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Auf der Yperner Straße mußten sie vorsichtig fahren, denn das Streufeuer vom Morgen hatte ein paar frische Granatlöcher ausgeworfen. Rechts und links der Straße war der Schnee schon im Schwinden, die dunkeln Inseln des durchapernden Bodens wuchsen allmählich zu ganzen Erdteilen. Leutnant von Kropp hatte recht, um zwei Uhr war gewiß alles abgeschmolzen.
Vor der Ferme stieg Major von Esserte aus und ließ den Artilleriegeneral, der in einem Landhause weiter rückwärts lag, weiterfahren. Als die hohen Bäume von Ralinghien ihm entgegenwuchsen, sah er im Park, dort, wo die Gräber lagen, dunkle Gestalten: Die drei blonden Mägde, Taschentücher in den Händen, die dicke Köchin, schwarz gekleidet, mit einem winzigen, für ihre Fülle lächerlich zu kleinen Topfhütchen, Baron de Battaignies und Claire im Gespräch mit einem rundlichen Mann im langen grauen Rock der Feldgeistlichen, der lila Armbinde und dem Kreuz, darauf Sonnenlichter spielten. Madame de Beaucourt beugte sich nieder und schob einen Kranz zurecht auf der frisch ausgeworfenen Erde. Der Major, der vom alten Knecht nichts wußte, fragte:
»Wer wird denn da begraben, gnädige Frau?«
Sie sagte fast vorwurfsvoll:
»Nun, der arme François!«
Dann erzählte sie, als wollte sie ihm eine Freude machen, indem sie die Deutschen rühmte: Der Curé aus Ralinghien, dem Dorf, habe die Leiche einsegnen sollen. Aber als jenes Feuer begonnen das, wie immer seit einiger Zeit, am schwersten auf Ralinghien gelegen hätte, sei telephoniert worden, der Curé wage es nicht, zu kommen. Sofort habe Exzellenz nach Bobines geschickt, um den katholischen Divisionspfarrer zu holen. Nun begruben den armen französischen Knecht die Deutschen. Sie hatten auch das Grab bereitet, denn der alte Blaise, dessen Pflicht es gewesen wäre, den Kameraden in die Erde zu betten, schlief seinen Rausch aus.
Als die Dienstboten sich entfernten, flüsterte Laetitia:
»Ich abe Ihre Uhr!«
»Kann ich sie bekommen?«
»Sie ist oben in mein secrétaire. Je vous attends!«
Der Major sprach ein Wort der Artigkeit mit dem Feldgeistlichen, dann empfahl er sich. Laetitias Augen schienen zu sagen: Die Uhr! Doch es gab Arbeit genug: Hauptmann Giese legte Unterschriften vor, und Rennhöfer erzählte, Major Pedröhl, der zufällig mit einer Anfrage gekommen, habe sich gleich selbst den Keller angesehen. Die Pioniere wären schon am Werk. Die Decken würden durch Eisenträger und Betonschichten verstärkt und, dem Gegner zu, Sandsackmauern errichtet. Das sei schneller geschehen und sogar besser, als einen Unterstand eigens zu bauen. – Major Rennhöfer, in dessen Dienstkreis es fiel, war begeistert. Wenn man ihn so hörte, mußte man annehmen, auch eine dicke Bertha würde diesem entstehenden Meisterwerk nichts anhaben können.
Dann meldete der Generalstabsoffizier seinem Kommandeur die Eindrücke, die er gewonnen. Der Augenblick, die Stellung zu verbessern, indem man das Wäldchen nahm, schien besonders günstig, jetzt, wo nach dem Schneefall der Gegner gewiß keinen Sturm erwartete. Heute, noch ehe das englische Maschinengewehr wieder wie üblich vorgebracht wurde, sollte angegriffen werden. Der General war auch dafür, die Stellung so bald als möglich zu verbessern, indem er sagte, beim Generalkommando, dem sie unterstellt waren, scheine man zu glauben, es könne innerhalb des Korpsabschnittes eine Offensive der Engländer kommen, sobald Kitchener mit seiner neuen Armee einigermaßen vorgeschritten sei. Da das alles noch einmal besprochen werden sollte, fuhr Major von Esserte gleich wieder fort. –
An der Lys, in der Villa eines Großindustriellen von Bobines, lag das Generalkommando des Armeekorps. Posten standen vor einem großen Parktor mit schwarz-weiß-roter Tafel. Eine lange Allee führte an winterkahlen, gutgehaltenen Beeten vorüber, von allerlei Immergrün eingefaßt. Blicke taten sich auf über Rasenplätze, darauf edle Nadelhölzer mit erstorbenem Wintergrün zwischen den schwarzen kahlen Ästen der Laubbäume ragten. Auf der niedergesunkenen Eisdecke eines langgestreckten Teiches warf Schmelzwasser flimmernd die Sonne zurück. Die große Villa, die einen mittelalterlichen Trutzbau vorzutäuschen suchte, hätte fremde Anwesenheit nicht verraten, wären nicht Drähte des Feldfernsprechers, über Notmasten geführt, im Erdgeschoß zusammengelaufen, und hätte nicht auf dem Eckturm, zu niedlich, um wehrhaft zu sein, die Flagge schwarz-weiß-rot geweht.
Der Major ließ sich melden. Bis dahin wartete er vor der Villa. Ein Unteroffizier in langen Beinkleidern ging zu einem Nebengebäude. Die Feder hinterm Ohr schritt er am Major vorbei mit jener erstaunlichen Ehrenerweisung, stramm und doch im Grunde unmilitärisch, wie sie einem reifen Manne zu eignen pflegt, der im bürgerlichen Leben an Geld, Stellung und Leistung meint, den oberen Zehntausend anzugehören, es jedoch nicht zum Offizier gebracht hat. Der Major rief:
»Unteroffizier, ist der Herr Oberst Bach da?«
Der Angerufene blieb stehen und schloß die Absätze, aber während des Gespräches bog er immer einmal ein Knie, rückte einen Schritt zurück und kam so weiter und weiter vom Major ab, wie ein Pferd, das nach dem Stalle drängt:
»Exzellenz ist ausgeritten.«
»Ich frage nicht nach Exzellenz. Ich frage, ob Oberst Bach hier ist!«
»Er war noch eben hier, Herr Major.«
»Ich frage nicht, ob er noch eben hier war, sondern ob er da ist?«
»Das kann ich nicht sagen, Herr Major.«
»Wenn Sie das gleich gesagt hätten, hätten Sie Zeit gespart, denn Sie haben es offenbar eilig!«
»Zu Befehl, Herr Major, ich bin pressiert.«
Major von Esserte, der die Schreiberseelen nicht leiden konnte, meinte spöttisch:
»Was ist denn das, pressiert?«
Das bleiche Stubenluftgesicht rötete sich langsam. Die Hände des Unteroffiziers rieben immerfort an der Hosennaht:
»Ich habe einen Befehl des Herrn Obersten auszuführen.«
»Also ist er doch da.«
Er machte eine stramm verbindliche Verbeugung:
»Jawohl, Herr Major. Das heißt, er war da.«
Vom Fenster klang die Stimme des Obersten:
»Bitte, Herr von Esserte, ich stehe sofort zu Diensten.«
Durch einen Saal, wo Schreiber saßen, schritt der Major, dann kam er in das Treppenhaus. An allen Türen stand geschrieben, wer dort arbeitete: Adjutanten, Ordonnanzoffiziere, die Generalstabsoffiziere mit ihren Nummern und Buchstaben. Ein Hauptmann, eine Anzahl Schriften unter dem Arm, ging, sich verbeugend, eilig vorüber. Aus einem der Zimmer trat der Stabschef des Korps, Oberst Bach, dem Major entgegen. Der große dicke Mann, ein wahrer Riese, bartlos, haarlos auch an dem kugelrunden Schädel, preßte dem Major mit gewaltigem Druck die Hand:
»Herr von Esserte, immer erfreut, eine Kraft, wie Sie, zu sehen, und immer erfreut, Sie zu lesen. Denn was von der 347. I. D. kommt, hat Hand und Fuß.«
Eine Quint tiefer fragte er: »Um was handelt es sich?«
Der Generalstabsoffizier zog aus dem Ärmelaufschlag seines Mantels die Karte. Kurz ging Erklärung, Frage, Antwort, Gegenfrage, Einverständnis hin und her. In wenigen Minuten war alles erledigt: »Es wird angegriffen.«
Der Major stand auf. Nun sagte Oberst Bach wieder eine Quint höher:
