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Die Franzosen schienen die liebenswürdige Aufforderung des Generalleutnants zu übersehen, so daß Major von Esserte zu Hauptmann Rennhöfer sagte: »Exzellenz ist viel zu anständig. Das kommt davon, wenn man gegen diese Leute zu artig ist.«
Aber jener, dem das »Hauptquartier«, wie sie es scherzhaft nannten, unterstand, der somit ständig mit den Bewohnern des Hauses zu tun hatte, behauptete, man müsse doch suchen, mit den Leuten gut auszukommen. Major von Esserte schüttelte den Kopf:
»Nee, lieber Rennhöfer, hier handelt es sich gar nicht um auskommen. Wir sind hier die Herren. Sie haben uns zu gehorchen. Ob ihnen das paßt oder nicht, ist völlig gleichgültig!«
»Aber wir wollen einen guten Eindruck hinterlassen.«
»Können wir gar nicht. Sie schimpfen doch. Gerecht kann der Franzose überhaupt nicht denken, denn er lebt immer in Einbildungen. Die Rede des alten ›Patrioten‹ neulich klang ja ganz schön, aber bei allem, was die Franzosen sagen, ist Schwindel. Ich will nicht einmal behaupten, daß sie bewußt lügen, nein, sie berauschen sich an ihren eigenen Worten und glauben es dann selbst.«
Hauptmann Rennhöfer, kein Kampfhahn, das zeigte schon sein Lieblingswort: »Die Entwicklung wird es von selbst bringen«, ließ es bei jenem Lächeln bewenden, das ihm von empfindlichen Leuten schon oft als Spott ausgelegt worden war, und behielt seine Ansicht. Die fand ja auch Unterstützung bei seinem General, dem, menschlich gesprochen, sein Adjutant näher stand als der Generalstabsoffizier.
Zu gesellschaftlicher Artigkeit erzogen, die auch seinem Wesen lag, hatte der Augenblick ihm die Aufforderung an die Franzosen eingegeben. Daß sie ihr nicht nachkamen, dessen war er sich kaum bewußt. Er mochte seine liebenswürdigen Worte längst vergessen haben als ein Beschäftigter, dem zu Empfindlichkeiten die Zeit mangelte, denn es gab ständig zu tun. Nach der Tagesarbeit aber verlangte der General nichts anderes, als sich im Kreise seines Stabes auszuruhen. Dann wurden bei der Zigarette Ereignisse von der Front besprochen, mit der Karte in der Hand die Operationen auf fremden Kriegsschauplätzen verfolgt. Generalleutnant Greger pflegte auch mit dem Leutnant gern zu scherzen, ohne an seiner Würde sich zu vergeben. Nach Tisch saß er bald mit diesem, bald mit jenem seiner Herren. So hatte man sich gewöhnt, ihm heitere oder betrübliche Nachrichten vom Felde wie daheim zu erzählen. Dann tröstete der General oder lachte mit. Hauptmann Rennhöfer unterstützte diesen kameradschaftlichen Geist, der die 347. I. D. zu einer großen Familie hatte werden lassen. Wie es in der Familie sich gehört, wurden denn auch Familienfeste gefeiert. Der Divisionsadjutant kannte Geburtstage, Hochzeitstage, kurz jeden Gedenktag im Leben der Kameraden. Er sorgte dafür, daß es dann bei Tisch etwas besonderes gab und die dicke Köchin eine Torte buk, die zum bassen Staunen der Franzosen mit brennenden Lichtern hereingetragen wurde.
Aber nicht bei Wiegenfesten allein erschien der flammende Kuchen. Nein, die Herren hatten einen solchen Gefallen daran gefunden, daß man zu jeder Gelegenheit die Kerzen entzündete. Als nun eines Tages der Divisionsadjutant Hauptmann Rennhöfer zum Major befördert war mit noch einigen anderen Herren der Division, stand es fest, die Lichter würden brennen. –
Draußen an der Front war es längst ruhig geworden. Kein Angriff unterbrach die Stille der Tage. Das deutsche Heer hatte jenen Abschnitt erreicht, in dem als eherne Mauer nur so viel Kräfte gebunden blieben, als nötig erschienen, dem Gegner Halt zu gebieten. Den Kämpfern drüben im Osten gab die treue Wacht hier erst Grundlage und Möglichkeit zum Siege. Diese lauernde Halbruhe verschob aber nun völlig das Bild des Krieges und wandelte den vorwärtsstrebenden, beweglichen, allmählich zum befestigten Lagerleben. Aber keine faule Ruhe machte sich breit: Immer gab es zu erhalten, Neues zu ersinnen; man arbeitete am Verbessern der Stellungen, an Beheizung, an Beleuchtung. Man richtete sich für den Winter ein. Er war ins Land gekommen, trübe, neblig, stürmereich, regenschwer. Schnee fiel wohl, aber der ständige Wind, der hier in Flandern vom Kanal herüber blies, hatte bei der trüben Wärme des Tages ihn bald erweicht und aufgesogen. In jener fetten Lehmschicht, die das Land fruchtbar machte, ihm aber ewige Nässe verlieh, lag das Wasser gebunden wie in einem Schwamm. Nur in den Granattrichtern, gelb von englischen Stinkgeschossen, standen Wasserspiegel, mit leichter Eisschicht bedeckt.
So auch im Park von Ralinghien, über dem gerade an jenem Tage, als das Majorsfest gefeiert werden sollte, düster die Nebel geisterten. Dunst war auf die Felder gesunken rund um den Hof. Dunst wälzte sich hin, vom Winde getrieben, der sich nachmittags aufgemacht hatte und nun fast zum Sturme wuchs. Major von Esserte war nicht geritten, er hatte seit frühem Tage noch nicht vom Schreibtisch aufblicken können. Da er nun eine Aufstellung erwartete über alles Behelfsmäßige, das im Rahmen der Division hergestellt worden, um diese dann dem Korps weiterzureichen, nachdem daraus Schlüsse, Anforderungen, Bitten gezogen waren, so hatte er die Pferde durch den Burschen bewegen lassen. Er selbst aber ging, im Mantel, den Kragen in die Höhe geschlagen, in einem Eilschritt, wie ihn Baron de Battaignies liebte, den großen Baumweg hinab, der nach Bobines führte. Auf dem Felde draußen wurde Jungmannschaft an Lehrschützengräben ausgebildet. Es krachte in Abständen: die neuen jungen Soldaten lernten das Handgranatenwerfen. Der Generalstäbler sah, den Kopf gegen den Wind geneigt, von weitem zu, wie einer über dem Graben erschien, mit weit ausholendem Arme schleuderte, um sofort wieder unterzutauchen, wenn nach der Entladung die Sprengstücke flogen. Es klirrte seltsam jedesmal, und der Major ging über das Feld, versinkend in Dreck und Lehm – den Unteroffizier darüber zu befragen. Der zeigte leere Flaschen, die sie da vom als Ziel aufgestellt hatten, um die Wurfsicherheit der Leute zu erproben. Major von Esserte stieg in den Graben hinab, fragte, wo die Rekruten lägen, ob sich bei ihnen auch alte Mannschaft von vorn in Ruhestellung befände und seit wann sie draußen in Frankreich wären. Er versuchte einen Scherz, doch wie immer hatten seine freundlichen Worte etwas von Absicht und Mühe, wenn es auch diese jungen Soldaten, die militärisch noch zu sehr die ungewohnte Anwesenheit eines fremden Stabsoffiziers beschäftigte, nicht empfanden. Sowohl im Pflichtwunsche, alles selbst kennen zu lernen, wie um den Leuten ein Beispiel zu geben, warf der Major eine Handgranate. Doch sie entglitt ihm vorzeitig und platzte nun zu früh und zu nah. Er scherzte:
»Man hat eben keine Übung, wäre das außerhalb des Grabens gewesen, so hätte der ›Stöpsel‹ leicht weg sein können.«
Das Wort, das der Sprechweise der Leute sich nähern sollte, lag ihm im Grunde nicht. Der Unteroffizier wollte den lehmbeschmutzten Mantel abklopfen, doch Major von Esserte dankte, grüßte und ging, nun er doch kaum mehr bespritzt sein konnte, als er es schon war, querfeldein nach Ralinghien zurück. Bald klang hinter ihm wieder das Platzen der Handgranaten.
