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Nach der Rückkehr setzte sich ein Teil der Herren sofort zu neuer Arbeit. So Major von Esserte. Die anderen gingen zur Ruhe, sie später abzulösen. Unter ihnen Hauptmann Rennhöfer, der die Fähigkeit, jederzeit, wo, wie und wann es sei, zu schlafen, seine einzige gute Eigenschaft nannte. Er pflegte zu sagen: »Wenn ich mich jetzt hinlege und zähle, komme ich höchstens bis zwölf. Dann bin ich weg. Wie beim Chloroformieren.« Er kannte es. Denn im Anfang des Feldzuges war ihm ein Granatsplitter in der Narkose entfernt worden.
Den Major von Esserte hatte, wie General von Flurschütz, die Überrumpelung da draußen besonders geschmerzt wegen des fremden Korps, dem sie unterstanden. Genau wie ein Uhrwerk war über den Angriff der Nacht bereits alles Notwendige von Bataillon, Regiment, Brigade eingelaufen. Mit der schnellen Treffsicherheit des Ausdruckes, die ihm zu Gebote stand, faßte es der Generalstabsoffizier nun für das Korps zusammen. Während der Arbeit frühstückten die diensthabenden Herren auf dem Tisch neben ihren Karten und Schreibereien. Immer ruhiger wurde es im Arbeitsraum, immer spärlicher liefen die Meldungen ein. Es war ganz still geworden an der Front. Auch das ewige Geknatter der Infanterie draußen in den Gräben, das man sonst bei herüberstehender Luftströmung fern vernahm, schwieg jetzt völlig, denn der Wind war umgesprungen und wehte, so selten es sonst geschah, einmal zum Meere. Die Engländer schienen sich damit abgefunden zu haben, daß sie die Stellung, die sie nur durch Überrumpelung genommen, nun wieder verloren hatten, den Sir Edward Grey und die tote Miß dazu. Auch die Brigade Golm meldete, es habe den Anschein, als bemühe sich der Gegner nicht, die gesprengte Höhe 40 wieder in seine Hand zu bekommen. Das Gelände hinter ihr bot denn auch auf fast einem halben Kilometer Tiefe keine rechte Festsetzungsmöglichkeit.
Als es nach einigen Stunden ganz still am Fernsprecher geworden war, erschien Hauptmann Rennhöfer frisch rasiert, sogar mit einem weißen Kragen, der verschämt unter der Uniform hervorlugte. Er hatte ihn sich bei seinem letzten Besuche in Lille erstanden. Er erzählte, Exzellenz sei mit dem zweiten Ordonnanzoffizier ausgeritten.
Nun erhob sich Major von Esserte. Als auf dem Treppenabsatz der Spiegel das Sonnenlicht vom Hofe zurückwarf, fiel ihm die Begegnung vom Abend ein, die ihm nun erschien wie ein lächerlicher Spuk der Nacht. Links lag jener lange Gang des alten Hauses, von dem die Türen sich öffneten zu den Zimmern der Franzosen. Dort war auch der Generalleutnant untergebracht, darüber, im oberen Stockwerk, eine Anzahl der jüngeren Herren. Rechts ging es zum Anbau über Stufen, da man unten den neuen Gesellschaftsräumen eine größere Deckenhöhe gegeben hatte. Hier waren die Fremdenzimmer des Hauses gewesen, und hier wohnten der Divisionsadjutant, der Generaloberarzt und Major von Esserte.
