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Nur Burschen, Ordonnanzen und Schreiber, in Autos und Wagen, mit Kisten und Koffern, mit Sack Und Pack waren eingezogen. Die Herren Offiziere würden erst später erwartet, sie befanden sich tagsüber auf der Gefechtsstelle der Division. Der Herr der Ferme, der Seine Exzellenz aus Artigkeit nicht allein, sondern ebenso aus Nützlichkeitsgründen hatte empfangen wollen, zog sich denn auch bald wieder zu den Damen zurück. Sie waren gar nicht erst erschienen, sondern beobachteten hinter den Vorhängen. Den alten Baron litt es aber nicht lange im Zimmer, schien es doch vielleicht besser, die Deutschen nicht allein schalten und walten zu lassen. Seine Anwesenheit stellte sich als dringend notwendig heraus, denn die Anforderungen der Feinde, des Vizewachtmeisters vor allen Dingen, sozusagen des Quartiermeisters, gingen ins Ungemessene. Mit nichts war dieser Mensch zufrieden. Alles mußte er sehen. Jede Tür, jeder Verschlag wurde geöffnet, Boden und Keller durchsucht, im Gewächshaus jeder Winkel durchstöbert, ja ein paar alte Kübel zur Seite gerückt, als ob man darunter etwa eine Falltür vermutet hätte. Dabei waren die Palmen, die dort standen, dieses Jahr, nachdem man sie im Beginn des Feldzuges hereingeholt, aus dem einfachen Grunde nicht wieder ins Freie gebracht worden, weil die Männer fehlten, sie zu schleppen. Und jetzt kam der Winter ins Land.

Nachdem alle Zimmer mit Betten versehen waren, wobei manches Umstellen und Hin- und Herräumen sich als nötig erwies, wurden die Räume unter die abwesenden Herren des Stabes verteilt. Bald befand sich an jeder einzelnen Tür des Hauses ein Zettel mit dem Namen des Bewohners. Im Anfang waren scharfe Worte gefallen, so daß die Weiber schon verängstigte Gesichter machten und der alte Blaise sowie der Knecht sich möglichst schnell zurückzogen, aber bald schlug die gedrückte Stimmung um, als die Mädchen merkten, wie man ihnen nichts tat. Ja, die Burschen ließen sogar, wenn es galt, etwas Schweres zu heben, nicht weibliche Arme sich anstrengen, sondern gebrauchten die eigenen, die muskelstrotzend aus den aufgekrempelten Hemdärmeln schauten. Immerhin betrachtete man sich noch mißtrauisch, denn all das mochte am Ende nur geschehen, um die Aufmerksamkeit einzulullen. Der noch glimmende Funken flammte denn auch bald auf. In der Küche, wo die dicke Köchin bisher allein geherrscht, wollten die Soldaten ihren Kaffee kochen. Darüber gab es einen Zusammenstoß und Nicolette, das Küchenmädchen, tat sich dabei durch Schreien und wilde Gebärden besonders hervor. Doch der Vizewachtmeister, dieser verdammte Vizewachtmeister, der sich in alles und jedes mischte schmiß kurzerhand das ganze Weibsvolk hinaus.

Sie riefen Monsieur zu Hilfe. Mit flammenden Augen stand er vor dem Husaren, der so anständig aussah, daß der Franzose irre wurde: war es nicht etwa ein Offizier? Und statt grober Antwort kam der mit Boulevard-Redensarten, die Baron de Battaignies nicht allein aus jüngeren Jahren kannte, war er doch noch vor dem Kriege bisweilen über Lille nach Paris gefahren. »Um sich mal 'n bißchen aufzufrischen.« So hatte er es vor seiner Tochter Claire immer zu rechtfertigen gesucht. Nun stellte es sich heraus, daß Vizewachtmeister der Reserve Fiedler jahrelang das große Pariser Reisebureau in der Rue de la Paix geleitet hatte, wo der Herr Baron seine Schlafwagenkarte zu lösen pflegte, wenn er nach Lille zurückfuhr.

Der Baron ging sofort hinauf, es seiner Tochter Claire zu erzählen, erblickte er doch in solch alter Bekanntschaft, die ihnen in der traurigen Lage, darin alle Franzosen sich nun einmal befanden, nur nützlich sein konnte, sozusagen eine Rechtfertigung seiner einstigen, von Claire scheelsüchtig betrachteten Fahrten nach Paris.