»Ich habe Ihr Gespräch vorhin mit dem Unteroffizier belauscht. Hat mich riesig gefreut. Das ist der unmilitärischste Kerl, den ich je gesehen habe. Aber unschätzbare Kraft. Landwehr. Der Mann weiß hier alles. Ist in Bordeaux geboren, Sohn einer berühmten Weinfirma. Macht Proklamationen, Übersetzungen, französische Korrespondenz, treibt alles auf, was kein anderer mehr findet: Schreibmaschinen, Sekt, Öfen, Baumwolle, Kupferdraht, geheime Korrespondenzen und hat den Maire von Bobines, mit dem nichts anzustellen war, zu allem gebracht, was wir nur wollten. Herr von Esserte, hat mich gefreut, Sie zu sehen. Bitte mich Exzellenz zu empfehlen, und grüßen Sie Ihren famosen Major Rennhöfer. Übrigens haben sie ja gestern bei Ihnen reingefunkt? Wollen Sie nicht Ihren Divisionsstab wo anders hinlegen? Der Kommandierende sagte es heute früh gleich, als wir es hörten.«
Major von Esserte traf der Gedanke wie ein Schlag:
»Ich glaube, Exzellenz denkt gar nicht daran. Wir haben ausnahmsweis feste schöne Keller. Exzellenz hat sie schon verstärken lassen.«
»So, so, nun je näher die Befehlsstellen der Truppe sind, desto besser, nur muß die Ruhe zur Arbeit gewährleistet sein.«
Als käme es ihm ganz zufällig in den Sinn, nannte er gleich, was sie sich beim Korps offenbar schon zurechtgelegt hatten:
»Sonst wäre da zwei Kilometer südwestlich das Schloß La Grenouillère. Eine Kolonne liegt jetzt da. Die könnte sofort wo anders hin.«
Die kleinen schlauen Augen schlossen sich fast unter Fettwülsten des dicken Gesichtes:
»Sie würden wohl gern dort bleiben?«
Aber der Major antwortete nicht minder klug ausweichend:
»Ich habe nicht zu befehlen, Herr Oberst. Exzellenz fühlt sich sehr wohl da. Wir sind nun mal eingerichtet und ich glaube, Exzellenz ist gern nah der Truppe!«
Oberst Bach rieb sich das bartlose Kinn und strich wie kämmend von hinten nach vorn über den kugelrunden Kahlkopf:
»Ich will Ihnen mal meine Privatmeinung sagen. Der Kommandierende hat es Generalleutnant Greger schon angedeutet. Wir haben so das dunkle Gefühl, das sich freilich nicht auf Tatsachen stützen kann, als ob bei uns über kurz oder lang einmal ein Feuerüberfall und Durchbruchsversuch zu erwarten wäre. Der Gegner fürchtet wohl, daß der Bogen um Ypern mal als Sack zugebunden würde. Heute früh erst hat wieder ein Flieger – ich dächte Ihr Bielinski – Truppenbewegungen gemeldet. Offenbar häufen sie auch Munition. Sie haben welche aus Ypern weggeschafft. Vielleicht, weil sie sie dort nach der letzten Beschießung mit 42ern für zu unsicher halten. Dann sind Züge über Amiens in Gang, die kaum allein der Verproviantierung dienen können. Vielleicht ist es auch nur, um uns irrezuführen. Sie lassen ja die Truppen immer die Stellung wechseln. Wie Sie meldeten, daß die Schotten vor Höhe 40 fort sind. Wir glauben auch, daß in dem Abschnitt unseres Korps keine Inder mehr sind. Ein kleiner Pionier – vortreffliche Kraft – Leutnant Domatschke – soll übrigens leider gestern gefallen sein – kleidete das in nette Worte. Als ich in seiner Stellung fragte, ob die Inder etwa fort wären, sagte er: Er glaube es fast, denn sie hörten gar nicht mehr Husten. Es liegt auch System darin, daß der Gegner die Ortschaften, die Schlösser, wo er Stäbe vermutet, immer stärker beschießt. Also Herr von Esserte, vielleicht behält Exzellenz für alle Fälle La Grenouillère im Auge. Sie wissen übrigens wohl, daß der Ordonnanzoffizier der Brigade Flurschütz im Kriegslazarett hier eingeliefert ist?«
Er erzählte noch, der Kommandierende, General der Infanterie von Kitzingen, Bißwangs Onkel, sei eben hinüber geritten, nach ihm zu fragen. –
Als Major von Esserie die Allee durch den Park zurückfuhr, fühlte er sich verstimmt, beunruhigt durch den Gedanken, sie könnten Ralinghien räumen müssen. Er ärgerte sich über den Oberst. Wenn sie sich beim Korps etwas in den Kopf setzten, war nie etwas zu machen. Im gleichen Augenblick erschien wieder wie eine Zwangsvorstellung vor ihm die Gestalt der jungen Frau.
Auf den Straßen von Bobines, wo allerlei Kommandostellen lagen und Truppen in Ruhestellung sich befanden, marschierten Abteilungen, Kraftwagen hupten, Offiziere kamen geritten, Grüßen ging hin und her. An den Haustüren stand wie bei Herbstübungen die Belegung mit Kreide angeschrieben. Mit deutscher Gründlichkeit sagten Schilder, wie die Straßen deutsch hießen, wo es zum Generalkommando ging, zur Korpsschlächterei oder zur Feldpost. Auf den Bürgersteigen schritten Feldgraue; sie standen in den Haustüren. Ein bärtiger Landstürmer hielt ein blondes Kind auf dem Arm, das ihm mit unsicheren Patschhändchen die Pfeife aus dem Mund zu nehmen suchte, wobei er gutmütig lächelnd ausbog. Die Mutter daneben wollte sich totlachen darüber. Auf dem breiten Boulevard saßen die Leute auf den Bänken im Mittagssonnenschein. Kinder spielten, Mädchen und Frauen trippelten in engen Kleidern und hohen Stelzschuhen. In den ungezählten » Estaminets« saßen Soldaten mitten unter den Bürgern. Auf dem Markt hielten Hökerinnen allerlei Gemüse feil, und Soldaten handelten darum.
Bobines lag hinter ihnen. An der Straße nach Ralinghien erschien jetzt drüben links der Park von La Grenouillère. Schöner als Ralinghien. Eine jener Besitzungen reich gewordener Industrieller, wie sie den Baron de Battaignies ärgerten, und nun auch den Major, denn seine Sehnsucht blieb der liebe gewohnte Hof in Flandern. Er wuchs nun schon vor ihnen empor, eine Baumgruppe erst, zu der die vierfachen Reihen strebten, ein Park dann, endlich das Haus, dessen abgeschossene Ecke man deutlich gegen den Himmel eingefressen sah. Er war daheim, soweit es solches in diesem Kriege gab.
Als er über die Treppe ging, blickte er sich nach Laetitia um. Die Uhr mußte er holen. Doch die erste Sorge galt dem Dienst. Der Angriffsbefehl war zu geben. Dann ging es zum Essen. Bei Tisch erzählte der General, wie er dem Kürassier auf der Straße begegnet sei, und daß aus dem Kriegslazarett leidlich gute Antwort gekommen wäre. Dann wurde, wie ein Bauherr es nicht anders tut, von den Sicherungsarbeiten am Keller gesprochen. Exzellenz erzählte, Major Pedröhl habe die Ferme eine kleine Festung genannt, und Major Rennhöfer begeisterte sich für alles, was da neu erstand. Herrn von Esserte fiel eine Last von der Seele: Hier erwuchs keine Gefahr, von den nächsten Granaten verscheucht zu werden. Aber seine Gedanken irrten ab, und er konnte es nicht mehr ertragen bei Tisch zu sitzen. Und grade heute nahm das Gespräch kein Ende. Als der General endlich die Tafel aufhob, stahl er sich fort. Er klopfte bei Laetitia. Keine Antwort. Er klopfte drei-, viermal, dann klinkte er vorsichtig: Das Zimmer war leer. Enttäuscht ging er vor die Tür, rund um das Haus. Er spähte in den Park, von dem Wind, dem ewigen Wind dieses Landes durchschnoben, der lau vom Kanal herüberblies. Es war längst zwei Uhr vorbei. Leutnant von Kropp hatte Recht gehabt: Der Schnee war aufgesogen. Friedlich lag im Sonnenscheine das französisch-flandrische Land mit den zerstörten Umrissen von Ralinghien und Opendaele, Worten, die, wie er meinte, ihm bis an sein Lebensende unvergeßlich in den Ohren klingen würden. Der Wind trug die ewige Musik des Krieges herüber, jenen Kanonendonner, den man kaum mehr vernahm, weil das Ohr sich an sein ständiges fernes Rollen gewöhnt hatte, wie an das Rauschen des Meeres.