Der trat in sein Zimmer. Im Wandschrank hingen die paar Kleidungsstücke, die er nur besaß, seidene Hemden, etwas Wäsche; man hatte im Kriege nicht viel. Auf dem Tisch neben dem riesigen doppelschläfrigen Bett lagen peinlich geordnet: ein Meldekartenblock, Briefpapier, eine beschränkte Zahl Dienstbücher und ein Stoß Karten, sorgfältig geschichtet. Dazu ein roter Bädeker von Belgien und Holland. Bronzen, Schalen, Herumständer hatte Kinzig, mit der langen Nase, wie noch in jedem Quartier, sofort am ersten Tage wegschließen müssen. Der strenge Sinn des Herrn von Esserte liebte derartiges nicht. Hauptmann Rennhöfer verstand das nicht, denn der Kunsthistoriker, der er hatte werden wollen, verriet sich darin, daß er als erstes die Bilder umhing, Bronzen oder Büsten anders stellte. Als sie nach Ralinghien gekommen waren, hatten die anderen Herren, denen neben dem Ernst des Krieges immer Ulk im Kopf lachte, ihm sofort aus ihren Zimmern alles gebracht, was Jahre und böser Geschmack hier an Abscheulichkeiten, Dutzendbronzen, Bisquit- oder Porzellanfigürchen aufgestapelt hatten Der Major war überhaupt anders geartet als der Hauptmann. Er hätte jetzt nicht schlafen können. Die Arbeit war getan, und nun wußte er nicht recht, was anfangen, denn außerdienstlich sich zu beschäftigen hatte er nicht gelernt. So trat er in sein Toilettenzimmer, wo das bescheidene Waschzeug ausgebreitet lag, ein zweites Paar Gamaschen und Stiefel standen. Nachdem er sich gewaschen, rasiert und umgekleidet hatte, blickte er ein wenig übernächtig, ein bißchen gelangweilt aus dem Fenster. Man konnte weit in den Park hinaussehen, denn längst hatten die Laubbäume ihre Blätter verloren. Nur ein paar edlere und allerlei füllende Nadelhölzer versperrten die Aussicht. In der Ferne lag matt die herbstlich verschleierte Sonne auf dem trüben Wasser des Teiches mit Entengrütze und versunkenem Boot. Ein Durchblick zeigte die eine der herrlichen vierfachen Ulmenreihen, die weit in die Landschaft hinauszogen. Als der Major so dastand, die Hände in den Taschen, in wohligem Gefühl nach Waschen und frischer Wäsche; als er in zerstreutem Spiel, indem er sich abwechselnd auf den Fußspitzen hob, dann wieder niederließ, die Stirn an die Fensterscheiben legte, sah er mit einemmal unten ein Kleid. Eine Dame. Madame Vison de Beaucourt. Unwillkürlich trat er vom Fenster zurück. Aber sie blickte nicht herauf. Sie schritt langsam den Weg hin, überwachsen mit allerlei Grünendem, die Rasenränder nicht abgestochen. Krieg! Ihm fiel ein, wie im Kriege Werte verschleudert wurden und bis dahin Gleichgültiges dafür Bedeutung gewann. Er dachte an Kraftwagen, die, wenn sie unterwegs unbrauchbar geworden waren, einfach an der Straße liegen blieben, gleich Wracken gescheiterter Schiffe.
Da blickte Madame de Beaucourt doch auf, aber zu einem Baume. Vielleicht sang ein später Vogel. Dann sah er ihre schlanke Gestalt sich niederbeugen, um auf dem Rasen, der in dem feuchten Land noch immer grün geblieben war, irgend etwas zu pflücken. Er bewunderte die schönen Linien bei solch unschöner Stellung. Sein Auge, weiblichem Liebreiz entwöhnt, schien in dieser halbmüden Übernachtsstimmung empfänglich. Als nun die junge Frau weiterschritt, im bloßen Kopf, den Sonnenschirm in der Hand, folgte ihr sein Blick durch das Gitter der kahlen Büsche und Zweige, ängstlich fast, sie nicht zu verlieren. Sie blieb am Wasser stehen. An jener großen Wellingtonie mit dem gestörten Kerzenwuchs, von der ihr Vater die Entfernung zum Silberschatze abgeschritten hatte, immer wiederkehrend, wie ein Verbrecher zum Ort der Tat. Laetitia suchte am Boden. Herr von Esserte nahm seinen Zeißfeldstecher vom Tisch und sah, die Umrisse durch das schlechte Glas der Fensterscheiben verzerrt, wie sie mit der Fußspitze im abgefallenen Laube wühlte. Er sah den feinen langen Fuß im Lackschuh und in ihm stieg der soldatische Gedanke auf: Er ist ganz neu. Woher nimmt sie den Ersatz? Sie kamen doch nicht fort? Man ahnte verbotenes Nachrichtenwesen, geheime Verbindungen. Eingestellt auf alles, was Krieg und Feind bedeutete, beunruhigte es ihn einen Augenblick. Plötzlich nahm er Mütze, Handschuh, Reitstock und lief die Treppe hinab, in den Park. Wie von ungefähr kam er zum Teich.
