Staube beschmutzten Pelz, um den Hals das Tuch, unter dem man die Kragenlosigkeit ahnte. Als nun ein paar der Offiziere den vereinten Schein ihrer Taschenlaternen hinüberfallen ließen auf die Wand, wo der Herr rätselvoll auf den Fluten wandelte, klang Claires Stimme, man sah ihr geisterhaft verzücktes Gesicht:

» Le Christ sur les flôts.«

Baron de Battaignies aber wendete sich ab, biß die Zähne aufeinander und sagte achselzuckend mit anteillosem Gesicht:

» C'est la guerre.«

Dann schritt er den Gang hinunter, knirschend und krachend auf Glassplittern, denn den Granaten waren alle Fensterscheiben zum Opfer gefallen, und verschwand in seinem Zimmer. Claire blieb stehen. Sie schien zu beten vor dem Bilde Christi auf den Fluten des galiläischen Meeres, vor dem Wunder des Stifters der Religion des Friedens und der Liebe, der alle jene Völker angehörten, die sich hier zerfleischten, Tag um Tag und Nacht um Nacht.

Madame de Beaucourt sagte zu Major von Esserte, während die letzten der Herren den Gang hinab verschwanden:

»Monsieur bitte elfen Sie mir tragen meine Sachen.«

In ihrem Zimmer standen die Wandschränke offen. In den herausgezogenen Fächern des Schreibtisches lagen Briefe. Herr von Esserte riet, sie solle die Schriften forttun, doch sie lächelte:

»Jeder kann lesen. Ich abe nichts, was ich muß verstecken.«

Sie ergriff seine Hand und sagte unvermittelt, sie sei in ihrer Ehe nie einen Schritt vom Wege abgewichen. Nicht, weil sie ihren Mann nicht habe betrügen wollen, nein, diesem kleinen Ehebrecher ihrerseits Hörner aufzusetzen, würde ihr nichts als Vergeltung bedeutet haben. Aber sie sei eben jenem nicht begegnet, bei dem alles in ihr gesprochen hätte: Für diesen tust du es. Wenn sie also den Betrüger nicht betrogen habe, so sei das kein Verdienst. Nein, sie wolle sich achten nach ihrer Weise. Sie hielt ihn fest und fragte, was er damit gemeint, er wolle sie später »achten können«. Wenn sie ihn liebe und er sie, so wären sie doch frei, zu tun, wozu das Herz sie triebe? Ehe er antworten konnte, umschlang sie ihn und vergrub in rasender Leidenschaft die Zähne in seinen Hals.

Ihn bewegten jene Gedanken, die er gestern am Grabe des Kameraden wie eine Reinigung geäußert, und doch erfüllte ihn eine große Seligkeit. Ein Bild der Zukunft schwebte vor seinen Sinnen, eines, dafür er hier zu kämpfen hatte neben all seinen Kameraden: Den Sieg ihnen, seinem Volke, sich. Und es war, als ob dieser militärische Rechner, über sich selbst gehoben, den Sieg seines Vaterlandes erblicke, durch seine Arbeit mit erfochten und damit seine eigene, selige Zukunft. Das gab ihm die Überlegenheit dessen, der sein Ziel kennt. Er löste ihre Hände, nahm Kleidungsstücke, die sie rasch zusammengelegt, auf den Arm, und sie, die ihn behalten wollte, gehorchte als eine, die sich der stärkeren Kraft beugt. Er stieß die Tür auf und rief nach dem Burschen mit der hellen Kommandostimme, die einst das Getrappel der sechshundert Hufe seiner Schwadron überschallt. Als das Weib den Befehlston vernahm, wie sie ihn noch nie von ihm gehört, war sie im Augenblick gewandelt, gebändigt, unterjocht unter den Willen des Mannes, der nicht mehr Madame sagte, nicht Laetitia flötete, an dessen Brust sie nicht besinnungslos lag. Sie war nicht mehr die französische Frau, die der Männer Huldigung entgegennimmt, sondern eine Deutsche: Freundin, Gefährtin, Kameradin dessen, der ihr einst Freund, Gefährte, Kamerad sein wollte.