Als der Major am Arbeitstische saß, irrten ihm zum erstenmal in diesem Kriege beim Dienst die Gedanken ab. Ihm war, als läge Laetitia an seiner Schulter. Er fühlte in den Händen die Form ihrer kühlen Arme, ihre Stimme klang, ihr eigenes, oft seltsam gewendetes Deutsch. Wie er sich im Stuhl zurücklehnte, fiel sein Blick auf den Zwerg im Bart mit den Gamaschen. Die Kameraden saßen an den Tischen, blätterten, schrieben, zeichneten, lasen, und der Fernsprecher arbeitete. Major von Esserte stand plötzlich auf und rannte hinaus. Soldaten gingen über den Hof, luden Eisenträger ab, warfen Zementsäcke von den Schultern, daß es weiß stiebte, und er beneidete sie, diese einfachen ruhigen Männer, die ihre Pflicht taten, während in ihm ein Gift fraß. Da sah er Rennhöfer stehen. Den Phantasten band jetzt der Unterstandsbau ernst an die Erde. Sein Fleiß führte Major von Esserte zu Laune und Pflicht zurück. Er schrieb eine Feldpostkarte an Bißwang, Mitgefühl zu zeigen, dann war der Bann, der ihn gequält, plötzlich abgefallen. Er saß ruhig am Tisch. Jetzt hätten wieder Granaten donnern können wie am Abend, und der Herr Major würde es nicht gemerkt haben.
Um vier Uhr zwanzig Minuten wurde angegriffen; ohne Artillerievorbereitung; nur Sperrfeuer rückwärts gelegt. Um vier Uhr vierzig Minuten kam die Meldung, die 1388er Grenadiere hätten das Wäldchen und den Graben davor fest in der Hand. Und wie die Meldungen sich folgten, war die Unruhe, das Weib im Blut, gebannt. Nur ein Gedanke beherrschte den Generalstabsoffizier: Krieg.
Menschenleben hatte der Angriff gekostet. Manch einer von denen, die auf der Yperner Straße fröhlich dem Kraftwagen der Division die Äste weggeräumt, lag nun stumm draußen, mitten unter den Engländern, die, wie der Hofschauspieler gesagt, dreimal als tote Gegner den Graben in Abschnitte zerlegten. Aber der Verlust stand nicht im Verhältnis zur täglichen Einbuße an deutschem Leben, das der Besitz des Wäldchens durch die Engländer bisher verursacht hatte. Morgen, wenn die Sonne gesunken war und das Feuer, wie man wußte, meist erstarb, sollte die Totenfeier sein in Ralinghien, dem Dorf, auf dem kleinen Soldatenfriedhofe, der mit einem einsamen Grabe begonnen und nun schon ganze lange Reihen stiller Krieger-Ruhestätten aufwies. Langsam wuchs er täglich, um sich nach Angriffstagen jäh zu füllen. Und morgen auch würde jener junge Gefreite, weiland Hofschauspieler – Soldat und brav – aus Bretterschein zu ewiger Wahrheit verklärt mit den anderen draußen gebettet werden.
Der Major hatte nicht aufgeblickt vom Tisch. Als er nun aber vom Vortrage beim Generalleutnant kam, und an der Ordonnanz, die beim Nachlegen war, vorüberging, um sich wieder zu setzen, fiel sein Blick auf das Bild des Herrn Alfted Vison de Beaucourt. Er sagte ärgerlich zu dem Mann, der eben das letzte mitgebrachte Holzscheit in den Kamin geworfen hatte:
»Hängen Sie nur den verfluchten Kerl wo anders auf. Ich kann nicht arbeiten, wenn ich diesen Pariser Fatzke sehe!«
Als nun Oberleutnant von Gereck im Scherz klagte, dann würde ihr schönes Zimmer ganz kahl, wollte er einen Spaß machen, der etwas erzwungen herauskam:
»Hängen Sie mir was anderes hin, aber was recht Hübsches, Nettes!«
Beim Essen war große Freude über die Verbesserung der Stellung. Dem Kriegsgerichtsrat, dem Generaloberarzt, allen die selten Gelegenheit hatten, einmal vorzukommen, wurde der Gewinn auf dem Grabenplan gezeigt, und mit einem Glas Wein wurde er begossen. So saß man länger als gewöhnlich. Major von Esserte aber empfahl sich.
»Bleib doch noch ein bißchen,« sagte Rennhöfer, aber er bekam die Antwort, auf die hier jeder schwieg:
»Ich habe noch zu tun.«
Als Major von Esserte an seinen Arbeitsplatz trat, wo Pinsel und Farben, Federn, Bleistifte, Marschzirkel peinlich geordnet nebeneinanderlagen, schrak er fast zurück. Dort hing ein Ölbild: Laetitia. Der Ordonnanz, die es aus dem Salon geholt, mochte es wegen des schönen goldenen Rahmens in die Augen gestochen haben. Auch des Majors nicht künstlerisch eingestelltes Auge gewahrte kaum die mäßige Malerei. Er sah nur die Züge jener, die in seinem Blute war wie ein süßes Gift. Und in dem Augenblick durchrann ihn ein so heißes Begehren, daß er schnell einen Zünder, einen Granatboden, den Ausbläser eines 15- cm-Schrapnells nahm und die schweren Metallteile als Briefbeschwerer auf seine Papiere legte. Dann schlich er hinaus. Auf der Treppe trat er hart auf, ließ die Sporen klirren: sie sollte ihn hören. Im Dunkel tastete er sich am Geländer hin. Ein heller, langer Streifen leuchtete an ihrer Tür. Er schlich hinüber. Eine Gestalt huschte zum Bett und ein paar kühle schöne Arme legten sich um seinen Hals. In ihrer Muttersprache, in die sie zurückfiel, sobald Eile oder Erregung ihre Worte trieb, klagte sie, wie lange er sie habe warten lassen:
» Et je t'attends si longtemps!«
Sie legte die bebende Wange an seine Schulter und sprach wieder deutsch:
»Was denken Sie von mir. Ah, ich muß so!«
Sie suchte unter der langen Kopfrolle seine Uhr, hielt sie ihm entgegen und sagte voller Liebreiz mit dem weichen Ton ihres schönen Französisch:
» Monsieur!«
Dann klingelte ein leises Lachen, im Dreiklang merkwürdig melodisch, vielleicht einmal einer anderen nachgeahmt, nun ihr eigen. Er küßte ihre Fingerspitzen und fragte, wo sie die Uhr gefunden habe. Sie blickte ihn schelmisch an, hob die Achseln, daß der Hals ganz versank, dieser lange, schlanke Hals, dann schlug sie die Augen zu Boden und ließ seitwärts die Hände steigen, die sich dabei halb öffneten:
Und es kam so reizend heraus, daß er die Arme noch einmal um sie warf. Er ließ sie heruntergleiten, und während er die warmen runden Schultern fühlte, blieben sie Mund auf Mund. Als sich ihm die Wangen näßten, hielt er Laetitia mit gestreckten Armen von sich und fragte erschrocken:
»Was hast du?«
Sie blickte ihn zärtlich an, traurig zugleich, und nannte ihr Glück in ihrer Muttersprache:
» Que je suis donc heureuse!«
Er umspannte ihren Leib und sprach dicht bei ihr:
»Warum weinst du, wenn du glücklich bist?«
»Ich weiß nicht, ist es schlecht?«
»Glaubst du, mir kämen nicht auch solch entsetzliche Gedanken?«
»Aber kann es böse sein, weil unsere Völker getrennt sind?«
»Einmal wird Frieden. Ich will auf dich warten!«
»Warum warten?«
»Du bist nicht frei, Laetitia! Ich will dich achten können später! Ich will von dir wissen, daß du über den anderen stehst. Meine Frau muß hoch über den anderen stehen. Oder es ist nur Gewöhnliches gewesen, was uns hier zusammenführt.«
Alle Sinne, die den ganzen Krieg geruht, drängten zu dieser Frau, aber gewöhnt, sich zu beherrschen, wollte er nicht im Rausch der Stunde verderben, was ihn dann ein Leben lang gereut hätte. Ihre dunklen Augen verschwammen. Sie sah ihn erschrocken an. Ihre Hände glitten herunter an seinem Hals und umspannten ihn über dem Kragen. Sie küßte ihn auf den Mund. Sie schüttelte leise den Kopf. Zwei Welten, zwei Rassen begriffen einander nicht. Das ewige Rätsel, daß Menschen einer vom andern entfernt nur ahnen können, was auch in dem geliebtesten Wesen vorgeht, selbst wenn Mann und Weib ineinanderfließend sich verbinden.
Da sagte er ihr ruhig, er begehre sie, aber drüben, drüben jenseits der Gräben sei ihr Mann. Und als hätte der Gedanke allein an alles, was da draußen geschah, in ihm den Soldaten geweckt, dachte er an den Angriff, den glücklichen, den von ihm angesetzten. Draußen lagen seine Kameraden, die das Leben gelassen hatten für ihr Vaterland, – noch unbeerdigt. Unbeerdigt wie jener, den der Tod einen Finger breit neben ihm ereilt. Verwundet lag drüben jener, der, er wußte es, wenn er auch nie darüber sprach, einmal seine Schwester heimführen würde, jener, der gewiß nie an ein französisches Weib dachte. Und er meinte, jeden Augenblick könne unten der Fernsprecher klingeln, er würde gerufen werden, weil draußen die eben genommene Stellung wieder schwer umkämpft war. Sinnlichkeit, Liebe, Nebendinge dieses Lebens, solange das Vaterland um seine Geltung rang, schienen erdenfern. Mit einem Schlage sank nieder, was Männliches und Menschliches in ihm sich geregt. Er riß sich los, einmal umfaßte er sie noch und sie schloß in Seligkeit die Augen.