Madame de Beaucourt mußte in tiefen Gedanken sein, denn sie gewahrte sein Kommen nicht. Er grüßte und zögerte. Da begann sie, und hatte ein liebenswürdig überlegenes Lächeln dabei, als wollte sie sagen: Na, einer von uns muß doch anfangen. Sie fragte, indem ihr Blick über seinen Anzug glitt mit den langen Beinkleidern, die er der Bequemlichkeit halber hier im Hause trug:
»Ah, Sie sind nicht fortgewesen?«
»O doch! Ich habe mich umgezogen.«
An der Stelle standen sie, wo der Nibelungenhort der Battaignies versenkt lag. Sie spießte mit der Spitze ihres Sonnenschirmes spielend ein Blatt auf und strich es an einem Baumstamm wieder ab. Ungewöhnlich sah sie aus, und war doch ganz einfach gekleidet, nur saß alles und fiel selbstverständlich. Sie hatte keine Handschuhe an. Herr von Esserte entdeckte nun, daß sie auch keinen Ring trug, kein Armband, keinen Halsschmuck. Nur ein paar Druckknöpfe schlossen das Kleid. Stumm waren sie weitergegangen. Schon sah man den Hof nicht mehr mit seinen dunkelroten, weiß abgesetzten Ziegeln, darüber die Zeit einen feldgrau-grünen Hauch geworfen hatte.
»Der Park ist ja wundervoll,« sagte er endlich.
»Sind Sie nie gewesen im Park?«
»Ich habe keine Zeit spazieren zu gehen.«
»Ah, Sie haben so viel zu tun. Auch die Nacht? Das ist ja eigentlich schrecklich.«
Er meinte ruhig:
»Es ist mein Beruf. Und ich liebe meinen Beruf.«
»Und Sie wären nicht lieber im Frieden?«
Seine Augen strahlten:
»Nein, dieses ist das schönste Jahr meines Lebens. Der Soldat arbeitet jahrelang nur für die paar Monate oder die paar Jahre, die so ein Krieg dauert. In langen Friedenszeiten kann es dann geschehen, wie es jetzt vorgekommen ist, bei uns wie bei Ihnen, daß einer als General den Abschied nimmt und hat nie den Krieg gesehen. Man glaubt, daß er ein guter Offizier ist, aber man weiß es nicht, denn die Probe aufs Exempel: der Krieg – fehlt. Liegt darin nicht eine gewisse Tragik?«
Er hatte lebhaft gesprochen, wie ihm jede Befangenheit schwand, sobald er vom Beruf redete. Sie schüttelte den Kopf:
»Ich finde, daß der Krieg ist eine tragédie. Ich finde, daß der Krieg ist etwas Schreckliches. Ich habe meinen Mann nicht fortlassen wollen. Er ist ja aber auch nicht aktiv.«
»Was ist er denn von Beruf, gnädige Frau, wenn ich fragen darf?«
Sie zuckte die Achseln:
»Wir leben in Paris. Sonst aben wir ein Schloß.«
»Darf ich fragen in welcher Gegend?«
»Ah, es ist nicht schön da. Bei Lens. Ein schreckliches Land. Aber nicht wahr, mein Mann ist Mitbesitzer von eine Bergwerk dort. Er ist nicht gut für Geschäfte. Das macht mein Schwager. Darum wohnt der bei die Bergwerk. Wir auf einem Schloß dort. Das geörte meinem Schwiegervater. Wenn man es einmal hat, muß man dort wohnen, sagt mein Schwager. Ah, wissen Sie, mein Schwager ist ein Mann sehr ungewöhnlich.«
»Steht er auch im Felde, gnädige Frau?«
»Nein!«
»Dann ist er wohl noch dort?«
Sie blickte ihn mit einemmal mißtrauisch von der Seite an und vergaß deutsch zu sprechen:
Aber sie übersetzte es sofort:
»Es wird wohl so sein!«