Nach einer Viertelstunde kam er an den Park, vom schlammigen Wassergraben umsäumt. Herr von Esserte patschte hinein und erklomm durch Dornen und Gestrüpp die andere Seite. Hier lagen im Unterholz noch halb in den Schmutz getretene Kleidungsstücke: eine Wolljacke, ein zerfetzter englischer Mantel. Dazu eine leere Kiste, auf der eine englische Konservenfirma stand. Der Sturm hatte Weg und Rasen mit abgerissenen Zweigen übersät.
Auch über Gräber waren sie gefallen, die wie überall, wo der Kampf getobt, friedlich nebeneinander Franzosen, Engländer, Deutsche deckten; nun, wo ihre Seele diese granatenüberschüttete Erde verlassen, keine Feinde mehr. Auf die Kreuze hatten deutsche Soldaten, in deren Händen der umkämpfte Boden geblieben war, Inschriften gesetzt; rührend bisweilen, wo Fehler andeuteten, daß allein das Herz gesprochen, nicht aber der Schulmeister. »Hier ruht ein dapferer franzesischer Krieger«, stand auf dem einen, »Sieben Engellländer ruhen allhier und werden auch one Nammen selig schlaffen«, las man auf einem breiten Brett, darauf eine ungefüge Hand R. I. P. gesetzt hatte. Dazwischen lag ein deutscher Grenadier. Wird sich nicht gefürchtet haben unter den vielen Feinden! Um die Gräber hatte man Ausbläser in den Boden gesteckt, etwa wie in Bauerngärten leere Blechbüchsen an den Wegen.
Der Sturm fauchte, daß Major von Esserte, den Kopf gesenkt, gegen ihn nicht aufblicken konnte. Als nun endlich das Blasen einen Augenblick nachließ, sah er eine Gestalt: Madame de Beaucourt. Sie zerrte eben mit behandschuhten Händen an einem dicken grauschwarzen Ast, den das Unwetter auf das Kreuz geschleudert hatte. Der neu einsetzende Wind schlug ihr den Schal klatschend ins Gesicht. Sie fuhr herum und riß ihn, der förmlich an ihr klebte, herab mit einem wütenden »Na!« Im gleichen Augenblick hatte sie den Offizier gesehen:
»Dieser dumme Wind! Elfen Sie mir.«
Er mühte sich, das arme Erinnerungszeichen auf dem Grabe von dem schweren Aste zu befreien, der sich mit seinen Zweigen in Blumen und Immergrün, die treue Kameradschaft auf den Hügel gesetzt, förmlich verankert hatte. Der Kreuzesarm war dabei heruntergeschlagen. Die Französin suchte ihn anzupassen. Er nahm ihr das Holz aus der Hand:
»Gnädige Frau, bitte. Ich werde einen Mann herschicken.« Und er las auf dem Holze den Namen eines Gefreiten.
Sie deutete mit dem Zeigefinger auf das Grab:
»Er ist gestorben bei uns. Ich abe ihn gepflegt. Er war so gut und geduldig. Aber der deutsche Arzt, der gekommen ist, at gleich gesagt, daß er nicht wird. Sehen Sie eine Kugel ier inein.«
Dabei zeigte sie mit der Unbefangenheit der Romanin an ihrem eigenen Leibe die Stelle des Ein- und Ausschusses. Herr von Esserte fand ein Wort des Dankes für den deutschen Soldaten, doch sie meinte, das sei doch selbstverständlich. So einfach sagte sie es, daß es ihm wie eine Entdeckung schien an ihr. Nun sprach er natürlicher und fragte erstaunt, warum sie bei diesem Sturm außer dem Hause sei. Sie lachte: Hier im »Nord« sei immer Wind. Sie sei ihn von Jugend auf gewöhnt und Wind ihr körperlich angenehm. Er tue ihr wohl, er krabbele doch mal die Nerven auf, hier in dieser Öde, Öde, Öde! Ohne Zusammenhang fragte sie wieder:
»Meinen Sie, es wird noch lange dauern?«
Er verstand sie nicht, so tobte jetzt der Sturm, ihr jedes Wort vom Munde reißend. Sie stützte sich auf Herrn von Essertes Arm, dem Ohre nahe zu kommen, und rief:
»Mache Sie Frieden! Mache Sie Frieden!«
Er fing an zu lachen. Das erstemal. Sie sah ihn erstaunt an:
»Sie können ja lachen!«
Er fühlte sich ganz warm und gewonnen:
»Habe ich denn nie gelacht?«
»Nein.«
Da gestand sie, daß sie sich vor ihm gefürchtet habe. Ihre Schwester auch. Ebenso die Mädchen im Haus. Er sei immer so finster und habe mit keiner gesprochen. Und andere Herren wären doch so nett. Der Herr mit dem Einglase! Und der » capitaine« Rennhöfer. Er spräche so gut französisch. Nun erzählte er, » capitaine« Rennhöfer sei » commandant« geworden, und heute würden ein paar Gäste kommen, um diese Beförderung zu feiern. Aber sie hatte es schon gehört und ihn beschlich es peinlich: Die wissen alles! Sie deutete auf seine Stiefel, an denen die Lehmspuren von vorhin noch klebten:
»Waren Sie là-bas?«
Er schüttelte den Kopf. Sie blickte ihn mißtrauisch an:
»Warum wollen Sie es nicht sagen?«
»Nun, wenn Sie's wissen wollen, ich war hier hinten, auf den Feldern.«
Ihre klugen Augen blitzten:
»Ah, wo die junge Soldaten so …«
Dabei machte sie die Gebärde des Werfens. Er dachte: Worum die sich alles kümmern! Und wieder überlief ihn ein unsicheres Gefühl, so daß er plötzlich erklärte, er müsse hinein. Wie eine Frau es versteht, alles von sich dem Manne zuzuschieben, sagte sie sofort:
»Ich wollte ja inaus. Ich muß in den Wind, in den Wind!«
Dann nickte sie ihm zu und rief:
» Ah, que ça fait donc du bien! Que je m'embête! Que je m'embête!«
Wie sie forteilte durch den Park, den Rock zur Seite geweht das Haar flatternd, sah er: es war reich und voll. Das hatte er noch nie bemerkt. –
Vizewachtmeister Fiedlers Auge überflog noch einmal den Tisch, der zum Essen gedeckt stand, mit ein paar letzten Chrysanthemen geschmückt. Dem Gewächshaus durfte auf Befehl Seiner Exzellenz nichts entnommen werden, obgleich der alte Blaise Blumen angeboten hatte. Freilich gab es nicht mehr viel: Auch weniger empfindliche Pflanzen hatten schon gelitten, zarte aber, die höhere Wärmegrade beanspruchten, waren längst eingegangen, denn wegen Kohlenknappheit konnte das Warmhaus gar nicht mehr, das Kalthaus, das immerhin ein wenig Feuerung beanspruchte, nur noch halb geheizt werden.