Als die Glut jahrelang tapfer zurückgedrängter Sinne den Augenblick der Erfüllung ersehnte, war sie allein. Aber sie meinte, er sei nur hinüber, sank noch einmal selig zurück, die Arme schlaff zur Seite, den Körper sehnend gestreckt, die Glieder gelöst, in halbem Verlöschen ihrer wilderregten Natur.
Er stand in seinem Zimmer, frei, entladen, beglückt, daß er Sieger geblieben war über sich selbst. Und als brauche er Beschäftigung, müsse Menschen sehen, Dinge, die ihn abzogen, ging er hinab, um zu fragen, ob etwa von draußen neue Meldungen gekommen wären. Unteroffizier Rosenthal stand vom Fernsprecher stramm auf und sah ihn an mit den schwarzen orientalischen Augen, blauschwarz Kinn und Wangen, weil seit dem vorigen Morgen unrasiert. Der Generalstabsoffizier fragte:
»Ist über Verluste noch etwas gekommen?«
»Nein, Herr Major.«
Wie im Selbstgespräch fuhr der fort:
»Ja, ohne das geht's nicht ab. Aber glauben Sie, Rosenthal, die Verantwortung zehrte nicht auch an einem, für Menschenleben, die man in der Hand hält, man möchte sagen wie der Schöpfer selbst? Die Verantwortung frißt Nerven. Durch das Schönste und Liebste sich nicht vom Wege locken lassen, das ist deutsche Soldatenart!«
Als er merkte, wie der Unteroffizier ihn erstaunt ansah, begann er ableitend zu erklären:
»Man kommt auf solche Gedanken, wenn einem Menschliches ganz nahe tritt. Gestern früh fiel ein Mann an meiner Seite. Er oder ich. Es handelte sich um Zentimeter. Aber überwinden muß man sich auch, hinten in der Leitung zu sein, im Gehirn, das die Glieder, die losschlagen sollen, lenkt. Uns alten Familien liegt der Trieb vorwärts im Blut. Ich wäre glücklicher, könnte ich jetzt im Kriege meine alte Schwadron führen. Es ist unseren Familien eingeboren vom Vater auf den Sohn.«
Als er des Unteroffiziers fast traurige Augen sah, war es ihm, der von sich und seiner Rasse gesprochen, ihm, der die Schreiberseelen nicht mochte, als könne er dem anderen wehgetan haben. Und in seiner vornehmen Weise bemüht, Unrecht gutzumachen, sagte er:
»Nun, jeder tut seine Pflicht dort, wo er hingestellt ist.«
Da faßte sich der Unteroffizier ein Herz. Er, der einst leicht schnodderig das Maul vornweg gehabt, das nun hier militärisch geschlossen blieb:
»Herr Major, ich möchte so gern raus an die Front. Zwei Brüder von mir waren in der Front.«
»Waren?«
»Einer ist verwundet, einer gefallen.«
In seinen Worten lag ein übertrieben rühmender Stolz, und der Major, dessen Anschauung das als selbstverständlich galt, meinte einen Augenblick erkältet:
»Das ist Kriegsschicksal.«
»Herr Major, dürfte ich nicht gehorsamst um Urlaub bitten, und wenn's nur vierzehn Tage wären in den Schützengraben?«
Der Generalstabsoffizier sagte freundlich:
»Ich werde mit Major Rennhöfer sprechen. Solange es ruhig bleibt, geht es vielleicht, aber sehen Sie, ich kann auch nicht fort wie ich will. Nicht wahr, Sie sind Kaufmann? Berliner? Wo sind Sie beschäftigt gewesen?«
Er nannte ein großes Warenhaus.
»Welche Stellung hatten Sie dort?«
»Rayonchef, Herr Major.«
Teilnehmend fragte der Major nach den Erwerbsverhältnissen und ließ sich erzählen, daß eine ganze Anzahl früherer Untergebener des Unteroffiziers bei der Division in der Front ständen. Dann fragte er Unteroffizier Rosenthal plötzlich nach seiner Konfession.
Der Herr von Esserte reichte dem Unteroffizier Rosenthal die Hand über den Tisch:
»Meine Hochachtung. Ich verachte Leute, die um äußerer Vorteile willen sich dessen begeben, was ihre Väter glaubten. Ich bin guter Protestant. Ich werde für Sie tun, was ich kann. Ich liebe alles, was echt und ganz ist.«
Er ging zur Tür, machte aber noch einmal Kehrt:
»Sagen Sie mal, wie sind Ihre Verhältnisse zu Haus?«
»Ich ernähre meine Mutter, Herr Major.«
»Und Sie wollen trotzdem hinaus?«
Der Unteroffizier stand ganz stramm, nicht wie der Weinhändler aus Bordeaux, aber in seiner Art zu sprechen war etwas ganz leise Gemachtes, so ehrlich es ihm aus tiefstem Herzen kam:
»Meine Mama würde stolz sein für die Familie.«
Der Major nickte und verschwand. Unteroffizier Rosenthal saß am Fernsprecher, träumend von der Möglichkeit hinauszukommen. Das Kreuz von Eisen hätte er sich gern verdient.
Major von Esserte ging durch den Hof. Die Pioniere hatten einen von Klostermanns Scheinwerfern montiert und arbeiteten nun auch nachts bei Azetylenlicht. Schon waren die Eisenträger eingezogen, die Notverstärkungsdecke, mit Beton gefüllt, hob sich hoch im Erdgeschoß des Anbaues, dessen Räume man hatte opfern müssen. Der Major sah müde der Arbeit zu, und als er im Dunkel sein Lager suchte, schlief er so fest ein, daß ihn am Morgen der getreue Kinzig kaum wecken konnte, obwohl die Kanonen wieder donnerten. Die Mädchen liefen immer abwechselnd, mit flatternden Röcken und wehendem Haar, bei dem ständigen Windgebraus bis zur Parkecke, um ängstlich festzustellen, ob die Granaten näherrückten. Aber nirgends sah man eine ihrer Säulen steigen. Der trübe Himmel war gleichmäßig grau, nicht einmal ein helles Schrapnellwölkchen unterbrach die eintönige Fläche.
Die Meldungen vom Angriff lauteten heute noch günstiger. Die genommene Stellung erwies sich immer mehr als wichtige Verbesserung. In der Nacht hatte man die Opfer des Sturmes hereinholen können bis auf den letzten Mann. Major von Esserte sah die Liste durch. Ein Hauptmann und zwei Leutnants waren dabei, Herren, die der Generalstabsoffizier nur flüchtig gekannt. Und es war ihm eine Erleichterung, daß er den Namen Kropp nicht fand. –
Nachmittags hatte Major Rennhöfer wegen seines Sägewerkes, das die Division nun glücklich behalten, in Bobines zu tun, so benutzte der »Großindustrielle« die Gelegenheit, beim Kriegslazarett vorzufahren. Im Hof der Schule, die jetzt den Verwundeten diente, hielt eine Stabsordonnanz ein paar Pferde. Der Major fragte die erstbeste Schwester nach Oberleutnant von Bißwang, und der Zufall wollte es, daß grade sie ihn pflegte. Sie war nur einmal heruntergekommen, um Luft zu schöpfen, während er Besuch hatte. Mit freundlichem Lächeln erzählte sie, und strich sich dabei immer das blonde Haar aus der Stirn, Exzellenz von Kitzingen sei gerade da. Der Chefarzt habe ihn gestern nicht vorgelassen. Die Schwester strahlte über das frische Gesicht mit den nordischen Blauaugen, als sie sagen konnte, Henn von Bißwang ginge es nach Möglichkeit gut. Auf der Treppe begegneten ihnen Verwundete in hellen gestreiften Anzügen, den Arm in der Binde oder einen Verband um den Kopf. Einer, den eine Schwester führte, versuchte eine Ehrenerweisung, wäre fast ausgerutscht dabei und sagte nun treuherzig, als ob er gefragt worden sei: »Hoppla, Herr Major!«
Auf dem Treppenabsatz stand ein Arzt im Operationskittel. Die Hände in Gummihandschuhen von sich abgespreizt haltend, sprach er mit der dicken bebrillten Oberin.