Kinzig kam gelaufen. Der Major gab ihm die Sachen. Kühnscherf folgte, Klostermann und die Ordonnanzen. Sie trugen Stühle, häuften alle kleinen Gegenstände auf Decken, die sie zusammenschlugen und hinabschleppten, wie einen armen Kameraden in der Zeltbahn. Vor fast leerem Zimmer fragte Laetitia:

»Muß alles fort? Ich komme nicht zurück?«

»Die Granaten werden wiederkehren.«

»So wird alles zerstört?«

»Ich denke. Opendaele ist hin. Nun kommt Ralinghien, das Dorf, an die Reihe, und die Ferme. Die Schlösser, die Höfe, die Dörfer der Feuerlinie werden sie niederlegen eines nach dem anderen.«

Sie preßte die Lippen zusammen:

»Und es war doch meine Eimat!«

»Sie werden eine neue gewinnen.«

»Und wann das?«

»Wenn wir dem Gegner unseren Willen aufgezwungen haben. Wenn mein Vaterland wieder Frieden hat, den es immer nur gewünscht; denn, Gott im Himmel zum Zeugen, wir haben diesen Krieg nicht gewollt. Wir haben ihn kommen sehen, und wären gewissenlos gewesen, uns nicht auf ihn vorzubereiten mit aller Kraft unseres Volkes, unserer Wirtschaft, vor allem aber mit unserer ganzen deutschen Seele. Wir haben diesen Krieg nicht gewollt.«

Die Leute fragten, ob er noch Befehle habe. Er wandte sich zu Madame de Beaucourt:

»Gnädige Frau, soll noch etwas hinuntergebracht werden?«

»Nein, ich danke.«

»Dann bitte, gehen Sie hinab. Es wäre möglich, daß die Feuerpause nicht anhielte. Wir müssen noch die anderen Zimmer ausräumen.«

Sie gehorchte. Die Soldaten machten Platz und sie schritt zur Treppe in ihrem liebreizenden, schwebenden Gang, nicht viel anders, als die einfache, blonde, deutsche Schwester drüben im Kriegs-Lazarett 1 in Bobines. Major von Esserte blickte ihr glücklich nach. Er hatte überwunden. Und in seiner Hochstimmung sprach er leichter französisch als sonst und stellte dem Baron artig die Soldaten zur Verfügung, falls er noch etwas gerettet haben wollte. Der dankte, als möchte er deutsche Hilfe nicht in Anspruch nehmen. Aber Major Rennhöfer kam lächelnd mit allem seinem Schwung, seinen Redensarten und ließ einfach alles ausräumen. Nicht Großindustrieller nannte er sich allein, nein, auch Haushofmeister. Und Claire war ihm dankbar, als er den Betschemel, eine Figur der heiligen Jungfrau und den Christus über ihrem Bett abnehmen ließ, wobei sie wie ihre Schwester fragte, ob es wirklich notwendig sei. Er wiederholte nur kurz, französisch diesmal, sein Wort, mit dem er am Abend den Generalleutnant ins Haus geleitet hatte:

»Nun geht's los!«

Dann bot er in einer artigen Weise, der keiner widerstand, Mademoiselle den Arm, um sie über die Glassplitter, die unter ihren Tritten krachten, zur Treppe zu geleiten. Der Major wußte auch, womit er den alten Patrioten gewann:

»Kommen Sie, wir werden unten in den Zimmern, die Sie die Liebenswürdigkeit hatten, uns zu überlassen, noch dieses und jenes finden, etwa Familienbilder, Andenken aus alter Zeit, das vielleicht dazu dienen könnte, Ihre Räume unten wohnlicher zu gestalten.«