Dafür war es um so wärmer in der Küche, wo es dampfte, brodelte, schmorte, Mädchen, Burschen durcheinanderliefen. Die französischen Dienstboten arbeiteten gern, denn die deutschen Trinkgelder waren nicht zu verachten in solch schweren Kriegszeiten, wo jeder Arme, und dazu rechnete sich auch Madame Henriette Germallevoit née Avoine trotz ihrer nicht unerheblichen Ersparnisse, sehen mußte, möglichst viel beiseite zu bringen. Die Dicke war jetzt, wie alle Künstler bei der Arbeit, höchst gereizt. Wenn die Burschen fragten oder im Wege standen, warf sie ihnen die ausgesuchtesten normannischen Schimpfworte an den Kopf, die sie freilich nicht verstanden. Man hatte alles Porzellan gefunden, das Claire versteckt. Bestecke fehlten, denn sie rosteten bei der Wellingtonie am Teich. Da mußte denn nach dem ersten Gange aufgewaschen werden, und dazu standen Scholastique, Margot und Stéphanie, die drei blonden Mägde, bereit.
Die Offiziere des Divisionsstabes warteten in dem erleuchteten Billardzimmer und dem »kleinen Salon«, denn im »großen Salon« wurde gearbeitet. Major Rennhöfer trug funkelnagelneue Achselstücke. Wer sollte abends sehen, daß ihr Rot falsch war! Major von Esserte hatte mit seiner ersten Garnitur ausgeholfen. Generalleutnant Greger fand für jeden seiner Herren ein Wort der Begrüßung. Nur einer fehlte: Der Generalstabsoffizier, der noch drüben bei der Arbeit saß; denn dieses war es, was in diesem Kriege Nerven fraß: die Mannschaft hatte, einmal in Ruhestellung, ihre Ausspannung, nicht so die Offiziere bei den Stäben, wo es kein Aussetzen gab.
Nun kamen die Gäste: zuerst Hauptmann Wessels, der Artillerist. Er verweilte sich an der Tür, mit seinen klaren, scharfen Augen den Divisionskommandeur zu suchen. Aber schon war jener auf ihn zugeschritten. Der Hauptmann machte eine zu tiefe Verbeugung, indem Kopf und Schulter schief nach links fielen. Das wiederholte sich auch bei den jungen Offizieren, als ob er, ein ganzer Kerl draußen bei seiner Abteilung, unsicher geworden wäre hier auf dem Teppich, eine Stuckdecke über sich. Als ihn der neugebackene Major Rennhöfer begrüßte, schüttelte er ihm die Hand:
»Is wirklich doll. Hat der Kerl die jeflochtenen Achselstücke vor mir. Ich jloobe, ich kriege sie in meinem Leben nicht. Was soll ich denn ooch damit machen? Da draußen sieht sie ja niemand! Weißt du, Rennhöfer, was ich draußen anhabe? Den juten Rock zieh ich nicht an, der andere ist janz jelb und verbrannt von 'nem englischen Bonbon. Da habe ich mir was bauen lassen, ich habe 'nen Schneider bei der Abteilung. Sieh' nur mal, Rennhöfer, was der Kerl mir jemacht hat … Mein Adjutant hat mich jeknipst … Ich will's meiner guten Alten nach Haus schicken … Na, wo hab ich's denn? Wo hab ich's denn?«
Er durchsuchte alle Taschen, dann stürmte er davon, mit seinem wilden Barte, der röter und wüster zu sein schien als je zuvor. Da er nun durch die falsche Tür hinausfuhr, kam er in das Arbeitszimmer. Dort saß Major von Esserte über den Tisch gebeugt. Er klopfte ihm auf die Schulter. Der blickte kaum auf und streckte ihm die linke Hand hin, während er mit der Rechten weiterschrieb:
»Ich komme gleich rüber.«
Aber Hauptmann Wessels brummte:
»Menschenskind, tun Sie doch nicht so! Müßt Ihr gerade arbeiten, wenn wir armen Frontleute ooch mal gewunschen werden?«
Der Generalstabsoffizier nickte und schrieb seinen eisernen Gedankengang weiter. Hauptmann Wessels ging also davon, doch abermals durch eine falsche Tür. Er geriet in einen Gang, verfolgte ihn, in der Meinung, er müsse bei der Kleiderablage münden, kam auf die Treppe und stand unversehens einer Dame gegenüber, die ihn erschrocken, fast wegwerfend ansah. Claire war auf dem Wege zur Küche, um auf Befehl ihres Vaters den versteckten Aufbewahrungsort von ein paar Spülschalen zu verraten, deren es nicht genug gab. Hauptmann Wessels fragte:
»Fräuleinchen, wo hängt denn mein Mantel?«
Sie sah den wüsten, gewaltigen roten Bart und wollte an ihm vorbei. Aber er stellte sich in den Weg:
»Nee, nee, tun Sie man nich so, als ob Sie kein Deutsch verständen. Jetzt Farbe bekennen: Wo ist » manteau«?
Er machte dabei die Bewegung wie Ausziehen und an einen Nagel hängen. Sie dachte offenbar, dieser wilde Offizier der Boches habe den Verstand verloren, stieß einen kleinen Schrei aus, tauchte durch unter seinen großen Händen, die sie aufhalten wollten, und huschte vorbei. Der Gang war leer. Nun wußte er gar nicht mehr, wo er sich befand. Da die Treppe freundlich einlud, stieg er sie hinan. Auf dem Absatz mit dem Spiegel blieb er stehen. Rechts führten Stufen hinauf zum Anbau. Noch höher? Nein, das konnte nicht sein. So schritt er denn links den Gang hinunter und trat mit seinen gewaltigen Feldzugsstiefeln wohl nicht allzu leise auf. Dabei rief er, zuerst laut, ein zweitesmal mit einer Stimme, als ob er Feuer kommandiere:
An einem Türspalt erschien das ärgerliche Gesicht des Barons de Battaignies. Im gleichen Augenblick zeigte sich Madame de Beaucourt, und der alte Herr befahl seiner Tochter, dem »Soldaten« ernstlich zu sagen, er möchte keinen solchen Lärm machen. Damit verschwand der alte Patriot. Da der Hauptmann nun nicht so gepflegt aussah, wie die Herren vom Divisionsstabe, seine Achselstücke auch umnäht waren, so erkannte sie nicht den Offizier, sondern rief deutsch, er möchte gefälligst nicht solchen Skandal machen, sonst würde sie es dem Herrn Major sagen. Der Hauptmann blieb stehen:
»Nanu brat mir aber einer'n Storch. Das spricht ja tadellos deutsch! Ist das 'ne Freude, das im Felde mal zu hören! Darf ich mich bekannt machen: Wessels, Hauptmann Wessels. Gnädige Frau, können Sie mir nicht sagen, wo mein Mantel ist?«
Sie mußte lachen und führte den Gast bis zur Treppe. Glücklich über den Zeitvertreib bei der grausamen Langeweile, die sie quälte, unterhalten von dem unerhofften unschuldigen Abenteuer, erzählte sie ihm, sie sei die Tochter des Hauses, ihr Mann französischer Kapitän, und sie sei in Bonn erzogen. In dem Natur- und Feldmenschen erwachten Standesbewußtsein und Eitelkeit:
»Gnädige Frau, zu Hause sollten Sie mich mal sehen. Glatt rasiert wie'n junger Gott, und Lackstiebel! Aber die halten nicht da draußen. Ich möchte Sie aber nun nicht länger aufhalten. Nee, war das 'ne Freude, gnädige Frau, mal aus weiblichem Munde wieder deutsch zu hören! Herrgott, das geht einem durch und durch. Man könnte janz weich werden. Schade, daß Sie keine Deutsche sind.«
»Ich bin stolz, daß ich bin eine Französin.«
Er griff gutmütig nach ihrer Hand, die er inbrünstig küßte:
»Ich habe Sie nicht kränken wollen. Dazu habe ich mich viel zu sehr jefreut, daß mal 'ne Frau deutsch spricht. Ich kann's jar nicht vergessen. Gnädige Frau, ich will bloß noch wünschen, daß Ihr Jemahl hübsch jesund wiederkommt. Haben Sie denn liebe kleine Kinderchen? Daß ich ihnen mal nachher guten Tag sagen kann? Ich habe 'n paar kleine Jungen zu Haus. Die habe ich so lange nich jesehn. Ach, Sie haben keine Kinder? Verzeihen Sie nur den Zusammenhang – – aber können Sie mir denn nicht wenigstens sagen, wo mein Mantel ist?«
Jetzt lachte sie aus vollem Halse und zeigte ihm die Kleiderablage. Dann aber huschte sie davon, denn sie sah im Licht, das durch eine Tür fiel, Claires Schatten an der erleuchteten Wand. Und sie scheute eine Auseinandersetzung mit der Schwester, denn die fand immer, sie sei zu freundlich mit den » boches«.