Als sie oben am Fenster standen, kam um die Ecke der schönen breiten Allee ein graugestrichenes Auto, graue Gestalten darin, bei der einfallenden Dämmerung kaum zu unterscheiden. Einer im grauen Umhang erhob sich. Der Posten vor dem Eingang unter dem Glasdach präsentierte. Drei andere Offiziere stiegen noch aus. Der Kraftwagen fuhr davon, auf dem Trittbrett Vizewachtmeister Fiedler, um den Weg zum Stall zu zeigen. In einer halben Minute war alles geschehen. Ein zweites und drittes Auto brachte noch mehr Offiziere. Schon vernahm man auf der Treppe Tritte und Stimmen als gehöre das ganze Haus ihnen.

Und wieder in dem ewigen Schwanken dieser von der Welt völlig Abgeschlossenen wechselten die Stimmungen: trübe Verzweiflung kam über die drei Menschen. Während die Dämmerung immer tiefer niedersank, daß man bald nur noch Umrisse erkannte, getraute sich keiner Licht zu machen, so lähmend lag das Unglück, das »Feind-im-Land« auf ihren armen Seelen. Sie bekamen keine Zeitung bis auf die paar deutschen Blätter, die sie durch Soldaten einmal erhalten hatten, oder der Illustrierten Blätter, darin sie Abbildungen sahen der boches, wie sie kämpften und arbeiteten, wie sie zerschossene Forts erobert hatten und Gefangene gemacht. Waren Franzosen dargestellt, so saßen die drei beisammen und suchten mit dem Vergrößerungsglase, ob nicht etwa Bekannte darunter wären. Die deutschen Zeitungen mußte Laetitia ihnen übersetzen. Dann schrien bei den Siegesmeldungen Claire und ihr Vater immer höhnisch dazwischen: » pas vrai!« – es sei nicht wahr. So ward, was die junge Frau etwa von ihrem Deutsch der Klosterzeit am Rhein vergessen hatte, wieder aufgefrischt. Ihr Wörterbuch besaß sie ja noch, um nachzuschlagen, wo ihr etwas dunkel blieb.

Eines aber lastete schwerer noch auf ihnen: Sie wußten nichts von ihren Verwandten und Freunden drüben in Frankreich. Am Hügel, darunter einer lag, dem man einst nahe gestanden in diesem Leben, konnte man beten; man hatte die Gewißheit er war tot. Sie aber, seit Monaten abgeschnitten von den Ihren, konnten nicht einmal ahnen, lebten die Lieben da drüben noch? Zwei Männer der Familie standen jenseits der Gräben im französischen Heer: Jules, der Sohn erster Ehe des Baron de Battaignies, und Laetitias Mann, der Capitaine Alfred Vison de Beaucourt. Seitdem die Deutschen vorgedrungen waren, fehlte jede Nachricht von den beiden.

Einmal hatte Laetitia gesagt: »Ich wollte, Jules und Alfred wären gefangen, daß man wenigstens durch die Deutschen etwas von ihnen hörte!« Da sprang ihr Vater, der einstige Soldat, auf, verbot der Tochter solche Gedanken, unwürdig ihrer Familie, ihres Volkes.

So saßen die drei hier, die tödliche Öde ihrer Tage nicht einmal vom Segen der Arbeit erhellt. Sollten sie den Garten schmücken für den Feind, die Felder bestellen zur Ernte den deutschen Heeren? Sollten sie Handarbeiten beginnen, gleichgültig, ewig unnütz, ein Werk, das der Krieg, dieser furchtbare Krieg, morgen vielleicht schon unterbrach? Denn eben dieses war der Fluch ihrer Tage: Die Ungewißheit, die lähmend auf allem lag. Sie hemmte jedes Werk, weil der Zweifel tätige Hände zurückhielt: kannst du es auch vollenden? Sie ließ Freude am Gedeihen nicht aufkommen, wühlte doch in jeder Seele die Frage: wirst du auch fertig damit? Die Frauen hatten versucht, für Arme und Kranke zu sorgen, aber ohne Ausweis durften sie nicht hinaus. Um den aber mochte der alte Baron die » autorité allemande« nicht bitten. Er als Franzose wollte vom Gegner nicht erflehen, was ihm nach »ewigen unveräußerlichen Rechten« zustand: die Freiheit.

Und welchen Bedürftigen hätten die Damen helfen können? Ralinghien lag abseits, die beiden Dörfer im Westen, den Gräben entgegen, befanden sich unter der lieben Bundesgenossen, der Engländer, ständigem Feuer. Rundum hatten schon bei den ersten Ypernschlachten die Bewohner ihre Häuser verlassen oder waren von den Deutschen, zu eigener Sicherheit, gezwungen worden, sie zu räumen.