»Grüß Gott, Herr Major. Kann Ihnen leider die Hand net reichen!«
»Guten Tag, Herr Geheimrat.«
Auf dem Gang klang eine laute Stimme. Ein General, neben dem ein Ulanenrittmeister schritt, rief schon von weitem:
»Sie wollen wohl meinen Neffen besuchen?«
»Zu Befehl, Exzellenz.«
Der General blieb stehen, hager von Angesicht, aber mit der leichten Körperfülle der Jahre:
»Nur nicht zu lange. Habe auch erst heute die Erlaubnis bekommen. Lassen Sie sich nichts vorschwindeln, er ist zwar quietschvergnügt, soll aber gestern recht runter gewesen sein. Der bekannte Rückschlag. Ihr habt ja das famos gemacht gestern mit dem Angriff. Die Grenadiere haben sich wieder als ungewöhnliche Kräfte bewährt. Sagen Sie Ihrem General, ich sähe etwaigen Vorschlägen entgegen. Die Brüder Kropp sollen sich besonders ausgezeichnet haben! Der Vater der beiden war meine beste Kraft. Seinerzeit mein Leutnant, wie ich 'ne Kompagnie hatte bei den Franzern.«
Er grüßte etwas feierlich; ein so wohlwollender Mann der ausgezeichnete Führer auch war: er gab selten die Hand. Das war Stil so beim 153. A. K., genau wie ein bißchen Eigensinn und die Vorliebe für bestimmte Worte, mit der eine »Kraft« bezeichnet wurde. Alles Dinge, die auf den ganzen Stab abgefärbt hatten.
Die blonde Schwester ging voran. Lächelnd schlich sie sich hinein und kam wieder mit einem Liebreiz, der Madame de Beaucourt nichts nachgab.
Bißwang wollte sich im Bette aufrichten, doch die Schwester verbot es:
»Herr Major, er darf sich nicht aufregen und …«
Der Verwundete vollendete ihren Satz:
»... in fünf Minuten bin ich wieder da, länger darf es nicht dauern.«
Die Schwester drohte lächelnd mit dem Finger und ging leise hinaus. Die Offiziere reichten sich die linke Hand, dann ließ der Major sich erzählen.
»Ich kenne ja nun schon den Rummel,«sagte Bißwang. »Mit meiner Schnauze war es fast genau so. Ich wollte die Kerle in Sicherheit bringen, da haut's plötzlich rein. Ich denke, mich schlägt einer gegen die Schulter, will mich rumdrehen, ihm eine runterzulangen. Na, da wußte ich schon, was los war. Hasenclever und General Flurschütz haben mich verbunden. Eigentlich, 's ist komisch, weiß ich übrigens nicht viel mehr. Nur die Fahrt war eklig. Meine ganze Uniform habe ich mir vollgesaut. Und Ihr Auto ganz voll. Ich kann wirklich nichts dafür.«
Major Rennhöfer lachte:
»Aber Bißwang, machen Sie sich doch darüber keine Sorgen! Übrigens reden Sie nicht so viel, sonst gehe ich gleich wieder fort.«
Doch der Verwundete ereiferte sich:
»Mir ist ja wieder ganz wohl. Gestern war's scheußlich. Wissen Sie, nach dem frischen Leben da draußen, dem Bumbum, plötzlich diese Totenstille. Nischt los hier. Gräßlich. Na, ich bleibe ja nicht lange. In ein paar Tagen bin ich wieder draußen.«
Dann erzählte er, General von Flurschütz sei dagewesen und habe ihm vor Freude, daß er nicht »abgefahren« sei, einen Kuß gegeben, einen richtiggehenden Kuß. Eben wäre auch der »große Onkel Kitzingen« dagewesen, kurz, es risse hier nicht ab. Plötzlich senkte der Kürassier die Stimme:
»Herr Major, würden Sie so gut sein, mir auf den Brief hier die Adresse zu schreiben? Die Schwester darf nämlich nicht wissen, daß ich geschrieben habe. Ich habe ein paar Stunden dazu gebraucht. Mit der linken Hand, und immer verstecken müssen, wenn sie kam. Übrigens, wie mein großer Onkel sagen würde: »vorzügliche Kraft«. Einen Bleistift hatte ich ja Gott sei Dank, aber ich sage Ihnen, Herr Major, welche Schlauheit ich mir habe aus meinem alten Hirn quetschen müssen, um das Briefpapier zu ergattern. 'n Morphinist, der um 'ne Einspritzung betrügt, ist daneben 'ne Revolverkanone neben der dicken Berta.«
Major Rennhöfer zog einen Füllfederhalter aus der Tasche. Bißwang diktierte:
»Also: Fräulein Stine von Esserte, Hannover, Vahrenwalder Straße 17. Feldpost.«
Major Rennhöfer meinte, er wolle sich doch als Absender darauf setzen, er sei gänzlich neutral. Der Verwundete lachte, verzog aber dabei schmerzlich das Gesicht, denn es tat ihm weh:
»Nee, Herr Major, mein Name kann ruhig draufstehen, denn wenn diese ganze Schweinerei hier mal vorüber ist, heiraten wir, obwohl wir vor den Menschen, die's ja nichts angeht, nicht verlobt sind. Aber vor uns. Das heißt, wenn sie mich noch nimmt. Ohne Nase hat sie mich nämlich noch nicht gesehen.«
Ganz langsam ging die Tür auf. Die Schwester trat ein mit ihrem schwebenden leisen Gang, strich die blonde Haarlocke aus der Stirn und blieb lächelnd stehen, als wollte sie sagen: Es tut mir sehr leid, aber es ist Zeit.
Der Chefarzt sagte draußen dem Major, der Verwundete hätte zwar eine Mordsnatur, aber von acht Tagen, wie Herr von Bißwang sich das einbilde, könne gar keine Rede sein. Da Befehl gekommen sei, die Lazarette möglichst zu räumen, würde er ihn mit dem nächsten Lazarettzuge zurückschicken. Bis zu völliger Felddienstfähigkeit könnten dann möglicherweise noch Monate vergehen. – –
Major von Esserte zog auf seinem Zimmer den Mantel an. Er sollte den Generalleutnant nach Ralinghien, dem Dorf, begleiten, wo nach Sonnenuntergang das Begräbnis der beim Angriff Gefallenen stattfand. Der Divisionskommandeur wollte den Toten im Namen des Vaterlandes selbst den letzten Dank abstatten. Sie waren bei der Division ernst gestimmt, denn die Nachrichten mehrten sich, die darauf schließen ließen, daß der Gegner etwas plane. Wo schien freilich ungewiß. Man sprach von Armentières, andere redeten von einem Gegenstoß bei Ypern, um sich der drohenden Umklammerung zu entziehen. Man hatte die Möglichkeit ins Auge gefaßt, die Schwesterdivision der Division Greger könne aus der Champagne herübergeholt werden. Welche freilich wieder wollten von Umgruppierung wissen. Glaubte man den einen, so würden von Rußland neue Kräfte herüberkommen, nach anderen sollte ein neugebildetes Korps aus der Heimat eingesetzt werden und die Division herausgezogen, die hier, ein taktischer Fremdkörper, zwischen zwei Armeekorps steckte. Einst war dem Generalstabsoffizier, dem Befehlsautomaten der Kriegsakademie, nichts lieber gewesen als Bewegung. Der Generalleutnant wie er, gleichmäßig mit dem Vermögen eines Schnellsichanpassens an veränderte Verhältnisse begabt, schienen besonders geeignet zu solchem Hin und Her, das den Scherznamen der Reisedivision gezeitigt hatte. Und nun geriet Major von Esserte mit einemmal in Unruhe über die Möglichkeit, sie könnten fortkommen. Schon der Gedanke des Korps, der Divisionsstab solle nach La Grenouillère zurückgehen, hatte ihn dauernd so erregt, daß er bemüht gewesen war, von seinem General eine Äußerung zu erlangen, er möchte hier bleiben. Für alle Fälle war es gerade Major von Esserte gewesen, der den ganzen Nachmittag die Pioniere angetrieben hatte, so daß ihr Werk, wenn auch noch nicht trocken, so doch vollendet dastand. Ja, derart hatte er sich dafür eingesetzt, daß bei ein paar der jüngeren Herren sogar der Gedanke aufgekommen war, der Generalstäbler, den sie doch als Ritter ohne Furcht und Tadel kannten, habe ein wenig die Nerven verloren.
Es war etwas daran. Die Ruhe dieses selbstsicheren Mannes schien erschüttert durch eine Frau, an die er in jedem unbeschäftigten Augenblick dachte. Er fühlte sich umgeworfen in seinem ganzen Wesen, unstet, unsicher im Entschluß, glücklich und unglücklich zugleich. Er hatte, ehe er hinüberging, die Toten zu begraben, Laetitia noch einmal sehen wollen, dann wieder war es ihm in seiner empfindlichen Seele, als beginge er an jenen ein Unrecht, die für ihn, für sie alle ihr Leben gelassen hatten. Zu dem Ernst der Stunde paßten nicht Liebeständelei, Hirtenflöten und Harfenklang. Und doch wieder warf es ihn um, nichts von ihr zu wissen, denn hier nutzte er nicht die Gunst der Stunde, sondern es ging um sein Lebensglück.
Er schnallte eben den Gurt mit dem Revolver um, setzte den Helm auf und zog die Handschuhe an, als ein Klopfen klang.