Sie waren dorthin gekommen, wo der Parkweg an der äußeren Baumgrenze hinlief. Nun traf sie die Sonne und sie spannte plötzlich ihren Schirm auf, mit dessen Spitze sie bis dahin, den Blick zu Boden gesenkt, Steinchen vom Wege geschnellt hatte. Herr von Esserte hatte das Gefühl, als sei es eigentlich genug. Und er machte sich nichts aus den Franzosen! Doch seine gute Erziehung verbot ihm, sie einfach stehen zu lassen. So begann er abermals vom Park, nur fand er ihn diesmal nicht »wundervoll«, sondern »sehr ausgedehnt«. In ihr blitzte der bewegliche Geist ihrer Rasse auf, ein Spott lag um ihre feinen Lippen, als wollte sie wie vorhin antworten: »Sind Sie nie gewesen im Park?« Doch sie fragte in ganz verändertem Ton, daraus Langeweile, Beängstigung klang und wieder gleichsam ein kindliches Vertrauen, als müßte er, gerade er es wissen:
»Glauben Sie, daß der Krieg wird noch dauern lange?«
Erstaunt über den jäh abspringenden Gedankengang, antwortete er fast mit einem Scherz, lebhafter, beweglicher als sonst seine Art:
»Gnädige Frau, ich bin nicht der Generalstabschef!«
Sie schielte von der Seite zu ihm und verbarg, wie gegen die Sonne sich schützend, mit dem Schirm ihre Züge:
»Mer Sie sind doch ein besonderer Offizier.«
»Wie meinen Sie das?«
» État-major.«
Er lächelte:
»Aber nur ein ganz kleiner!«
»Ah, Exellence hat gesagt an papa sehr schöne Sachen von Sie.«
Geschmeichelt fragte er:
»So?«
Dann lenkte er bescheiden ab:
»Wer soll sagen, wann dieser Krieg endet. Nur einer weiß es: Gott allein.«
»Und Sie bitten ihn für den Sieg und wir bitten ihn für den Sieg. Was soll er da meinen?«
Sie lächelte dabei, als hätte sie einen guten Scherz gemacht und hob reizend die Achseln, daß ihr schlanker Hals kurz ward und die ganze Beweglichkeit dieses biegsamen Körpers sich offenbarte. Der Generalstabsoffizier aber antwortete fast feierlich:
»Gott im Himmel wird jenen den Sieg verleihen, welche die Tüchtigeren, die Ernsteren sind. Er wird nach ewigen Gesetzen, für den Fortschritt dieser Welt, jenen die große Zukunft schenken, die sie am meisten verdienen.«
Bei ihrer Antwort blieb es im Ungewissen, ob sie nicht die Gedanken jener Männer nur wiederholte, die sie umgaben, ihres Vaters oder ihres Mannes, von dem sie freilich nicht viel gesagt, oder ihres Schwagers, den sie einen »Mann sehr ungewöhnlich« genannt hatte:
»Wir aben eine ältere civilisation als die Deutschen. Wie fein ist der einfache französische Mann und das einfache Mädchen. Und wir aben zu verteidigen die tradition. Die Sendung einer großen Nation ist, Freiheit und civilisation weiterzutragen über die ganze Welt.«
Herrn von Esserte fiel unwillkürlich der alte Blaise ein, mit seiner alkoholischen Nase, und Nicolette, das kleine Aas. In ihm stieg etwas wie Ärger auf. Nein, er mochte die Franzosen nicht! Da sie nun eben auf die große Allee gekommen waren, die in vierfacher Baumreihe weit hinausführte ins Land, so verabschiedete er sich. Um einen Grund zu finden, zog er die Uhr und machte ein Gesicht, als wollte er sagen: ›Was, schon so spät?‹ Sie blickte ihm nach. Eigentlich gefiel ihr die deutsche Uniform, dieses unscheinbare Grau, dieser knappe Sitz. Sie bemerkte auch, daß der Major gut gewachsen war.