Hauptmann Wessels entnahm dem glücklich wiedergefundenen Mantel, einem Mannschaftsmantel übrigens, den er nur mit Achselstücken versehen hatte, den gesuchten Umschlag mit der Photographie. Dabei sah er an der Anzahl von Kleidungsstücken, die draußen hing, daß die Gäste offenbar versammelt waren. Als er wieder eintrat, kam ihm Major Rennhöfer mit bekümmertem Gesicht entgegen:
»Wessels, du warst schon als vermißt gemeldet!«
An der Tafel saß Generalmajor von Flurschütz rechts vom Divisionskommandeur, ihm gegenüber sein Generalstabsoffizier. Die übrigen waren nicht starr der Rangliste nach verteilt, sondern wie sie gut zusammenpaßten. Das war die Art der 347. I. D., nicht aber ein Schlemmeressen, worauf General von Flurschütz anzuspielen liebte. Immerhin hielt auch die Küche dank der Dicken jedem Urteil stand. Nach der Suppe schon erklärte ungefragt der Brigadekommandeur der Exzellenz, wie diese Julienne seinem alten Kriegsmagen gut getan habe. Der sah schmunzelnd den Überwundenen an. Er kannte Flurschützsche Schärfe wie biederrauhe Art, aber ebenso gut wußte er, daß dieser nicht immer bequeme kleine General vorm Feinde seinen Mann stand. Und das schien ihm in diesem gewaltigen Kriege etwas, dagegen alle kratzbürstige Ehrlichkeit in nichts versank, denn hier galt es zusammenzustehen bis zum letzten, aber nicht geringsten: Einmal dem Feinde das zerbrochene Schwert vor die Füße zu werfen.
Bei Tisch gab es manch fröhliches, auch manch schwermütiges Wiedersehen, wenn man sich ernster Tage erinnerte aus früheren Monaten des Feldzuges, denn viele, viele gemeinsame Freunde fehlten. Doch der Vergangenheit galt nur ein kurzes Gedenken. Kopf hoch. Es gab Arbeit genug, Arbeit, die auch im Grabenkriege nie aufhörte, galt es doch, die Stellungen auszubauen, täglich neue Hilfsmittel zu finden und heranzuziehen. So ging denn Frage und Antwort hin und her, grade mit jenen, die man sonst nicht immer sah, wie Hauptmann Pedröhl, dem Pionier, der auch heute Major geworden war und darum als Gast des Divisionskommandeurs am Tische saß.
Dann wurde von daheim geredet, von Eltern, Frau und Kind. Jüngere erzählten einander, die Stimme gesenkt, erstaunliche Dinge: Patrouillen, Vorpostengeplänkel mit dem anderen Geschlecht, Angriff und Einnahme der Stellung, nur daß sie nicht gehalten ward, sondern freiwillig aufgegeben schon am Abend. Meist blieb das Gespräch an der Front. Nicht anders als Kaufleute untereinander, die von ihren Geschäften reden, Beamte von ihrem Dienst, Künstler von ihrer Kunst. Auch die Reserveoffiziere, die dieser Krieg in großer Zahl auch in die Stäbe geführt, taten es nicht anders. Ja, es gab welche unter ihnen, die doch einst ihre Dienstleistungen mehr aus Pflichtgefühl oder gar nur Ehrgeizes halber erledigt hatten, die nun, völlig gewandelt, nichts mehr dachten als: Krieg. Der aktive Besserwisser und Erzieher stand nicht mehr neben ihnen. Sie hatten das gleiche Recht, vor allem die gleiche Erfahrung wie er. Nun redeten auch sie von Soldatischem allein. Wer hätte ahnen können, daß jener Hauptmann dort der Erbauer berühmter Talsperren war, der Oberleutnant hier das größte Stahlwerk am Oberrhein besaß, während der grauhaarige Rittmeister der Landwehr-Kavallerie, der auf der Tischkarte Grabenprofile zeichnete, das bedeutendste deutsche Exportgeschäft nach Patagonien sein eigen nannte? Die Aktiven waren nun bei Beförderungen und Versetzungen angelangt, und der Generaloberarzt, die lebende Rangliste, wußte für jeden ein Kommando, eine Stelle. Er hatte in seiner langen Dienstzeit in Königsberg wie in Kolmar gestanden, er kannte Thüringen, die Hansestädte, die rote Erde, den Rhein und alle Provinzen, welche die Oder durchfloß.
Beim Fasan – Hauptmann Giese und Oberleutnant von Gereck hatten bei der zweiten Stellung Weidmannsheil gehabt – stand der Generalleutnant auf, das Spitzglas in der Hand. Des Divisionsadjutanten sichere Spürnase hatte in einem zerschossenen Schloß des ständigen Feuerkreises der Engländer den »Schampus« entdeckt. Generalleutnant Greger blickte sich um mit seinen scharfen Adleraugen, bis alles schwieg:
»Meine Herren! Eine Anzahl Herren der Division sind befördert worden. Zuerst: Major Rennhöfer.«
Alles blickte zum Divisionsadjutanten, der sich wie spöttisch vor sich selbst verneigte.
»Er ist mir nicht nur durch Arbeitskraft, Tüchtigkeit, durch seinen hochgemuten Sinn und erfrischenden Einfluß ein treuer Mitarbeiter, sondern im Laufe dieses Krieges, trotz einiger Jahre, die zwischen uns liegen, leider zu meinem Nachteil, ein jüngerer Freund geworden. Das wollte ich ihm und Ihnen einmal sagen. Der zweite ist: Major Pedröhl. ›Wo du nicht bist, Herr Organist, da schweigen alle Minen.‹ ›Nehmt euch vor dem schwarzen Kragen in acht!‹ Der Herr Major hat neulich bei Höhe 40 nicht nur einer englischen Kompagnie mit ihren Offizieren, sondern auch einem grade anwesenden hohen Stabe zu einer Luftreise verholfen. Von dem Stabe wußten wir übrigens nichts, aber Times und Daily News sind so liebenswürdig gewesen, es uns zu erzählen. Nur in der Luft nun fühlt der dritte sich wohl: Graf Bielinski, den wir zum Oberleutnant beglückwünschen.«
Die Augen, die vorher den Pionier gesucht, fanden nun unten am Tisch den schlanken, hageren Ulan, mit dem Fliegerabzeichen und dem Eisernen Kreuz erster Klasse auf der Brust. Er, der bei zwanzig Sekundenmeter Wind aufstieg, blickte jetzt verlegen auf den Teller.