Die kräftigen Arme der deutschen Soldaten trugen, schleppten wie bei einem Umzuge. Auch das Bild der Madame de Beaucourt war dabei, das über dem Arbeitsplatz des Herrn von Esserte den kleinen Zwerg im Barte ersetzt hatte. Als es kahl geworden war, denn der Baron wollte nun plötzlich alles gerettet haben, holte er noch selbst ein kleines Lichtbild, den mäßigen Abdruck eines bekannten Gemäldes: ›Napoleon Bonaparte überrascht im Morgendämmern einen Posten, der an einem Strohhaufen eingeschlafen ist.‹ Dabei sagte er:

»Wenn wir den gehabt hätten, mein Herr, stünde es anders um uns!«

»Mein tiefstes Bedauern, mein Herr, daß er einem anderen Geschlecht Franzosen angehört hat, und nun im Invalidendome, à toutes les gloires de France geweiht, im bläulichen Lichte tot in seinem Sarkophage ruht!«

Als sie zum Keller hinunterstiegen, fragte der alte Franzose genau wie seine Töchter:

»Glauben Sie, daß das wirklich notwendig war? Soll wirklich diese alte Ferme, dieser Hof in Flandern, seinem Untergang entgegengehen?«

Nichts mehr von dem halbspöttischen Ton, mit dem Major Rennhöfer seine französischen Redensarten umherschleuderte, klang aus der Antwort:

»Wir Barbaren haben auch ein Herz, mein Herr. Ich habe keinen so schönen Besitz wie Sie, ich bin bei uns zu Haus nur ein einfacher, armer Soldat, der sich für sein Vaterland gern totschießen läßt. Aber glauben Sie, wir können nicht mit Ihnen fühlen? Die schwere Notwendigkeit des Krieges macht unsere Mienen, unsere Worte hart. Und doch hat Exzellenz oft zu mir gesagt: »Gott, wie mir die armen Leute leid tun!«

Dem alten Patrioten waren die Augen naß geworden:

»Hat er das wirklich gesagt?«

Er blieb stehen und sprach in tiefer Bewegung:

»Ich möchte nicht, daß die Engländer hierherkommen, denn meine Vorfahren haben oft genug gegen sie gekämpft. Aber ich möchte, daß die Trikolore wieder hier im Lande weht. Ich möchte, daß Sie vertrieben werden, die Sie eingedrungen sind in mein Vaterland, denn ich bin Franzose. Doch Gott würde ich bitten, er solle Sie, mein Herr, und Seine Exzellenz und alle, die hier bei mir im Hause sind, in seinen gnädigen Schutz nehmen, denn Sie üben Menschlichkeit und ich sehe ein, daß Sie hier nichts tun als Ihre Pflicht gegen das Vaterland. Ich wünsche Ihnen allen aus vollem Herzen, Sie möchten lebend aus diesem furchtbaren Kriege hervorgehen, der gewiß seinesgleichen in der Geschichte der Völker nicht hat. Gott, der Allmächtige, möge Ihnen und uns gnädig sein.«

Der erwartete Angriff war nicht erfolgt. Erstaunt verkündete es der Fernsprecher von allen Seiten. Unteroffizier Rosenthal, der Telephonist, machte schon glückliche Augen, nun kam er vielleicht doch noch hinaus in den Schützengraben. Immerhin blieb das Haus zerstört, und der Divisionsstab mußte verlegt werden, schien es doch wenig wahrscheinlich, daß eine derartige Beschießung reiner Zufall gewesen sei. Bei Tisch wurde darüber gesprochen. In jenen Kellerräumen, wo die Herren schliefen, hatte man Bretter über Holzböcke gelegt, das ersetzte den Eßtisch. Ein paar Kerzen blakten und zuckten darauf, denn der Petroleumvorrat war verschüttet worden. Es schien, als sollte dieser Hof in Flandern nun dem Ende entgegengehen. Major Rennhöfer meinte, wenn es einmal sein müßte, würde es ihm schwer werden, von hier zu scheiden. Der Generalleutnant nickte nur, vielleicht könne man den Gefechtsstand der Division herlegen, aber wenn es morgen früh einigermaßen ruhig wäre, wollte er sich einmal La Grenouillêre anschauen. War man nun auch sonst gewohnt, daß Major von Esserte meist ein schweigsamer Gast blieb, so fiel doch dem General eine Art Verträumtheit seines Wesens auf, und er fragte seinen Generalstabsoffizier leise, ob ihm etwas fehle? Der fuhr auf, als wäre sein Geist in Südwest gewesen bei längst verwehter Vergangenheit:

»Nein, Exzellenz. Ich dachte an die Änderungen, die sich jetzt notwendig machen werden.«

Aber der General hob die Tafel auf:

»Lieber Esserte, zerbrechen Sie sich darüber nicht den Kopf. Das steht ja alles noch völlig in der Luft. Wollen Sie mal meine Schlafkoje sehen, wie nett die ist?«

Man hatte sich erhoben. Der Generalleutnant zog sich zurück. Die Herren verbeugten sich. Im Vorbeigehen reichte er dem Kriegsgerichtsrat die Hand und verschwand, gefolgt vom Major von Esserte, der hinter ihm dreinschritt, den Kopf gesenkt, denn wenn es dunkel war, mußte er bei seiner Kurzsichtigkeit immer auf den Boden blicken. Draußen im Gang vor den Kellern leuchtete Vizewachtmeister Fiedler. Der General fragte freundlich:

»Sind denn die Leute einigermaßen untergebracht?«

»Sehr gut, Exzellenz.«

»Ich wollte noch einmal nach den Franzosen sehen, aber die Damen schlafen wahrscheinlich schon!«

»Die Damen unterhielten sich eben noch mit ihrem Vater, Exzellenz!«

»Dann melden Sie mich mal, Fiedler.«

Der Generalleutnant erkundigte sich, ob auch der Posten instruiert sei, daß er sich bei etwa eintretendem neuen Feuer decken dürfe. Während Herr von Esserte hinausging, es dem Manne selbst zu sagen, trat Generalleutnant Greger bei den Franzosen ein. All die Gegenstände, die man von oben heruntergebracht hatte, lagen noch umher und die Battaignies saßen wie Abgebrannte auf den Trümmern ihrer Habe. Der Generalleutnant stellte zum Räumen Ordonnanzen zur Verfügung, denn die Mädchen seien, wie er gehört habe, krank vor Schrecken. Er fragte, ob sie nicht fort wollten? Madame de Beaucourt wehrte sich gegen den Gedanken, und ihr Vater erklärte, wenn auch das ganze Haus zusammenbräche, so wolle er lieber unter den Trümmern begraben sein. Der General fragte, ob man denn gegessen habe, und als dies ein wenig verlegen verneint ward, schied er mit der Bitte, von ihm das Essen anzunehmen.

Ein paar Minuten darauf trugen die Ordonnanzen einen gedeckten Tisch herein, und während die drei in dem einen Raum aßen, legten drüben die Burschen mit deutscher Gründlichkeit Wäsche und Kleider der Damen sorgsam zusammen, stellten Bronzen, Figuren, Vasen militärisch in einem Glied der Größe nach auf und breiteten Teppiche aus. Kühnscherf und Kinzig machten die Betten: Jeanne, die sich endlich aufgerafft, wurde hohnlachend hinausgeworfen. Als dann Baron de Battaignies mit seinen Töchtern eintrat, war der unwohnliche Keller zu einem etwas phantastischen, aber gemütlichen Raume umgewandelt. Der alte Patriot wandte sich ab, griff in seine Tasche, suchte, blätterte und gab Kühnscherf einen Zehn-Francs-Schein. Dabei hatte er doch bis dahin niemals französisches Geld besessen!

Die Nacht blieb ruhig. Am anderen Morgen aber, als kaum der Tag zu grauen begann, zischten, heulten, fauchten wieder die englischen Granaten in die schönen alten Bäume hinein. Nur ein Geschoß fiel in den Hof und warf das Dachgerippe der alten Scheune zusammen. Der Fernsprecher arbeitete, aber auch vorn schien die Nacht ziemlich ruhig gewesen zu sein. Wohl hatten einmal Maschinengewehre eine Sappe abgegrast; einzelne Stellen, wo der Gegner meinte, es würde gearbeitet – man kannte sie schon – wurden immer, meist mit Schrapnells, beunruhigt; gegen Morgen hatten sie die Yperner Straße belegt; die üblichen Minen taumelten, fraßen ein paar Mann, wie denn jeder Tag Opfer forderte in diesem scheinbar stillen, öden Stellungskriege; aber als es nun wirklich anfing, hell zu werden, rührte sich nichts mehr.