Und sollte man lesen den ganzen Tag? Ihre paar Bücher kannten sie längst auswendig. Sollten sie durch Lernen ihren Gesichtskreis erweitern, die Zeit erwürgen? Baron de Battaignies war über die Jahre hinaus, da ein Geist Neues ergreift, wenn er überhaupt je die Eignung dazu besessen hatte. Claire, nun über vierzig Jahre, konnte sich einst nicht genug tun, ihren Gang schwänzelnd und schwebend zu erhalten, im Spiegel zu prüfen, ob die Linien ihrer Stellungen dem Auge wohlgefällig flössen. Sie hatte Modezeitungen studiert, hatte sich bemüht in Lille auf Bällen und Festen zu glänzen, um Sonntags in der heiligen Messe den Drang ihrer Weltlust abzubüßen. Nach dem Manne hatte sie geschielt: eine dunkle Geschichte, erschütternd wie dieser Krieg, der über sie alle hereingebrochen war gleich einer Strafe Gottes. Anders betrachtete die heute von dieser Welt Abgekehrte ihn nicht. Claire, die nur Legenden las und fromme Bücher, Claire, die auf dem Betschemel, drüben neben ihrem Bett, während der Donner der Geschütze die Scheiben erzittern ließ, zum » doux Jésus«, zur » Notre Dame des Victoires«, zum » père éternel et omniscient« betete für ihres Vaterlandes Sieg, den endgültigen, den, der längst auf dem Marsche war, und so täglich kommen mußte.

Und Laetitia? Laetitia sollte lesen? Laetitia, die einst nichts anderes getan, als mit ihrem Alfred, dem Rittmeister von den Dragonern, Pferde, Menschen, Toiletten beurteilt auf dem concours hippique, in Longchamps beim Rennen, im bois bei der Wagenfahrt, auf Bazaren, im Theater, auf den boulevards wie in Lille auf der rue Nationale. Unantastbar, aber doch zu jung, um sich zu verstecken, wenn die Blicke der Männer auf einem ruhten: » chic hein?«

Sie saßen beieinander, die drei: die fromme Jungfer, das modische Weltkind, der » papa«, einst zwischen und in zwei Ehen Freund von allem, das langes Haar trug, nun ein »Patriot«, und warteten, wie jeden Abend, auf ihr » diner«. Heute würde es hier oben sein, denn das Speisezimmer wie die Wohnräume unten hatten sie den deutschen Offizieren abtreten müssen.

Der alte Herr sprach von den neuen Gästen des Hauses. Ihn quälte gekränkter Stolz. Dieser General war in sein Haus gekommen, und zeigte sich nicht. Auch der Feind brauchte die Form nicht außer acht zu lassen. Das sagte der Baron Henri, Célestin, Guy, Charles-Marie de Battaignies, Herr auf Ralinghien bei Bobines, Nord. Und wie er es eben sagte, tat sich in dem finsteren Zimmer ein helleres Viereck auf: Jeanne, das Stubenmädchen, meldete flüsternd, aufgeregt, ja ängstlich, draußen stünde ein Offizier und verlange Monsieur zu sprechen.

Der Baron sprang auf. Ob es der General sei, fragte Madame Vison de Beaucourt. Nein, ein jüngerer. Man war enttäuscht und hatte Zeit. Kerzen wurden angezündet und der eine Leuchter auf dem Kamin. Als darüber etliche Zeit verstrichen war, klopfte es.

» Entrez!« rief kurz und finster der alte Herr. Ein deutscher Offizier erschien in der Tür, schlank in seiner grauen, unscheinbaren Uniform, das Band des Eisernen Kreuzes im Knopfloch, das dunkle Schnurrbärtchen dicht und kurz. Hauptmann Rennhöfer, der Divisionsadjutant, verbeugte sich artig und bat in mühelosem Französisch um Entschuldigung, daß er so eingedrungen sei, aber er könne Seine Exzellenz nicht warten lassen. Der Herr des Hofes Ralinghien fragte scheinbar unwissend, wer diese Exzellenz denn sei? Doch der Hauptmann blieb bei lächelnder, ja fast überlegen lächelnder Höflichkeit: diese Exzellenz sei der Divisionskommandeur Generalleutnant Greger. Er ließe fragen, ob er den Damen seine Aufwartung machen dürfe. Claire sagte abweisend etwas von »später Stunde«, doch nun antwortete der Hauptmann mit jenen Redensarten eines echten Französisch, die nur einem deutschen Ohr lächerlich klingen, während sie hier schmeichelten: Sie wären nicht hergekommen, um gegen Frauen und Kinder Krieg zu führen, und Seine Exzellenz wünsche keineswegs, den Damen eine unruhige Nacht zu bereiten, sondern bäte, ihnen sagen zu dürfen, sie stünden fortan unter dem Schutze deutscher Offiziere.