»Oberleutnant Graf Bielinski hat uns ausgezeichnete Dienste geleistet, wenn er auch jetzt so tut, als sei es gar nichts gewesen. – Eine vierte Beförderung kann ich den Herren nur still mitteilen. Major Honndecker ist Oberstleutnant geworden. Die Beförderung hat ihn nicht mehr erreicht. Er ist, in der Nacht von einem Granatsplitter schwerverletzt, heute früh im Feldlazarett 2 gestorben. Ich bitte, meine Herren …«
Stumm erhoben sich die Offiziere. Eine Weile blieben sie stehen, dann rief der Generalleutnant in völlig anderem Ton:
»Wenn das Wort ›Der Lebende hat recht‹ irgendwo Geltung hat, so im Kriege. Wir müssen zurück zur Pflicht gegen unser großes, herrliches Vaterland, das zu schützen wir hier draußen stehen. Und indem wir jene drei Kameraden unter uns beglückwünschen, gedenken wir dessen, der sie befördert hat, unseres allerhöchsten Kriegsherrn. – Seine Majestät der Kaiser und König hurra!« –
Nach dem Anstoßen setzten sich die Herren, und nun herrschte einige Zeit jene Stille, wie immer, ehe Menschen, deren Geister auf ein drittes gerichtet gewesen sind, sich wieder zusammenfinden. Man schwieg von Major Honndecker. Er war ein böser Vorgesetzter gewesen, und es mochte manchen geben, der ihm keine Träne nachweinte. In diesen Feldzugssoldaten lebte keine falsche Sentimentalität: Diesen Mann plötzlich in den Himmel zu erheben, nur weil er tot war, hätten sie, die täglich Kameraden fallen sahen, für unwürdige Heuchelei gehalten. Und doch waren diese harten Männer froh, menschlich erklärt zu hören, wie der Tote für seine harten Launen nicht ganz verantwortlich gewesen sei. Der Generaloberarzt erklärte nämlich seinem Nachbar, dem Oberst von Verzehl, Kommandeur des Regiments 1388, Major Honndecker, der wegen Magengeschwüren schon vor dem Kriege den Abschied genommen hatte und wieder eingetreten war, hätte wie ein Held Tag und Nacht gegen grausamste Schmerzen angekämpft, es aber immer abgelehnt, in die Heimat zurückzukehren, so stark sei sein Pflichtbewußtsein gewesen, so groß sein Glück, vorm Feinde zu stehen. Wie da die ganze lauschende Tafelrunde schwieg, sagte Major Rennhöfer in nachdenklicher Stille:
» Tout comprendre c'est tout pardonner!«
Hauptmann Wessels rief über den Tisch:
»Rennhöfer, du immer mit deinem ›Frangsä‹! Sprich doch deutsch!«
Der lachte seinen Waffenbruder aus:
»An deiner Stelle, Wessels, würde ich doch grade die Gelegenheit hier im Felde benutzen, um Französisch zu lernen!«
Doch der mit dem struppigen roten Barte war in Kampfstimmung: Nein, nie wollte er Französisch lernen. Wozu denn? Die Jankl – damit meinte er die Franzosen – möchten nur hübsch Deutsch lernen. Lachend hörte man zu, am meisten aber lachte der eine der Kämpfenden selbst: der Adjutant. Und Oberleutnant von Gereck nannte es, darauf anspielend, daß ja auch Rennhöfer Artillerist war, ein »Artillerieduell«.
Nur zwei hatten den versöhnenden Worten des Generaloberarztes nicht zugehört: Major von Esserte saß in der Mitte der Tafel, den Kopf gesenkt und blickte durch sein Glas auf den Tisch, während die vorgestreckte Hand mit einem Chrysanthemum spielte, das aus der Blumenschale in der Mitte gefallen war. Oberst von Verzehl beklagte sich darüber, daß ein paar seiner Grenadiere, für die er eine ganz besondere Auszeichnung erbeten, sie nicht bekommen hätten:
»Ich lasse meine Leute nicht übergehen! Das andere Regiment, ich will keins nennen, hat Gott weiß was alles gekriegt, und wir?«
Er warf die zusammengeballte Faust mit dem Rücken zum Tischtuch dreimal nach vorn, indem er die Finger spreizend öffnete:
»Nischt! Nischt! Nischt!«
Der Major erklärte ruhig, er habe darauf nicht den geringsten Einfluß. Aber der Oberst tätschelte Herrn von Essertes Hand, die mit der Blume spielte:
»Ich weiß, ich weiß. Ich will nur, daß es mal einer erfährt. Sie hier in dem schönen Stabe sollen wissen, wo uns der Schuh drückt.«
Der Generalstabsoffizier blickte ihn kalt an durch die vergrößernden Kneifergläser, die den Augen eine erhöhte Schärfe gaben:
»Herr Oberst! Jemand muß in den ›schönen Stäben‹ sitzen. Wenn der Leiter eines Stahlwerkes selber mit Kohlen schaufeln wollte, so würde das Werk bald stillstehen. Deswegen ist die Arbeit des Kohlenschippers genau so wichtig, denn ohne Kohlen würde es ebenso ruhen. Übrigens bin ich überzeugt, daß es auch irgendeinen Offizierstellvertreter geben wird, der die Wichtigkeit eines schönen Regimentsstabes bezweifelt.«
Oberst von Verzehl meinte überlegen:
»Na, den würde ich mir aber kaufen!«
Da fragte Exzellenz über den Tisch, worüber die beiden sich ereiferten. Major von Esserte schwieg. Der Oberst aber kam mit der Bitte für seine »unvergleichlichen Leute«. Für sich begehre er nichts, ja er behauptete sogar, eine Auszeichnung müsse er, der gar nichts geleistet, als Kränkung ansehen. Der Generalleutnant tauschte einen Blick mit seinem Generalstabsoffizier. Man wußte, Oberst von Verzehl, einer der besten Kommandeure des Korps, war einst, als ruhiger, fast stiller Mann ins Feld gegangen, und jetzt, – eine der großen Wandlungen des Krieges – fast krankhaft eifersüchtig für sein Regiment. Dann kam es über diesen trefflichen Menschen und Führer wie ein Koller, das Nachlassen überanstrengter Nerven, denn der Weißhaarige, den man in der Division den »Doktor« nannte, weil er erst seinen Doktor gemacht und dann als Reserveoffizier in den aktiven Dienst übergetreten war, hatte seit Beginn des Krieges mit seinen Grenadieren das Schwerste durchlebt. Nach furchtbaren Verlusten war sein Regiment mehrfach wieder aufgefüllt worden, Bataillonskommandeure hatte es verloren, zwei Adjutanten waren gefallen, einer schwer verwundet worden, und heute hatte der Oberst, der nie auch nur einen Tag ausgespannt, schon den vierten Adjutanten in diesem Feldzuge.