»Herein« sagte er erstaunt. Rennhöfer pochte doch anders? Laetitia schlüpfte ins Zimmer. Sie sah sein unwilliges Gesicht, aber sie warf ihm die Arme um den Hals:
»Ich warte den ganzen Tag!«
»Ich hatte zu tun.«
»Immer zu tun!«
»Es ist Krieg.«
» Cette terrible guerre!«
Er zog ihre Hände vom Halse herab:
»Aber du darfst nicht zu mir kommen! Das ist leichtsinnig.«
»Ich bin allein den ganzen Tag. Ich abe gewartet den ganzen Tag.«
Er zog unwillig die Stirn zusammen. Sie fragte:
»Warum bist du gegangen, cette nuit?«
»Laetitia! Ich sage es dir heute abend, wenn ich wiederkomme. Jetzt muß ich fort.«
Die Unbeschäftigte, Gelangweilte begriff ihn nicht:
»Wo gehst du hin?«
»Zum Begräbnis.«
Sie ließ die Hände sinken:
»Muß denn alles sterben in diesem Kriege! C'est écoeurant!«
Da rührten sich in dem Unbewegten die Nerven:
»Haben wir ihn gewollt?«
Das lebhafte Temperament ihres Volkes zuckte in ihr auf:
»Wer hat erklärt den Krieg? Le ›Kaiser‹!«
Jäher Zorn schüttelte ihn, Zorn über sich, Zorn für sein Vaterland:
»Wenn man nachts allein auf der Straße geht, und ein halbes Dutzend Strolche lauern einem auf, dann wartet man nicht bis sie einen niederschlagen, dann greift man zuerst an.«
Ihre Augen blitzten:
» Et la Belgique?«
Er wurde bleich, küßte kalt ihre Hand und sagte ruhig:
»Ich muß fort.«
Sie aber, plötzlich gewandelt, klammerte sich an ihn.
Er fühlte ihren Körper beben, wie sie bat:
» Pardonne moi! Je t'en prie! Pardonne moi! Und du wirst kommen?«
Überwunden antwortete er:
»Ich komme!«
Sie küßten einander, dann ließ er sie hinaus. Unten wartete schon der Generalleutnant. Es war das erstemal, daß der Generalstabsoffizier der Division zu spät kam. Aber der General schien nichts davon zu merken. Sie schritten bedächtig durch den Park, denn eine bestimmte Stunde war nicht festgesetzt, nur ruhig sollte es draußen sein, damit nicht bei dem Begräbnis neue Menschenleben in Gefahr kämen. Die Sonne stand noch am Himmel, nun es dem Frühjahr entgegen ging. Durch die lange, vierfache Baumreihe, die zu der kleinen Kapelle führte, fielen schräg ihre Strahlen, so daß es bei dem augenblendenden Wechsel zwischen Licht und Schatten war, als schritten sie längs eines Gitters. Der General, rechts, wendete den Kopf ab von dem störenden Flimmerspiel zu seinem Begleiter und erzählte, wie es seinem Sohne ginge, etwas, das ihn immer zu beschäftigen schien. Er sprach von dem Nachschub an Offizieren und Mannschaften, der in den letzten Tagen eingetroffen war, von russischen Festungen, von Kämpfen am Duklapaß, während der Major schwieg, noch aufgewühlt in seiner Seele. Über dem Gespräch waren sie zu der kleinen Kapelle gekommen, durch deren zu Schießscharten ausgebrochene Wände das rote Licht der sinkenden Sonne glühend fiel und auf dem Kalkstaub des Bodens blutige Flecken malte. Man sah das ganze armselige Innere, denn die Tür fehlte. Vielleicht schloß sie jetzt einen Unterstand, vielleicht schützte sie als Schrapnellbrücke, dachgleich über einen Graben gelegt und mit Erde bestreut, deutsche Soldaten. Wer mochte es wissen? Links vom auf dem freien Feld trauerte die zerschossene Mühle, deren Flügel noch immer ausgespannt lagen, als hätte eine gewaltige Libelle sich auf dem Trümmerhaufen niedergelassen. Rechts vor ihnen zeigten sich die sonnenbrandumlohten Häuser von Ralinghien, dem Dorf. Sie beschleunigten die Schritte, der Bahn entlang, die zur Yperner Straße und nach Opendaele führte. Granaten hatten die Schienen aufgebogen, daran die Schwellen noch schwebend hingen. Auf dem Gleise wuchs dürres Gras, und den ganzen Schienenweg hin zogen verlassene, durch den Regen verwaschene englische Schützengräben, in denen noch Patronengurte, Konservenbüchsen oder etwa der Schaft eines zerbrochenen Gewehres trauerten. Wo die Gräben verschüttet lagen, mochten unter der Erde wohl Sikhs und Gurkhas von ihrem fernen Sonnenlande träumen, Iren von der grünen Insel, Schotten von ihren Seen, Engländer von gestörter Weltherrschaft. Die Häuser am Dorfeingang, allein niedriges Ziegelerdgeschoß, bedeuteten nichts mehr als ausgebrannte Schuttstätten, mit dem Wappen des Landes: Estaminet. Nur dieses schien überall erhalten, während aus den Trümmern verbogene Eisenstangen, Türstöcke, Fensterläden ragten. In verlassenen Häusern, das Dach nicht mehr als ein Fischgerippe ziegelloser Balken, die Decken durchgekracht, die Mauern eingebogen, die Fenster gläserlos, jammerten blind einst metallfroh leuchtende niedrige Eisenöfen. Schenktische standen umgestürzt, Rohrsessel, lahm und schief, allerlei zerschmetterter Hausrat krönte Trümmer, und Splitterhaufen von Gläsern, Tellern, von allem, das einst atmende, essende, fröhlich trinkende Menschen gebraucht hatten. Feldgraue hier und dort nahmen Stellung vor dem General. Wo eine Seitengasse abging, deuteten Wegweiser das Brigadestabsquartier, das Regiment, die Ortskommandantur, Opendaele, Belvoorde, die Yperner Straße. Welche hingen nieder, flügellahm vom letzten Schrapnell. Der Mitte des Dorfes entgegen waren die Häuser weniger versehrt. Dort standen alte Leute, trübselig, tatenlos: Das mochten die Staes sein, die Dubruc, Père Groche, die Vandamme. Dort sah man einen Ochsen kindlich abgemalt aus dem Ladenschilde von Henri Verbeke, dem Fleischer. Das alte Weib im weißen Häubchen, das da mit krummem Rücken auf einen Stock gestützt in der Haustür stand, war es vielleicht mère Célestine?
Das Brigadestabsquartier, das ansehnlichste Gebäude des Ortes, mit städtischen Balkonen, steilem, französischem Schieferdach, tiefen Fenstern, holzverschalt, da die Scheiben längst der Lufterschütterung nachgegeben hatten, war an der ganzen Straßenseite von Schrapnellkugeln durchsiebt. Man sah den rückwärts in den Garten hinausgebauten Unterstand, in dem Baron de Battaignies so reich verpflegt worden war. Major von Esserte rief einen Grenadier an, der in gestrickter Wolljacke am Unterstand beschaulich seine Pfeife rauchte:
»Herr General hier?«
»Der Herr General ist schon zum Soldatenfriedhof gegangen, Herr Major!«
Aus den Schrapnellspuren an den Häusern konnte man die Himmelsrichtung deuten. Die östliche Schauseite war zerfleischt, wie wenn einer mit grober Spitzhacke Fresken unter spätem Verputz hat freilegen wollen. Die westliche zeigte kaum ein Kugelloch, nur bisweilen einmal ein ganzes Zimmer bloßgelegt durch eine irrende Granate. Man hatte die Kelleröffnungen mit Sandsäcken, Balken, Erde verbaut, an wichtigen oder bestrichenen Stellen Ziegel, Sandsackmauern errichtet. Die Einwohner steckten den Kopf aus zerklirrten Fenstern, aus Kellerluken blickten verwahrloste Kinder. Leute standen auf der Straße umher, schmutzig, kümmerlich gekleidet, in großen Holzschuhen, die Weiber mit wirrem Haar, alte Männer verschwitzte Tücher um den Hals: Ein elendes, nicht ohne eigene Schuld in Stumpfheit und Arbeitsscheu verkommenes Volk. Die ganze Dorfzeile hinauf sah man welche stehen, von der sterbenden Sonne rötlich bestrahlt, die Hand gegen die Blendung vor den Augen, wie sie hinausschauten, denn daß die Boches ihre Toten begruben, wußten sie alle.
Major von Esserte rief ein paar Burschen scharf an, die, beide Hände in den Taschen, mit krummem Rücken, keine Anstalt trafen, den Weg freizugeben. Das junge belgische Gesindel machte böse Gesichter, Raubtieren gleich, unter die der Bändiger tritt. Als aber der Generalleutnant, immer liebenswürdig, grüßte, zogen sie die schmierigen englischen Kappen.
Die Sonne sank hinter jene Bodenwelle, die Ralinghien von Belvoorde schied, und ihre Sonnenstrahlen fuhren in Bündeln empor, als ob Scheinwerfer den Himmel absuchten. Der brannte in rotgelbem Feuer, zu violett sich wandelnd, dann in gebrochenen Farben getönt, bald sterbend zu nächtlichem Grau.