Die Sonne kämpfte lange mit den Nebeln, rang sie nieder, und so schön war noch kein Tag gewesen. Er versprach auch der erste wirklich warme zu werden. Der Frühling schien über das französisch-flandrische Land zu kommen.

An diesem Morgen, wenn es sich auch keiner gestand, fühlten sich alle entlastet von dem Geschoßhagel. Ja, man ging mit dem Gedanken um, hier zu bleiben: Man war gewöhnt an den alten Hof. Die Keller waren schon ganz behaglich geworden und jeder, der nicht dienstlich zu tun hatte in dem Augenblick, mühte sich, sie noch angenehmer zu gestalten. Es wurde gerückt, geklopft, geschoben, geordnet. Jeder hatte sich den Koffer an sein Lager gestellt. Die Pferde hatten wärmere Ställe denn je zuvor, sogar die Kraftwagen waren untergebracht. Bald strömte alles hinaus, vom gleichen Gedanken getrieben: Man wollte die Zerstörung sehen, die durch die letzte Beschießung angerichtet worden war. Da stand der alte Hof, jetzt genau in seinen drei Teilen zu unterscheiden. Jener Bau des Großvaters mit den Schlafzimmern der Familie war noch völlig unversehrt. Im Treppenhaus gähnte die von einer Granate gerissene gewaltige Öffnung, die nachts sich wie ein Atelierfenster aufgetan. Daneben der Anbau, über dem alten Teil, der vielleicht schon Jahrhunderte in Trümmer gelegen, war völlig zerstört. Dachsparren lehnten gleich einem umgekippten Spalier. Die schwebenden Trammbalken des Ganges sahen aus wie die Sprossen einer Luftleiter. Auf der Verstärkungsdecke der Pioniere lagen, ein natürlicher Schutz, zweier Stockwerke Ziegel, Kalk, Hausteine, daraus die Hölzer zerkrachter Wandschränke in ihrem grauen, französischen Anstrich ragten. Die Abfallrohre der Dachrinnen pendelten im Wind, und durch den wilden Wein, von Efeu durchwachsen, fiel die Sonne und warf Gitterschatten auf den Rasen. An der Brandmauer aber, über jenem märchenhaft unverletzten Bilde des Christus auf den Fluten, wehte etwas gleich einer roten Fahne. Einer sagte »ein Signal« und schon hatte man die Franzosen in Verdacht, sie könnten verräterische Zeichen gegeben haben. Aber die Fahne hing innen. Offenbar war sie erst durch den Zusammenbruch des Daches entfaltet worden. Niemand vermochte das Rätsel zu lösen. Jemand meinte, es sei ein Stoff, vielleicht eine Decke, der durch die Gewalt der Entladung dorthinaufgeschleudert war. Es mochte auch der Sitz eines roten Sessels sein. Am Ende war es gar ein Umhang der Madame de Beaucourt? Endlich kam Oberleutnant von Gereck der Lösung näher. Er erzählte, sie hätten zu Haus auf dem Eßtisch eine Decke aus französischem Soldatentuch. Das sei es. Dem stimmten jetzt alle bei. Der rätselhafte Gegenstand schien eingeklemmt zwischen Holzreste der Dachverschalung; er war schmutzig von Kalk, von Granatengasen gefärbt. Major Rennhöfer, der jedes Rätsel ergründen mußte, ließ sich sein Glas holen. Und nun stand alles um einen Granattrichter, am Rondell der Einfahrt, und wartete, während er schraubte und einstellte. Endlich behauptete der Major, Gereck habe recht mit dem Soldatentuch. Es sei eine französische Uniform. Eine Hose. Auch Baron de Battaignies mit seinen Töchtern war gekommen. Er sagte sofort flüsternd etwas zu Claire. Nun erschien sogar die dicke Köchin, noch schwer krank, äugend nach allen Seiten, ob nichts geflogen käme und bereit, sofort wieder in den Keller zu flüchten. Die Mägde mit ihren roten Armen, die Röcke zerlegen von der Nacht, traten eine nach der anderen hinzu. Jeanne hielt sich zurück. Sie wollte hier nichts mehr wissen und sehen, sie wollte fort, nur fort und wäre es um den Preis gewesen, in den Dienst der Deutschen zu treten. Zuletzt erschien Nicolette, das kleine Aas, Spießruten laufend durch die Ordonnanzen und Burschen, die dastanden mit der Striegel, mit dem Hammer, mit Geschirr, das einer gerade wusch. Als das Mädchen vorschlich, beklopfte sie einer vorn, einer betatschelte sie hinten, der Dritte flüsterte ihr etwas zu. Wie ein niedlicher Straßenbengel kam sie, sich in den Hüften unschuldig wiegend, daher.