Major Rennhöfer, immer über den Dingen schwebend, hob sein Glas gegen den Oberst und lüftete den Sitz:
»Gestatten Herr Oberst: Das Regiment! Die Grenadiere!«
Der weißhaarige Mann sah ihn zuerst mißtrauisch, dann glückselig an. Er beugte sich weit vor, um anzustoßen:
»Ich danke Ihnen, mein lieber Rennhöfer. Sie machen mir eine große Freude. Ich danke Ihnen.«
Als nun aber Generalleutnant Greger den Augenblick benutzte, um sich anzuschließen, sprang der alte Oberst auf und präsentierte sein Glas. Nun erhob sich auch artig der Divisionskommandeur:
»Herr von Verzehl, dann muß ich auch aufstehen.«
Darauf wandte er sich zu den Offizieren der Tafelrunde:
»Meine Herren, das Regiment 1388!«
Alles erhob sich, aber nur allmählich, denn die jüngeren Offiziere an den Enden des Tisches wußten im ersten Augenblick nicht, was geschehen sei. Doch gerade jene, die es am wenigsten ahnten, ließen nun am kräftigsten ihr dröhnendes Hurra ertönen! Der Oberst blickte dankend sich seltsam um, den Hals ganz drehend, denn nur das eine Auge sah: In der Champagne hatte ein Splitter den Sehnerv des anderen verletzt. Der Generalleutnant stieß mit ihm an:
»Ich fahre morgen zum Generalkommando. Ich will für Ihre Leute tun, was ich kann.«
Da nahmen unter Oberleutnant von Bißwangs Führung ein paar der jüngeren Herren mit festem Griff den alten Haudegen, der nie an sich, der nur an jene dachte, die sein König ihm anvertraut, auf die Schultern und hoben ihn hoch. Oberst von Verzehl griff schwebend in die Luft und erwischte des Kürassiers Gesicht. Dabei schrie er:
»Kinder, Kinder, ich bin ein alter Mann!«
General von Flurschütz rief, dunkelrot vor Lachen und selbst wieder jung wie ein Leutnant:
»Seine Nase, seine Nase! Verzehl, seine Nase!«
Aber Oberleutnant von Bißwang wandte ihm sein zerfetztes Gesicht zu:
»Herr General, ich habe ja gar keene mehr!«
Der General lachte noch herzlicher:
»Er muß immer was entgegnen!«
Hauptmann Wessels sagte bloß immer zu seinen Nachbarn:
»Nee, is das schön bei euch! Ist das schön!«
In dem Augenblick ging die Tür auf zum Anrichteraum nebenan. Die Torte kam mit brennenden Kerzen. Vizewachtmeister Fiedler brachte sie selbst. Ihm folgte Kinzigs lange Nase, Seine Exzellenz der Kammerdiener Kühnscherf und sogar der Chauffeur Klostermann. Jeder trug einen Teller, auf dem brennende Lichter angeschmolzen waren.
Hinter ihnen in der offen gebliebenen Tür sah man nun die staunenden Gesichter der dicken Köchin, die Fäuste in den Hüften. Zwischen den abgespreizten Armen hindurch guckte Nicolette, weil sie zu klein war, dem Trampel über die Schulter zu blicken. Im Hintergrund ahnte man Jeanne, das Stubenmädchen. Ahnte nur, denn man wollte nicht zu sehr gesehen sein. Man war zu vornehm. Und als Chor gleichsam ward ein Hintergrund sichtbar von Flachs, Blut und Weizenähren: Scholastike, Stephanie und Margot. Nur einen Augenblick waren sie zu sehen, doch lange genug, daß drin am Tisch der Husarenoberleutnant von Gereck mit der eiligst eingeklemmten spiegelnden Scherbe noch Zeit fand, bis der Vorhang vor dem Bühnenbilde der neugierigen Mädchen sich schloß, eine Kußhand zu werfen. Den Kuß gab dann Vizewachtmeister Fiedler im Anrichteraum unversehens Nicolette, dem Küchenmädchen. Er mußte doch an die Adresse gelangen. Und die Feldpost arbeitete sicher. Sie nahm ihn ruhig in Empfang, ja, sie spitzte das Mäulchen. Kannte man sich doch schon ganz gut. Nur die Köchin durfte es nicht sehen. Bei den drei blonden Mägden vom Hofe tat es nichts, denn man hatte sich Generalpardon gegeben.
Die Torte wurde auf den Tisch gestellt, und jeder der Herren mußte ein Licht auf seinen Tellerrand kleben. Dann kam Major Rennhöfers Anordnung: Damit es mystischer sei, wie er es nannte, wurden die Lampen vom Tisch genommen, und die Tafelrunde saß da sozusagen vom Rampenlichte bestrahlt, etwa wie Madame de Beaucourt auf der Treppe. Zum Kaffee kamen die Zigarren, und nun war man nicht mehr an den Platz gebunden. Einmal zu diesem, einmal zu jenem setzte man sich, tauschte Erinnerungen: aus Belgien wie aus der Champagne. Nun konnte der alte Oberst von Verzehl jedem einzelnen von der Großartigkeit seiner Grenadiere erzählen. Der Generalleutnant ließ sich von Major Pedröhl über die letzte Sprengung unterrichten, und Hauptmann Wessels lief umher, jedem ziemlich mit den gleichen Worten zu erklären: »Nee, es ist doch zu schön bei euch!«
Im Erker, der in den Park vorsprang, stand der Flügel, über dessen Tasten einst in Friedenszeiten zarte geschickte Frauenfinger geglitten sein mochten, übend, oder wenn Besuch gekommen war und junge Leute hatten tanzen wollen. Jetzt öffnete Fliegeroberleutnant Graf Bielinski die Klappe, auf der »Erard« stand. Mit Major Rennhöfer besprach er, was er spielen sollte. Der Oberleutnant lehnte sich im Stuhl zurück, streckte seine langen Beine aus, und wandte ab und zu den Kopf zur Tafelrunde, wo Hauptmann Wessels schwärmte und General von Flurschütz Mordsgeschichten erzählte. Ihm klang nur eines gut im Ohr: der Kanonendonner. Bis zur Wacht am Rhein reichte es noch, mehr konnte man nicht verlangen von einem »alten Kriegsknecht«, wie er sich in frohen Stunden, selbst zu nennen pflegte. Graf Bielinski lächelte den Major an und zuckte die Achseln: Es war nichts zu machen. Aber der Divisionsadjutant beugte sich nieder und schlug mit Stahlfingern den Cis-Moll-Akkord an. Jetzt blickten zwar welche auf, doch die beiden rührten sich noch immer nicht. Da erklärte der Major dem Ulanenflieger etwas. Der zündete sich noch schnell eine Zigarette an, ohne die er nun einmal nicht spielen konnte, und begann Fortissimo-Akkorde zu hämmern, Läufe zu rasen. Rücksichtslos ließ er die Fußtaste am Boden, daß die Saiten klirrten. Nun drehten jene am Tisch, die dem Flügel den Rücken gekehrt, die Stühle um. Es ward Ruhe. Auch General von Flurschütz hatte sich im Sessel zurückgelegt und ließ das Unglück über sich ergehen, denn anderes war Musik für ihn nicht. Nur Hauptmann Wessels schwärmte und verbrüderte sich weiter. Er war eben dabei, die Photographie aus dem so schwer gefundenen Mantel herumzuzeigen, an der es nichts besonderes zu sehen gab, als daß der Herr Hauptmann und Abteilungsführer in einem unförmlichen Gewande steckte aus jener Leinwand, die sonst zu Sandsäcken verwendet wurde. Major Rennhöfer ging in langen Schritten an den Tisch, bot ihm den Arm und führte ihn zu einem freien Stuhl. Als Opfer blieb er kleben, lächelte trübe jenen zu, mit denen er eben noch gesprochen hatte, und fing an in seiner Brieftasche das Bild in Sicherheit zu bringen, schien es doch ungewiß, ob er seinen Mantel so leicht wiederfände.