Der kehrte um und fragte, zwei Finger am Mützenschirm:
»Gnädige Frau, fürchten Sie sich allein zurückzugehen?«
Sie antwortete fast hochmütig:
»Es ist mein Land!«
»Aber Krieg, und wir sind da!«
Doch sie entwaffnete ihn:
»Bei Ihnen ist discipline. Wer sollt mir tun etwas hier?«
»Deutsche Soldaten gewiß nicht.«
Fast wehmütig gab sie zurück:
»Und andere gibt es nicht.«
Damit war das Gespräch wieder zu Ende. Während er zurückeilte, ohne Nötigung seine Schritte beschleunigend, war er unzufrieden mit sich selbst. Er hätte nicht schwatzen sollen mit dieser Französin, die ihn nichts anging.
Als er eben das Haus betreten wollte, kehrte der Generalleutnant von seinem Spazierritt zurück. Er fragte, ob der Major schon geritten sei. Der verneinte, er habe bis jetzt zu tun gehabt. Da sagte Exzellenz, es schiene ja alles ruhig zu sein und ging mit seinem Generalstabsoffizier ein Stück jene Allee hinab, die Laetitia de Beaucourt kommen mußte. Der General sprach, während er immer im Gehen spielend mit dem Reitstock gegen den Stiefelschaft schlug, davon, wie er sich den Fortgang des Feldzuges dächte. Dieser Grabenkrieg würde wohl noch lange dauern. Dabei zählte er auf, was er noch weit über die Lehren des Russisch-Japanischen Krieges hinaus Neues gebracht habe an, Kraftwagenbetrieb, Fernsprecher, drahtloser Funkerei, Grabenausbau, Handgranatenangriff, Minenkampf, Pionierleistung, schwerer Artillerie, ja Verwendung der Artillerie überhaupt.
Als sie dann zu ihrer alten Waffe kamen, der Reiterei, die in diesem Grabenkriege kaltgestellt schien, blieben sie stehen: Der Generalleutnant mit seiner aufrechten, schönen Haltung, auch hier wieder, wo er eben vom Ausritt kam, wie aus dem Ei gepellt, sein Generalstabsoffizier Reiner, aber nicht schlechter gewachsen. Beide schlanke norddeutsche Gestalten; auch der Kleinere die Franzosen immer noch um einen Kopf überragend.
Gegen das Licht sah man in der Ferne Laetitia, deren Auge, unwillkürlich bewundernd, über die beiden lief, und die nun stehen blieb, auf dem Rasen irgend etwas zu pflücken, das es gar nicht gab. Sie wartete, die beiden sollten näher kommen, nahm in wundervoller Haltung den nun geschlossenen Schirm unter den Arm und begann bedächtig ihre Handschuhe anzuziehen. Endlich waren die deutschen Offiziere herangekommen und der General tat ihr den Gefallen, sie anzureden:
»Gnädige Frau, ich habe so selten das Vergnügen, Sie zu sehen. Aber Sie werden meine Zurückhaltung begreifen. Ich wollte das nur ein für allemal erklären.«
Da erblickte man durch das Gitterwerk der Bäume Baron de Battaignies und Claire. Sie machten ihren täglichen Spaziergang durch den Park; obwohl sie doch nichts zu tun hatten, wie immer im Eilschritt. Der alte Franzose blieb stehen. Seine Tochter schien ihm etwas zu sagen. Er holte einen Kneifer aus der Westentasche und setzte ihn auf. Dann sah man, wie er sich wieder zu Claire wandte, und darauf kam er plötzlich in seinem ewig eiligen Gang herüber, während Fräulein de Battaignies langsam folgte. Laetitia erzählte ihrem Vater, mit jenem Lächeln, wobei sie ihre schönen Zähne zeigen konnte, das ihr zu den gleichgültigsten Worten anerzogen war, was Seine Exzellenz eben gesagt habe. Und sie dankte dem General, gleichsam im Namen der Familie, für jene Zurückhaltung, die er so vornehm und edelmütig übe. Als nun der Generalleutnant artig fragte, ob die Herrschaften