Inzwischen hatte der zweite Ordonnanzoffizier, ein flinker kleiner Dragoner, jene Leiter herangeschoben, die gebraucht worden war, um die Fernsprechdrähte zu befestigen. Seine schlanke Gestalt erschien auf den obersten Sprossen. Der Generalleutnant, im Begriffe auszureiten, hielt und drohte mit dem Reitstock:

»Daß Sie mir nicht runterklecksen. So darf man im Felde sein Leben nicht verlieren, lieber Freund!«

Aber der junge Offizier, angespornt vom Adjutanten, dem das Rätsel im Blute lag, bereit, auch Geschicklichkeit wie Verwogenheit zu zeigen, war auf die treppenartigen Giebelreste geklettert, griff zu und riß etwas heraus. Es stiebte, ein Brett polterte krachend hinab, dann sauste das Rätsel durch die Luft wie ein abstürzender Flieger und sank, während der Dragoner, die Staubwolke nutzend, ungesehen abstieg, den unten Wartenden zu Füßen. Man eilte hinzu und hob mit spitzen Fingern auf: Eine Hose, eine rote Hose, eine französische Soldatenhose.

Alles lachte. Baron de Battaignies ging langsam davon. Nicolette aber wendete das schmierige Kleidungsstück kopfschüttelnd mit dem Fuße um. Als die Offiziere schmunzelnd sich entfernt hatten, erwachte in Vizewachtmeister Fiedler, einst in Paris Torwächter des deutschen Fußballklubs, eine kindische Lust, und er gab dem Kleidungsstück mit der Fußspitze einen Stoß, daß es weit hinausflog und in einem der Granattrichter verschwand, die jetzt den armen Hof wie Wolfsgruben säumten. Sie lagen rund um das Haus, hatten die Wege zerstört, die Scheune zerschlagen und im Gemüsegarten die Beete aufgeworfen. Nur das Gewächshaus stand unberührt. Aber auch die letzte Pflanze, die bei dem Feuerungsmangel noch ihr Leben im Kalthaus gefristet, mußte nun zugrunde gehen, denn keine der Scheiben war mehr ganz. Rundum war alles mit Glassplittern besät. Auch von den Fenstern des Hauses.

Baron de Battaignies schritt durch seinen zerstörten Besitz. Hier und da blieb er stehen und zeigte seinen Töchtern einen jener Bäume, deren Geburt und Leben er kannte. Eine Blaufichte, die farbenfreudig gegen die grünen Schwestern gestanden, war ausgehoben durch die Wucht einer Granate. Herrliche Ulmen lagen in Reihen gemäht, so hoch jetzt schwebend über dem Weg, daß sie darunter hingehen konnten wie durch eine Ehrenpforte. Der alte Patriot zeigte seltene Büsche, von Sprengstücken zerfetzt. Er nahm das schwere Gartenmesser, das er immer bei sich trug, und schnitt gewohnheitsgemäß geknickte Zweige ab. Durchblicke waren durch stürzende Bäume verdeckt. Stellen, wo man sich einst im Sommer tiefen Schattens erfreut, lagen jetzt offen. Als sie dorthin kamen, wo die vielfache Baumreihe begann, die zur Kapelle führte, sagte er müde: »Nun ist alles hin!« Denn das kleine Gotteshaus war verschwunden, wie jenes droben auf der Lorettohöhe, von dem unter den Franzosen dunkle Sagen gingen. Alte Riesenbäume, ohne die nun einmal die Landschaft nicht zu denken war, Bäume, stark, daß keiner sie umspannte, lagen gleich Streichhölzern gefällt. Es schien, als habe ihre zusammenkrachende Wucht sich in den Ästen der Nachbarn eingehakt und sie so alle zu Boden gezwungen.