Als es nun ruhig geworden war, begann Graf Bielinski rauschend aus dem »Ring« zu spielen. Vom »Feuerzauber« leitete er über zum »Trauermarsch«. Ein Chopinsches Nocturno verflocht sich mit einer Mazurka, dann kamen Stellen, die niemand zu deuten wußte: er phantasierte. Die Zigarette hing ihm längst erstorben im Mundwinkel, er lag vorgebeugt und strich zärtlich die Tasten, in gleichmäßig eben hingaukelnder Musik, als schildere er dieses kriegsöde flandrische Land. Major Rennhöfer flüsterte Exzellenz zu, es sollten Schlachteneindrücke geschildert werden. Der beugte sich zu Oberst von Verzehl, der ganz den Kopf wenden mußte, weil sein totes Auge die Umwelt nicht sah, und der »Doktor« saß dann, die Stirn geneigt, und lauschte: vielleicht sah er im Geiste seine Grenadiere, sein Einziges auf dieser Welt. Als nun der Generalleutnant sich auch zu Generalmajor von Flurschütz wandte, ließ der ein Papier sinken, blickte über den Kneifer, der ihm tief auf der Nase schaukelte, und nickte zerstreut. Ein paar Sekunden schien er zu lauschen, dann aber senkten sich seine Augen wieder auf das Blatt, das ihm Major von Esserte gegeben hatte: die Abschrift eines englischen Befehls, den man bei einem gefallenen Major gefunden hatte.
Graf Bielinski ließ jetzt eine ganze Schlacht aufleben. Staccati klangen als pfeifende Infanteriegeschosse, dröhnende Baßakkorde malten krachende Granaten, bei Trillern und Triolen schien der Propeller eines Flugzeuges zu schwirren. Marschierender Truppen Lieder klangen: das »Feldquartier«, der »gute Kamerad«. Die Akkorde schwollen in immer rascherer Folge zum Trommelfeuer. Schwere Wurfminen schienen mit grellem Baßdonner hineinzuplatzen. Dem Spielenden fiel die Zigarette aus dem Mund. Bei scharfen Einsätzen stand er halb vom Stuhle auf und ließ die Gelenke niederschmettern. Und plötzlich klang in all dem Gewirr und Toben etwas Bekanntes an. Wie in Tschaikowskys 1812 die russische Volkshymne gegen die Marseillaise ankämpft, so begann eine Weise anzustürmen gegen Tipperary-Marsch und Mont-martre-Gassenhauer. Mehr und mehr gewann sie Macht und rang die fremden Themen nieder, die nur noch aufzuckten in einzelnen Klängen, bis plötzlich strahlend, donnernd, in einfachstem Satze: »Deutschland, Deutschland über alles« brauste.
Ein paar Stimmen setzten ein, zuerst Oberleutnant von Gereck, dann brummten sie alle mit. Auch General von Flurschütz hatte sein Papier sinken lassen. Einzelne Herren waren aufgestanden. Als nun auch Generalleutnant Greger sich erhob, folgten alle seinem Beispiel.
Nur Hauptmann Wessels kramte in seinen Siebensachen: Halbverblichene, abgeschabte Bilder seiner Familie, Ausweise, die Karte des Offiziervereins, irgendein vertrocknetes Blümchen, vielleicht von daheim? oder von der letzten Ruhestätte eines seiner Batterie? Ängstlich fragte er seinen Nachbar:
»Was wird denn da gesungen?«
Der schrie ihn fast entrüstet an:
»Nun, Deutschland, Deutschland über alles!«
»Verflucht noch mal!«
Der Hauptmann stand da mit seinem wilden roten Bart, die blauen Augen leuchteten und er brüllte, ja brüllte, falsch, ja falsch, daß ihm die Adern am Halse schwollen. In der tiefen Stille, als die letzten Töne verklungen waren, sagte er:
»Gott, wenn die zu Hause das ahnten! Ich schreibe es aber gleich meiner Frau.«
Der Oberst war entschlossen, es seinen Grenadieren zu erzählen. General von Flurschütz aber bat im Stillen der Division sein Schimpfen ab über Festmahle und Feiern, die dem Ernst des Krieges widersprächen.
Als man sich nach dem Spieler umsah, hatte den Platz am Flügel Major Rennhöfer eingenommen und blätterte mit Oberleutnant von Gereck in französischen Noten, die man hier gefunden, darunter den Klavierauszug der Meistersinger. Der Major versuchte gedämpft, der Oberleutnant markierte dicht an des Spielers Ohr.
Als nun wieder ein paar Akkorde angeschlagen wurden, und vielleicht gar das »Steigen einer Sonate« drohte, versammelte General von Flurschütz sozusagen als Ältester der Unmusikalischen im Billardzimmer nebenan einen kleinen Kreis. Er rief Hauptmann Wessels zu einem Glase Bier in den weiten Erker, der auch hier in den Park vorsprang. Der Hauptmann war noch immer ganz begeistert und bemäntelte seine »Umgruppierung« in das musiklose Zimmer mit den Worten:
»Ich mag mir den Eindruck nicht verderben lassen. Das kommt doch nicht so wieder.«
Dann redeten die beiden Feldzugssoldaten über ihren Beruf, den Krieg, zu dem allein geboren sie sich auf dieser Erde fühlten. Zwei andere hatten angefangen, zuerst nur lässig probend, Billard zu spielen. Als nun die Bälle aneinanderklappten, schloß vom Eßzimmer aus jemand unwirsch die Tür, denn dort erklangen bereits die Worte mit der schönen, großen, nur nicht fertig gebildeten Stimme des Husarenoberleutnants: »Verachtet mir die Meister nicht«.
Major von Esserte lauschte in einer Ecke, das Gesicht in der Hand verborgen. Als nun der Sänger vortrat und gleichsam mit Bedeutung hineinsang in den Raum:
»Zerginge auch in Dunst
Das heil'ge röm'sche Reich:
Uns bliebe gleich:
Die heil'ge deutsche Kunst.«
stand er auf und schlich hinaus. Der Generalleutnant war herübergekommen, den beiden am Flügel zu danken. Major Rennhöfer, dem die Erde voller Rätsel und Wunder schwebte, rief mit leuchtenden Augen:
»Exzellenz, ist das nicht wunderbar, wir singen die heil'ge deutsche Kunst, hier in Feindesland, in diesem fernen Hof in Flandern? Und da gibt es armselige Idioten, die den Krieg schrecklich finden? Großartig ist er, überwältigend, erschütternd!«
Der Generalleutnant antwortete nachdenklich: »Vor allem ist er notwendig. Er ist genau so wenig aus der Welt zu schaffen wie überhaupt Kampf auf der Erde, denn das wäre wider die menschliche Natur. Wenn wir nun auf die Friedensfreunde gehört hätten! Ich möchte sie richtiger Friedensstörer nennen, denn sie würden uns die Möglichkeit nehmen, einmal Frieden zu machen, einfach weil es Deutschland nicht mehr gäbe. Wenn wir auf die gehört hätten, so wären wir nicht hier, sondern die Franzosen bei uns. Deutschland über alles sängen wir nicht, denn es gäbe keines mehr. Vielleicht auch niemand, es zu singen.« –
Major von Esserte hatte ein bedrängtes Gefühl, als müsse er allein sein. In seiner Hochstimmung sah er nicht am Stall die Schatten von Soldaten, die mit den Mägden alberten. Blind lief er vorbei in den Park. Der Sturm hatte nachgelassen, träge schlichen Dünste, Nebel hingen zwischen den kahlen Bäumen. Es war Stille über dem französisch-flandrischen Land: Die Artillerie draußen schwieg. Der Einsame ging die Wege, die er nun so gut kannte, am Teich vorüber mit der Wellingtonie, dem Gartenhause zu. Die deutsche Musik hier im Felde hatte ihn in seltsam erregte weiche Stimmung versetzt. Er fühlte sich allein, ein Gedanke, der ihm nur einmal in seinem Leben gekommen war: damals als er aus Südwest zurückkehrend die leere Wohnung betrat. Und doch hatte er heute nichts verloren, da er ja nichts besessen. Aber die Musik hatte ihm Erinnerungen geweckt, die nun in ihm wühlten. Mit seiner Frau war er, sobald der Dienst ihm Zeit ließ, in die Oper gegangen, und sie hatte ihm dann abends auf dem Klavier wiederholt, was sie zusammen gehört. Die Erinnerung an sie, an sein Dasein, an den toten Knaben stieg brennend in ihm auf und verdichtete sich in dem einen glühenden Wunsche, der ihn förmlich quälend erregte, wie der Durst damals in Südwest, der furchtbare Durst: Nur einmal hätte er gern die Meistersinger wieder gehört. Es war ein Durst, ein jäher Durst nach Kultur, vielleicht nach Ausspannung nur, nach diesem halben Jahre Krieg, das keinen Sonntag, keinen ungestörten Schlaf der Nacht gekannt.