sich über etwas zu beklagen hätten, meinte der alte Baron, er könne durchaus nichts Nachteiliges sagen. Nur müßten die Herren sich auch in ihre traurige Lage versetzen. Während dieser Worte waren sie zum Haus zurückgegangen, Claire etwas abseits, Madame de Beaucourt neben Herrn von Esserte. Diese hörten nur zu und wechselten kein Wort. Als sie an der Terrasse standen, hinter deren Fenstern man die Offiziere arbeiten sah, erschien Hauptmann Rennhöfers Gesicht mit dem wohlgezogenen Scheitel, denn die meisten Herren des Divisionsstabes trugen das Haar nicht kurz geschnitten wie an der Front. Er verbeugte sich gegen die Damen. Der General rief ihm durch das Fenster zu, das halb offen stand, damit der Qualm vom Rauchen abzöge:
»Rennhöfer! Haben Sie'n Augenblick Zeit, den Herrschaften guten Tag zu sagen?«
Die Zigarette in der Hand, verneigte sich der Hauptmann:
»Zu Befehl, Exzellenz.«
Draußen wiederholte ihm der General die letzten Worte des Barons, und der Adjutant mußte dem alten Patrioten wiedergeben, was Seine Exzellenz jetzt, sich zu Laetitia wendend, deutsch sagte. Er erklärte, er würde bestrebt sein, ihnen alle Härten, die der Krieg notwendigerweise mit sich brächte, zu erleichtern. In seiner immer verbindlichen, aber doch unbeugsam militärischen Art schloß er:
»Hier draußen untersteht allerdings jeder, auch wir, den Kriegsgesetzen. Wer die Kugel wagt, muß gewärtig sein, durch sie zu fallen. Aber sonst wollen wir Menschlichkeit üben.«
Das übersetzte Hauptmann Rennhöfer: »Dieser Krieg, der ganz Europa erschüttert, bringt notwendigerweise Gesetze mit sich von einer Schärfe, wie der Frieden sie nicht kennt. Wenn nun einer es wagen sollte, den ebenso gerechten und notwendigen wie unerbittlichen Gesetzen zuwiderzuhandeln, so wird er auch genötigt sein, die Folgen, die sich aus solcher Handlungsweise ergeben, auf sich zu nehmen. Keiner darf sich also wundern, wenn er in schönem Patriotismus, verwirrt durch die Vaterlandsliebe in seinem Herzen, der Kugel getrotzt hat, daß er dann auch durch jene Kugel einen gerechten, jedoch stolzen Tod erleiden muß. Wir Deutsche aber werden uns immer der ewig gültigen Gesetze der Menschlichkeit erinnern und nach ihnen handeln!«
Der alte Franzose spielte an seiner Fliege. Er blickte zu Boden und sprach mit bewegter Stimme, zuerst leise, dann immer mehr in Feuer geratend:
»Wir wissen nicht, was in jenem Teil unseres Vaterlandes jenseits der Gräben dort vorn vor sich geht. Ja, wir wissen nicht einmal, ob unsere Söhne, unsere Lieben noch am Leben sind, denn wir sind hier abgeschlossen von allem und jedem. In grauem, entsetzlichem Einerlei verbringen wir unsere Tage, wenn auch die Hoffnung im Herzen. Ich war Herr auf diesem alten Grund und Boden, wie seit Jahrhunderten die Leute, deren Namen ich noch trage. Heute bin ich ein Geduldeter hier. Ich mache nicht die autorité allemande dafür verantwortlich, nein, ich habe dafür nur das ernste Wort der Ergebung, das uns Franzosen in diesen besetzten Provinzen über alles hinweg bringen muß: » C'est la guerre!« Wir sprechen Ihnen, den Deutschen, das Herz nicht ab. Sie führen auch nicht den Krieg gegen arme Frauen und unschuldige Kinder. Ich bin französischer Patriot, aber eben darum sage ich: Sie sind keine Barbaren. Das haben nur die Journalisten dem armen betrogenen Volke Frankreichs eingeimpft, jene gewissenlosen Hetzer dieser noch gewissenloseren Regierungsform, unter der wir leiden, wir, die wir noch an Gott glauben. Wir, ein anderes Frankreich, aber ein nicht minder patriotisches. Nicht, daß wir für Freundschaft mit Ihnen eingetreten wären, aber wir hätten uns vielleicht, so oder so, über die einst dem Schoße Frankreichs entrissenen Provinzen geeinigt und nicht einen Krieg begonnen, aus den wir keineswegs vorbereitet waren.«