Seitwärts, wo die Bahn den Ort streifte auf ihrem Wege nach Opendaele, ragten Kreuze hinter letzten Trümmerhäusern. Alte Weiber stumpften hier umher, nicht anders als auf Friedhöfen daheim. Auch ein paar junge Frauen, ein Kind auf dem Arm, Kinder an Hand und Schürze, hatte die Neugier herbeigeführt. Als der General vorüberschritt, grüßten sie mit armselig gebuchter Freundlichkeit. Kleine Mädchen hielten die Hände hin: » Charité«. Aber der Major wies sie zur Ortskommandantur: Dort würden sie Essen bekommen, war es doch die große Wandlung, ja die zauberhafte Rückkehr zu Urzeiten, daß Geld hier draußen, wo es keine Ware mehr zu verkaufen gab, nicht mehr bedeutete als irgendein Haderlump und Fetzen. Zwischen den Gräberreihen waren die Wege sorgsam mit hellem Kies bestreut, und auf jedem Hügel Blumen, und auf jedem Kreuz der Name, und unter jedem Namen Tag und Ort. Zwischen den Gräbern standen die Feldgrauen, deren liebster Ruheaufenthalt der Friedhof schien, war er doch der einzige nicht verwüstete Fleck dieses zerstörten Ralinghien. Sie ergingen sich hier draußen wie in Anlagen und Stadtpark der Heimat. Sie hatten diese Kreuze selbst gezimmert, und selbst in ihren freien Stunden bemalt. Sie hatten diese Gräber bepflanzt, sie jäteten Unkraut, sie begossen, sie schützten armselige Blümlein gegen Fröste. Täglich brachten sie Verbesserungen an, wer weiß, vielleicht einmal für sich? Drähte wurden gezogen, Gitter schmiedete man, Ausbläser versenkten sie als Schmuck in die Erde. Ein Zaun lief weit hinaus: es wurde noch Platz gebraucht, denn hier würden noch viele stumme Gäste erscheinen. Der Feldgrauen Erinnerungen webten um dieses Erdenstück, und mancher hielt wohl hier stille Zwiesprache mit der abgeschiedenen Seele eines Kameraden, den er erst im Kriege kennen gelernt, mit dem er ein halbes Jahr gewohnt, im Unterstand geschlafen, im Graben gelegen und gekämpft. Der vielleicht neben ihm gefallen war, dem er noch das Blut gefüllt, dem er im Sterben die Abschiedshand gedrückt, dessen letzten Auftrag er vernommen. Nur die Adresse, an die der Kamerad schreiben sollte: »Gestern starb den Heldentod für's Vaterland …« Den er rückwärts getragen, dem er das Grab geschaufelt, dem er den rohen Sarg gezimmert und den Hügel getürmt.
Hier, wo alles der Soldaten Werk war, saßen auch jetzt ein paar von den Leuten auf frischen Gräbern, spielten mit den feuchten Schollen, darunter der Kamerad lag. Sie standen auf, als ihr Divisionskommandeur vorüberschritt und drängten ihm nach, denn am Ende der langen Gasse warteten die Toten.
General von Flurschütz mit seinem Adjutanten grüßte, dann meldete Oberst von Verzehl, der schon lange schief dagestanden, um mit seinem einen Auge die Ankunft der Exzellenz zu sehen. Der dienstfreien Offiziere Hände waren im Winkel an die Mützen gehoben, dahinter hingen die der Mannschaft langgestreckt herab. Der Generalleutnant sagte den Feldgeistlichen beider Konfessionen ein paar Worte, dann trat er unter die Leute und drückte solchen, die der Oberst auszeichnend gerufen, die Hand. Der Oberst, der am liebsten jeden seines Regimentes vorgestellt hätte. Major von Esserte bat leise den Regimentsadjutanten, ihm den Sarg des Hofschauspielers zu zeigen. Der Oberleutnant flüsterte zurück:
»Wir hatten nur Holz für ein paar Leute. Major Rennhöfer hat es uns vom Sägewerk geschickt. Aber es reichte nicht. Ich habe Nummern dran gebunden.«
Wie nun die Sonne völlig gesunken war, sah man draußen am Westhimmel eine matte Helle aufsteigen, die gleich einem Blinkfeuer immer wieder erlosch: Der Gegner leuchtete das Reich der Mütter ab. Gegen Ypern zu blitzte es von Mündungsfeuern, dumpfer Kanonendonner rollte herüber.
Neben den frischen Gräberreihen lag der alte Friedhof von Ralinghien. Trotz der einsetzenden Dämmerung sah man noch hell die Grabmale ragen: Prunkvoll wilde Bauten, bisweilen Gartenhäuschen gleichsam auf den Gräbern, und überall, oft an hohen Schaugerüsten aufgetürmt, jene entsetzlichen, hutschachtelgleichen Behälter, unter deren Glasdeckeln Glasperlkränze zeigten, wie reich man des Toten gedacht und wie sparsam zugleich, denn dieser schmähliche Ersatz konnte nie welken. Manche solcher Abscheulichkeiten war von Geschossen zersplittert. Perlen blinkten und krachten am Boden unter dem Tritt. Kreuze lagen umgeworfen, Grüfte aufgedeckt: Ein Granattrichter ließ in der Tiefe einen gesprengten Sarg, etwas Entsetzliches wie Sterbekleid und zersetzten Menschen erraten, vom sinkenden Dunkel gnädig undeutlich gemacht.
Oberst von Verzehl wandte schief den Kopf zum Feinde hinaus, wo der Himmel flammte und zuckte, und fragte, ob Exzellenz den Beginn der Feier befehle, denn nun würde wohl Ruhe sein. Sie traten an die Reihe der Gefallenen: Helle Särge aus rohem Holz, dunkle Bündel mit dem Namenszettel, dessen weißes Papier leuchtete in der einbrechenden Nacht. Die Särge wurden hochgehoben; Knüppel hatte man durch die Zeltbahnen gesteckt. So trugen sie die arme liebe Last. Die beiden Feldgeistlichen schritten hinterdrein. Es folgte die hochragende Gestalt des Generalleutnants, vom Brigadekommandeur, vom Oberst begleitet. Dann kamen die Kameraden. Sie hatten keine Musik. Doch der Regimentsadjutant setzte ein: »Es ist bestimmt in Gottes Rat.« Und nun schwebten vor dem langen Zuge die Särge, mit ein paar Kirchendecken überworfen aus der Sakristei der zerstörten Kirche von Ralinghien, dem Dorf. Wie sie befehligt hatten beim Angriff, wurden sie getragen: Voran der Hauptmann, ein Oberleutnant, der Leutnant, Offiziersstellvertreter, Feldwebel, Vizefeldwebel, Unteroffiziere, Grenadiere. Sie waren alle dahin. An den Stangen, auf den Schultern, pendelten dunkle Körper schwer, tief am Boden. In dem neuen Ackerland der flandrischen Erde, das sich umzäunt hinausstreckte, immer frischen Menschendung aufzunehmen, setzten sie ihre Lasten ab. Den Hauptmann an seiner Grube allein. Die Leutnants mitsammen. Welchen hatten sie ein gemeinsames Bett gegeben. Am Ende der Reihe lag ein Grab nicht so tief wie die anderen, denn die Leute, die harte Arbeit gehabt, waren nicht fertig geworden.
Während die Offiziere, die Soldaten sich um die Gräber stellten, von der hohen Gestalt des Generalleutnants überragt, sagte der Regimentsadjutant leise zu Major von Esserte:
»Der letzte draußen, das ist er.«
Während an der ganzen Front draußen die Lichter zuckten, segneten die Feldgeistlichen, ein großer im Bart, und der kleine runde, der François, den Knecht, begraben hatte, die Toten ein. Sie redeten nicht Worte der Gewohnheit. Sie, die täglich mit den Leuten verkehrten, den Leuten, stündlich vom Tode bedroht und nun mit dem Tode vertraut, da sie Tür an Tür mit ihm wohnten, fanden Worte reiner Menschlichkeit. Die einfachen Männer, in ihren verbrauchten Felduniformen, traten näher an die Generäle heran, scharten sich um ihren Oberst, eine Familie, in einem Rocke vereint, dem Ehrenkleid des Königs, in einem Dienst gebunden, dem des Vaterlandes, für das jene, die da ruhten, ihr Leben hatten lassen müssen. Das etwa sagten die Feldgeistlichen. Dann sanken die Särge der Reihe nach hinab, an Heuriemen und Stricken, von den Bauern entlehnt, an Furagierleinen irgendeiner Kavallerieordonnanz. Man nahm die Zettel von den Zeltbahnen. Neben der Gruft wurden sie hingelegt und mit einem Steinchen beschwert.