Von diesen Gedanken zu eiligem Gange getrieben, hatte er sich, ohne aufzublicken, dem Gartenhäuschen genähert. Da war es ihm, als flöhe ein Schatten hinein. Er ging hin, trat ein, meinte eine Gestalt an die Wand gedrückt zu erkennen und fragte: »Wer ist da?« Klirrend fiel etwas zu Boden. Eine Schaufel. Er erkannte den alten Blaise. Was hatte der hier nachts zu tun? Mit der Taschenlaterne, die er immer bei sich trug, leuchtete er das Innere des Häuschens ab: Niemand war zu sehen außer dem Gärtner, der jetzt zitternd um irgendeine Gnade bat. Nun ließ der Major den Lichtkegel über die Büsche, den Hang des Aussichtsberges laufen. Traf sich der alte Kerl etwa mit jemand? Da sah er vor sich frisch aufgegrabene Erde, daraus, gleich halb im Boden steckenden Blindgängern, Flaschen lugten. Damit war all jene Stimmung von Heimatsdrang und dunkler Sehnsucht vorüber, denn mit dem Lachen schwingen zarte Seelenreize ab wie Nachtbangen vor dem Licht des Tages. Er schickte den alten Blaise mit kurzem Befehl ins Haus und sandte ihm einen Strahl der Laterne nach, um zu sehen, ob er auch gehorche.
Lichterschein blinkte in der Ferne: Die erleuchteten Fenster der beiden Erker, wo der Flügel stand und wo der General mit dem Hauptmann saß. Gegen das Licht sah man die hohen Schatten der Bäume von der schwarzen Erde bis in den nächtigen Himmel reichend. Aber da hörten zwei der dunklen Balken mitten im Hintergrund der Helle auf: Stümpfe von Bäumen? Granaten hatten doch hier die Ulmen nicht abgeschnitten? Und plötzlich bewegte sich, was er nicht zu deuten gewußt: Menschen. Ein Schatten lief davon. Der andere blieb. Herr von Esserte rief: »Hallo, wer da?«
»Ah, Monsieur.«
Und Madame Bison de Beaucourt erklärte nicht ganz unbefangen, Claire und sie hätten der Musik gelauscht. Sie beteten ja Musik an, und müßten doch alles entbehren. Er sagte, die eigenen Gedanken übertragend:
»Deutsche Musik!«
»Ah, ich liebe sehr die deutsche Musik. Die Deutschen sind sehr weit in der Musik.«
»Unsere Musik ist tiefer, ernster!«
»Ah, glauben Sie, daß mir Ernst gefällt nicht auch?«
»Ich weiß nicht.«
»Das tut mir leid. Sie kennen mich ja nicht.«
Sie stand da, in den Hüften gebogen. Im Licht aus dem Erker sah er, daß sie einen Schal um den Kopf trug, der sie strenger veränderte. Nun fragte sie:
»Was denken Sie wohl von mir? Sagen Sie die Wahrheit.«
»Die sagt ein deutscher Offizier immer!«
Und getrieben durch Nacht und Musik, durch die unerwartete Begegnung gehöht, gesteigert über sonstige Beherrschung, entwarf er ein Bild von ihr, als Oberflächenmensch, als elegante Frau, die in Paris sich gern unterhält. Etwas aus französischen Romanen klang daraus. Als verleitete ihn der Vorwurf wie diese ganze Welt, aus der er sie gekommen wähnte, dazu, entglitt ihm noch eine Schmeichelei, die ihm im Grunde nicht lag:
»Wie sollten Sie, so schick, so hübsch, anders sein?«
Sie suchte einen Augenblick:
»Also eine schöne Gans ohne Herz, nicht wahr?«
Er wollte etwas entgegnen, doch sie ließ ihn nicht zu Worte kommen:
»Ja, ja, das denken Sie. Und was wissen Sie eigentlich von mir? Nichts als was ich Ihnen abe gesagt. Und man kann doch nicht jedem gleich sein Leben sagen. Ich bin chic und … bien faite!«
Sie strich an ihrem Kleide herab:
»Aber nicht wahr, das ist bei uns jede Dame. Und was wissen Sie, wie ich abe gelebt? Was wissen Sie, ob ich bin glücklich? Was wissen Sie von meine Mann und wie er ist gegen mich? Ob ich nicht vielleicht nach einem Jahr schon gewesen bin toute seule, ganz allein? Nicht in der Welt, aber ier, ier, ier.«
Sie stieß heftig die gekrümmten Knöchel bei jedem Worte auf ihr Herz.
»Sehen Sie, dann wird ier gesungen. Und wir aben nichts, rien – mais rien! Und Sie aben es gut. Ich kenne die » Maiter chanteurs«. Ich abe die Partitur gespielt. Ich spiele Mozart, Schumann, Chopin, Beethove. Ich spiele und würde gern spielen mein Kummer und mein Leid. Aber Sie aben uns genommen den piano. Glauben Sie, man at nichts ier, ier, ier? Bon soir, Monsieur, bon soir!«
Sie hatte dabei auf sein Herz gedeutet und riß ihm plötzlich das Chrysanthemum aus dem Knopfloch. Ehe er etwas antworten konnte, war die Stelle leer, wo sie, der Baumstumpf gestanden, der doch etwas hatte: ›ier, ier, ier!‹
Major von Esserte ging ins Haus. Es zitterte in seiner Seele, aber nicht allein die Musik und der Abend. Der Abend, der ihn so seltsam aufgewühlt hatte.
Man war schon beim Aufbruch. Die Kraftwagen draußen im Hof verschwanden einer nach dem andern. Als jener der 694. I. B. aus der langen Ulmenreihe auf die freie Straße bog, sagte General von Flurschütz zu seinem Ordonnanzoffizier:
»Ich hätte gar nicht jedacht, daß es so nett sein könnte!«
Bißwang meinte: »Herr General, dabei war's heute nichts Besonderes!«
Exzellenz hatte sich empfohlen: Er wollte morgen schon sehr früh reiten, denn dann fuhr er zum Korps. So verabschiedete Major Rennhöfer den letzten Gast: Hauptmann Wessels. Zwar hatte der seinen Mantel wirklich gefunden, nur konnte er sich nicht trennen. Als er endlich in seinem schwappenden zweirädrigen Bauernkarren davonfuhr, den ein gänzlich verschlafener Kanonier im Zickzack lenkte, rief er in die Nacht hinaus, dem Majore nach:
»Nee war das schön, war das schön heute!«
Und es war doch, wie Herr von Bißwang erklärt: kein besonderer Abend bei der 347. I. D.