Wie der alte Patriot seinen Park derart verwüstet sah, fiel er völlig zusammen, schlich hin und stützte sich auf Claires Arm, die länger teilgenommen an seinem Leben als die andere. Sie blickten hinaus: Die Mühle lag noch da wie ein großes Flügeltier, aber drüben in Ralinghien, wo sie alle Umrisse kannten, fehlte etwas. Und der alte Herr sagte nur: » La ferme!", denn auch sein Pachthof, dessen Dach man immer noch gesehen, war verschwunden über Nacht. Auf der Yperner Straße gab es neue Baumlücken. In Opendaele war die Stelle leer, wo das Reithaus noch gestern gegen den Himmel gestanden.

Sie machten kehrt. An dem Teich schritten sie vorüber, in dem das halbgesunkene Boot unbeschädigt lag und die Entengrütze stinkend hinzog. Kein feindliches Geschoß hatte mit ihr aufgeräumt.

Als sie nun den Aussichtstempel unversehrt fanden, gingen sie hinein und setzten sich, die drei. Claires Haupt sank auf ihr vom Kellerleben und dem Granatenstaub beschmutztes Kleid. Laetitia blickte müde zum Himmel auf, an dem die Sonne stieg. Ihre Gedanken waren bei dem Feinde, der ihr Herz bewegt, aber jene Sinnlichkeit, die sie Jahre hindurch ehrlich bekämpft, quälte nicht ihren Körper. Sie hätte nur gewollt, alles sollte vorüber sein. Und sie träumte wieder vom Rhein, wo sie sich in ihren Gedanken die Heimat des Mannes dachte, den sie liebte, als würden sie später in Bonn leben, vielleicht unweit der Stelle, wo das gelbe alte Kloster lag. Unsinnlich ganz, gebändigt von ihm, aber auch von dem Grauen der Zerstörung, der ihr Vaterhaus anheimfiel, hatte sie diese entsetzliche Gegenwart vergessen. Und da draußen kein Schuß klang, war sie in ihren Gedanken bei ihrem Glück, von keinem geahnt, nicht von ihren Verwandten, nicht von seinen Kameraden. Da fiel ihr Blick, sich senkend unter der Blendung der Sonne, auf ihren Vater. Und sie sah, sah etwas, das die schon von nahendem Glück Träumende nicht gleich faßte: Der alte Mann weinte. Sie mußte sich erst zurückfinden in diese Welt der Zerstörung. Aber wie sie von sich wahr gesagt, sie sei im Grunde eine petite bourgeoise, zu stillem Glücke, nicht aber für Paris geschaffen, so zuckten jetzt ihre Augen. Mußte nur so etwas sein auf der Welt? Träumte sie nur? Und warum ließ er nicht los, dieser grausige Traum? Claire war ja schon halb nicht mehr auf dieser Erde. Laetitia aber hatte ein junges, weiches Herz, wenn es auch in ihrer französischen Welt nie einer zu finden gewußt. So griff das Weinen des alten Mannes an ihre Seele, daß sie mit einemmal zu Boden fiel in diesem kleinen, verstaubten, armseligen Häuschen, von den Granaten sorgfältig verschont, die Arme um ihren Vater schlang und sagte, mit einer Stimme heiser vor Tränen:

» Papa, mon cher papa!«


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