Der Generalstabsoffizier sagte halblaut zum General:
»Aber vierundvierzig Jahre lang versucht. Daß sie immer noch nicht fertiggeworden sind, da können wir doch nichts dafür.«
Laetitia hörte es nicht, denn der alte Herr sprach mit gleichem Schwunge immer weiter:
»Wie nun dieser entsetzliche Krieg auch enden möge, in dem so viel edles französisches Blut vergossen wurde, es ist hart, unglaublich hart für einen alten Mann und Franzosen, dies alles zu erleben. Es ist hart, die Abende trostlos in seinem Zimmer zu sitzen und die Trikolore drüben nicht zu sehen, die über unsern stolzen Linien flattert. Meine Töchter und ich erblicken in Ihnen und Ihren Herren Feinde. Nichts anderes. Feinde des geheiligten Bodens unseres Vaterlandes. Aber edle Feinde, die Schwäche und Jammer armer Ohnmächtiger achten. Seien Sie versichert, Exzellenz, wir wissen den Menschen vom Soldaten zu scheiden. Darum gestatte ich mir, Exzellenz, Ihnen, dem Menschen, im Namen der Bewohner dieser alten Ferme Ralinghien, dieses nun so furchtbar geprüften Hofes in Französisch-Flandern, dankend meine Hand zu reichen.«
Er hielt dem General die Hand hin. Der hatte bei der Schnelligkeit des Sprechens und da des alten Patrioten Stimme von Tränen erstickt wurde, nicht jede Wendung verstanden. Darum blickte er seinen Dolmetsch und Adjutanten, Hauptmann Rennhöfer, fragend an. Der nickte, als wollte er sagen: Exzellenz können die Hand ruhig nehmen. Und nun stand der große hagere, ernste deutsche General mit dem Adlergesicht vor dem kleinen rundichen Franzosen, der ihm nur bis zur Brust reichte, und sie schüttelten sich die Hand. Baron de Battaignies blickte nicht auf, denn die Tränen liefen ihm in seinen weißen Schnurrbart. Er wandte sich und eilte davon, während Claire ihm mit gesenktem Kopfe langsam folgte. Generalleutnant Greger beugte sich liebenswürdig zu Madame Vison de Beaucourt:
»Gnädige Frau, ich bin Soldat, der, wo es nötig ist, kein Schwanken und keine Rücksichten kennt, aber diese Worte haben mich tief ergriffen. Wenn Sie bei uns wären, was ja, wie Sie sehen, nicht sein kann, dafür sorgen wir schon, so würde ich von jedem deutschen Mann Gleiches verlangen aber auch hoffen, daß ein feindlicher General es anerkennen würde, wie ich. Wir wollen uns Ihnen nicht aufdrängen, aber sagen Sie bitte Ihrem Herrn Vater, es würde mir Freude machen, Ihnen einmal über einen solchen traurigen Abend hinwegzuhelfen. Ich würde Ihnen gern einmal die Bilder meiner kleinen Enkel zeigen.«
Er verbeugte sich. Der Adjutant verneigte sich lächelnd. Der Generalstabsoffizier, der Laetitia während der Rede des alten Barons von der Seite durch sein scharfes Glas betrachtet hatte, grüßte stumm. Und nachdem die junge Frau den Abschied der Herren mit leichtem Senken des Hauptes, wie eine Königin hingenommen, folgte sie ihrem Vater quer über den Rasen. Die Offiziere schritten die Stufen der Terrasse hinauf, zur Arbeit, denn Feierstunden und Feiertage gab es nicht im Kriege.