Während der Generalleutnant mit lauter Stimme Abschiedsworte nachrief, flammte hell der Himmel und zwischen den Gräberreihen drängten mehr und mehr Leute heran. General von Flurschütz, der nicht gern redete, überließ den zweiten Nachruf dem Regimentskommandeur: Es wäre auch zu spät, zu dunkel geworden. Schon konnte man kaum mehr des Obersten Züge unterscheiden, der dicht an das große Grab trat. Wie bei allem Erschütternden der Erde Zufälligkeit peinlich drohen kann, stand Oberst von Befehl bei seinem geringen Sehvermögen so dicht an der finsteren Grube, daß schon die Erde niederbröckelte unter seinen Füßen, und der Regimentsadjutant, ängstlich zum Zugreifen bereit, die Hand hob. Der Oberst redete von jenen, die er fast jeden einzelnen gekannt, wie jeder einzelne ein ganzer Mann gewesen sei. Er sprach – sie waren meist Reservisten – von Frau und Kind, von ihrer, von aller Heimat, daß mancher Kopf tief niedersank.
Schon verschwammen die Gesichter in der Nacht. Nur wenn es aufleuchtete da vorn, sah man die dichtgedrängten Schattenrisse der Gestalten. Major von Esserte war die Reihe hinuntergeschritten bis zum letzten flachen kleinen Loch. Als er anhob zu sprechen, konnte man nicht mehr erkennen, wer da redete. Nur wenn es blitzte an der Front, sah man unter dem Helm Augengläser spiegeln:
»Kameraden! Jene sind gefeiert worden, die den Heldentod beim Angriff erlitten: Euer Hauptmann, die Offiziere, die vielen vielen tapferen Grenadiere. Unsere Freunde sind sie, voll jener großen Liebe, von der es in der Schrift heißt, es sei kein Größeres, als wer sein Leben lasse für seine Freunde. Erlaubt mir auch, ein Wort diesem nachzurufen, hier mir zu Füßen, der nicht unter ihnen war, der vorher gefallen ist bei jenem zähen Warten, Postenstehen, Spähen und Lauern, auf jener Wacht für unser großes, liebes, herrliches Vaterland, auf der wir hier seit Monaten stehen. Ich stand an seiner Seite, als er fiel. Ich hätte es sein können. Er ist es gewesen. Deshalb spreche ich zu euch. Unser Kamerad hat gewiß oft auf den Brettern das Sterben gespielt. Nun ist er wundersam erhöht über all sein Tun in Friedensjahren, wundersam erhöht über uns alle, die wir noch hier unten stehen. Als er mit seinen schönen blauen Augen glücklich hinausgesehen in die Friedenswelt, wäre es ihm vielleicht hart gewesen, zu scheiden. Hier in der Not des Vaterlandes ging er kurz und selig. ›Kein schönerer Tod ist in der Welt, als wer vorm Feind erschlagen.‹ Daran laßt uns immer alle denken, die wir hier vorm Feinde stehen. Nur an das. Wir wollen all unser Sinnen darauf richten, uns nicht ablenken zu lassen von unserem Ziel, wollen in diesem fremden Lande vergessen, was hinter uns lag, nicht rechts, nicht links blicken, nichts anknüpfen und nichts erwerben, sondern immer nur an das denken: Unser Vaterland sieht auf uns, sieht auf jeden von uns, der dadurch, mag er noch so einfach und bescheiden sein, wächst, denn seines ganzen Landes Augen sind auf ihn gerichtet. Eines jeden Arbeit ist gleich wichtig, gleich nötig für das Vaterland. Und wir wollen die Pflicht einlösen gegen unser Vaterland. Wir wollen derer mit unseren Waffen gedenken, die unsere Kameraden hier in die Grube gesandt. So wollen wir, und fände uns auch einmal eine schwache Stunde, nur an eines denken: An den Sieg, den Sieg über sich selbst, den Sieg über die dort vorn!«
Er wandte sich nach Westen, wo eben Leuchtraketen stiegen. Und als gelte es eine Ehrensalve für die Toten über das Grab, flammte am äußersten Friedhofsende der Lichtschein eines platzenden Geschosses auf, krachte ein naher Donner.
Alles fuhr herum. Die Feldgrauen, Mützen und Helme in der Hand, reckten die Hälse. Feuerschein zuckte irgendwo, deutlicher als je am Tage, und brach aus dem Boden. Glühende Zünder flogen, ein unerbetenes Feuerwerk, am Himmel hin. Es surrte, Eisen- und Steinsplitter schwirrten, Grüfte schienen ausgehoben.
Der Generalleutnant befahl:
»In die Unterstände!«
Während Ziegel krachten, Balken splitterten, Bretter brachen, Staubsäulen das gelbrote Licht der Granaten verfinsterten, klangen Befehle. »Trab!« rief der Oberst. Dann wandte er sich bitter zu der Reihe der offenen Gräber:
»Nicht einmal die Toten lassen sie uns bestatten!«
»Sie wissen nicht, wobei wir sind!« sagte General von Flurschütz, und während sie davoneilten, fügte er hinzu:
»Übrigens wenn sie's wüßten, täten sie's erst recht. Hier in die dicken Massen rein, das fleckt!«
Sie strömten zurück über Gräber, Wege, Umzäunung und Bahn. Die bärtigen »Barbaren« nahmen kleine Mädchen und Buben, die nicht so schnell laufen konnten, den erschrockenen Müttern ab. Die Toten blieben allein. Gegen die offenen Gräber standen die Kreuze beim Feuerschein, in dem der Himmel nun dauernd flammte.
Oberst von Verzehl trieb seine Leute in die Keller. Als alles verschwunden war, rasten nur er und sein Adjutant, sein vierter, auf der Dorfgasse umher und bedrohten jeden, der den Kopf herausstreckte. Einen Knaben, der neugierig, von gewissenloser Mutter nicht bewacht, mitten auf der von Feuerschein und Granatenplatzen erleuchteten Straße stand, nahm er beim Kragen und warf ihn in einen Hausflur, daß das Kind anfing zu brüllen, als wollte es das Krachen der Geschosse übertönen.
Hinter den Generälen schmetterte es in ein Haus. Als sie sich umblickten, sahen sie noch, wie die ganze Wand sich umlegte und polternd, schüttend über die Straße fiel. Im Unterstand der Brigade klang der Fernsprecher: ein englischer Angriff drohe. General von Flurschütz wollte nach Belvoorde zur Gefechtsstelle hinaus. Auf der Straße stellten die Grenadiere. Aus den Häusern kamen immer neue hinzu. Sie marschierten ab, durch den Geschoßschleier hindurch, in Gruppen verteilt, daß nicht ein Treffer alles würfe.
Generalleutnant Greger eilte mit Major von Esserte an der Kirchenmauer und an des Baron von Battaignies Höfen vorüber. Hinter ihnen wies ein brennendes Haus als Fackel den Weg. Während sie über das Feld eilten, der dunkeln Baumgruppe der Ferme zu, krachte es drüben wie Ziegelgepolter, daß der General sagte:
»Die schöne Allee! Jetzt haben sie glücklich auch die Kapelle kleingekriegt!«
Auf der Yperner Straße blitzten die Entladungen in einer Schnur, gleich einer Reihe blinkender Straßenlaternen, und Opendaele flammte. Als sie den Hof betraten, feierlich still, hell wie zu einem Fest erleuchtet, kam ihnen Major Rennhöfer entgegen:
»Gott sei Dank, Exzellenz! Wir waren wirklich schon besorgt. Drüben im Dorf muß es ja nett gewesen sein. Wir haben es von hier gesehen. Opendaele, die Kapelle, die Mühle, die ganze Yperner Straße, Belvoorde ist belegt wie noch nie. Exzellenz wissen, daß alarmiert ist. Leider ist das kleine Munitionsmagazin in Belvoorde in die Luft gegangen. Exzellenz, ich habe die Franzosen in den Keller geschickt. Auch die Leitungen schon unten anschließen lassen!«
Der General zog ruhig seine Handschuhe aus:
»Weshalb? Ist denn hier …«
»Exzellenz, wir haben schon elf Granaten in den Park gekriegt! Freilich mehr nach La Grenouillère zu.«
Major von Esserte sagte vor sich hin:
»Dort ist's eben auch nicht ruhiger!« Dann fragte er:
»Sind die Damen wirklich in Sicherheit?«
Major Rennhöfer lachte:
»Ich habe meine ganzen Schafe in den Pferch zusammengetrieben. Das war schwer. Mademoiselle Claire hatte das Gebetbuch vergessen. Papa Battaignies wollte noch seinen Schal holen!«
»Und Madame de Beaucourt?«
»Die wollte überhaupt nicht runter. Sie behauptete, ob sie umkäme oder nicht, wäre ihr ganz gleich.«
»Aber sie ist unten?«
»Jawohl, mit Decken, Essen, Jeanne, Nicolette, Scholastique, Stephanie, Margot, Madame Germallevoit. Nur der › maréchal-des-Logis‹, Monsieur Blaise, ist zum Deubel. Wahrscheinlich ausgerissen. Na, er wird schon irgendwo festgenommen werden.«
In dem Augenblick schmetterte es auf der anderen Hausseite. Die beiden Offiziere huschten hinein und Major Rennhöfer sagte:
»Nun geht's los!«