Die Wirkung blieb nicht aus: die Damen schienen sichtlich geschmeichelt und schlugen vor, drüben in des Hausherrn Zimmer den Besuch zu empfangen. Doch Baron de Battaignies sagte ein wenig empfindlich: Seine Exzellenz mache ja nicht ihm den Besuch, sondern seinen Töchtern. Da beeilte sich der Hauptmann zu erwidern: Damen gingen voran und Seine Exzellenz würde sich gewiß freuen, auch Baron de Battaignies kennen zu lernen.

»Hat er das gesagt?« meinte jener. Der Divisionsadjutant gab in einem feingedrechselten Satze zurück: Er kenne Seine Exzellenz gut genug, um zu wissen, daß er »beglückt« sein würde, einen tapferen französischen Veteran von 1870 zu begrüßen.

»Sie wissen?« fragte ganz erstaunt der einstige Kämpfer, der übrigens damals achtzehn Jahre alt gewesen war und nie einen lebendigen Deutschen gesehen hatte. Wieder antwortete Hauptmann Rennhöfer mit dem Schwall von Wendungen, den ihm der Geist französischer Sprache ermöglichte: man habe gehört … man sei unterrichtet … ein alter Besitz … eine alte Familie … In Wirklichkeit hatte er Nicolette, das Küchenmädchen, das »kleine Aas«, ausgefragt, und die hatte ihm in zwei Minuten die Geschichte des ganzen Hauses erzählt. Auch noch anderes wußte er von ihr. Er trat nämlich auf Laetitia zu und sagte deutsch:

»Gnädige Frau, Exzellenz spricht mangelhaft Französisch – besser Englisch – man kann nicht alles, nicht wahr – Da sind Sie vielleicht so liebenswürdig, ein wenig zu vermitteln?«

Sie antwortete, als sei sie wieder mitten in ihrer glücklichen Klosterzeit, als lägen nicht die Jahre, Krieg und Feindschaft zweier Völker dazwischen:

»Aber natürlich – sehr gern!«

Eine Minute, nachdem der Hauptmann gegangen war, während der Claire noch schnell den Betschemel rückte, Madame de Beaucourt ihr Kleid strich, der alte Herr die Fliege zupfte, trat Generalleutnant Greger ein, die Franzosen überragend wie ein Erwachsener Kinder. Mit seinem Adlergesicht blickte er sich kurz um, schritt auf die Damen zu, so nahe, daß sie von selbst ihm die Hand reichten. Er zog sie beide an die Lippen und verbeugte sich gegen den alten Herrn. Dann sagte er zu Claire: sie möchte es ja mitteilen, falls sie irgendwelche Wünsche hätte. Gegen Laetitia gewendet fuhr er deutsch fort: »Natürlich dürfen Sie nicht vergessen, gnädige Frau, daß wir im Kriege sind. Aber über unsere Leute, wenn Sie nur gerecht denken, werden Sie sich gewiß nicht zu beschweren haben. Es sind brave Jungen. Ordnung, Manneszucht, Menschlichkeit ist bei uns. – Ich höre, Sie sind am Rhein erzogen, gnädige Frau?«

»Ich war in Bonn im Kloster!«

»O meine Frau ist Rheinländerin. Darf ich fragen, haben Sie Kinder, gnädige Frau?«

Sie verneinte. Sofort meinte er, zartfühlend im Gedanken, es könne sie vielleicht schmerzen, das habe auch seine Vorteile, wie alles in der Welt, denn wo ein Drittes nicht sei, fänden Ehegatten sich desto näher. Er erkundigte sich noch nach ihrem Mann. Als er hörte, der sei capitaine, sprach er die Hoffnung aus, sie möge ihn nach Friedensschluß gesund wiedersehen. Der Hauptmann übersetzte den beiden anderen schnell und leicht. Dann wandte sich die Exzellenz noch zu Baron de Battaignies und begrüßte französisch in ihm den tapferen Veteranen. Dabei nannte er ihn »Kamerad« und der Satz klang ein wenig, als ob der Adjutant ihn eingeblasen hätte.

Als der Generalleutnant eben sich empfehlen wollte, dröhnte ein schmetternder Krach, daß die Damen erschrocken zusammenfuhren. Sie kannten den Donner: eine nahe Granate, die vielleicht auf dem Felde, vielleicht im Park eingeschlagen war. Der Divisionskommandeur sagte beruhigende Worte mit solch unerschütterlichem Gleichmut, daß sie unwillkürlich ihre Sicherheit auf die Hörer übertrugen. Dann ging der Besuch: ein nicht durch die Macht der Stunde und den Rock Überlegener, sondern ein Mann, neben Menschen.

Und derart wirkte sein Beispiel, daß die französischen Damen die schmetternde Granate bald völlig vergaßen. Es mahnte auch keine zweite an ihre Gegenwart: offenbar hatte der Gegner nur einmal herumgestreut, wie er das öfters tat.


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