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11

Er kniete vor ihr auf dem weichen Daunenfußkissen, darauf sonst ihre Lackschuhchen ruhten, und sie redeten miteinander in der tiefen Stille der Nacht, redeten leise, daß es niemand hören sollte von all denen rundum, die heute vielleicht wachgeblieben waren im Gedanken, jeden Augenblick könnten wieder die Granaten schmettern. Nicht wie Kinder sprachen sie oder junge Verliebte, denen zum erstenmal die Leidenschaft das unberührte Herz bewegt, nein, wie zwei Menschen, die fühlen, daß irgend eine dunkle Macht sie zueinander zieht und doch alles geschaffen scheint, sie voneinander zu drängen. Und als ob diese beiden, die nicht gar viel eines vom anderen wußten, nun genötigt wären, einander Herz und Leben zu öffnen, begannen sie sich zu sagen, wer sie im Grunde waren. Er sprach davon, daß er Weib und Kind gehabt und daß er eines Tages, als er aus dem Kriege wiedergekehrt, sein Haus leer gefunden, als habe er nie eine Familie besessen. Er versuchte zu erklären, wie es in ihm leuchte und brenne, die Worte aber ihm versagt blieben. Von der Einsamkeit der Menschen untereinander sprach er, von der tiefen und daß jeder allein nur empfinden könne:

»Ich habe immer gemeint, wenn man von etwas nur spricht, ist es schon vorüber.«

Dann erzählte sie mit aller Offenheit der Französin von ihrer Ehe. Sie beschwor ihn, nicht zu glauben, jede französische Frau sei nur sinnlich, wie Major Rennhöfer einmal in seiner Weise, der man nicht böse sein könne, behauptet habe. Sie wäre allein geblieben in ihrer Ehe, habe aber nichts entbehrt. Wer mit klarem Auge sähe, wie die Männer, wenn es mit der einen nicht ginge, es bei der anderen versuchten, sollte davon das Glück erwarten? Sie strich seine Hand:

»Was soll nun sein? Elfen Sie mir eraus.«

Er schob sich auf den Stuhl neben ihr, zog sie herüber zu sich und sie lehnte den Kopf an seine Schulter. Seine Lippen glitten über ihr Haar, aus dem ein Duft stieg, wie er diesem Körper eigen war, ein zärtlicher Duft vom Weibe, einer, der ihn beglückte, der ihn träumen ließ. Während sie nun leise sprach in dem süßen, fremden Tonfall ihres Deutsch, bedrängten ihn, den Nur-Soldaten, abenteuerliche Gedanken. Ihm schien es tödliche Gewißheit: Laetitias Mann müsse fallen, ja war vielleicht schon tot. Und blieb er am Leben, dieser lächerliche Zwerg, nun so trennte sie sich von ihm. Kein Schnitt, nur Selbstverständlichkeit, Erlösung nach dem, was die junge Frau gesagt. Es war der zweite Krieg, den Esserte durchkämpfte. Er hatte immer eiserner Pflicht gelebt, und doch brannte in ihm kein zehrender Ehrgeiz. Bisweilen dachte dieser Mann, der äußerlich keine Seele offenbarte, mit glühender Sehnsucht an sein eigenes Menschenglück. Das Bild seines schwer ringenden Vaterlandes stand vor seiner Seele, wie sein General und er, die beiden Männer mit dem klaren, abwägenden Verstände des Generalstäblers, es einander oft gemalt: Und wenn es noch Jahr und Tag dauerte – denn beide waren nicht leichtfertige Rosarote und sie, die Kenner unterschätzten den Gegner nicht – so mußten eben die Staatsmänner die Mittel schaffen zum Leben eines ganzen Volkes, aber Frieden durfte nur dann werden, wenn er auf ein Menschenalter hinaus gesichert schien. In diesem würde sich, nach ewigen Gesetzen, wohl wieder Zündstoff sammeln, aber dann schlug das werdende, vielleicht gar das übernächste Geschlecht die neuen Schlachten. So lebte in dem Major der Gedanke, nach diesem Kriege, wenn das Vaterland seiner nicht mehr bedurfte zu gehen. Es gab im Frieden genug andere. Er war Soldat, also tat er seine Pflicht, doch ebensogut hätte er sie als Landwirt streng erfüllt. Dem Herrn von Esserte, einmal auf Esserte, wo die Esserte seit Hunderten von Jahren gesessen, hätte es keine Verbesserung bedeutet, etwa Exzellenz genannt zu werden. Am Hof, im Staat einer zu sein, hieß ihm kein Ziel, ihm der immer am glücklichsten sich gefühlt allein am Schreibtisch, allein bei weitem Ritt, allein bei einsamem Gang über die Heide. So würde die landfremde Frau gerade ihm kein Hindernis erschienen sein. Wie Neigung und Abneigung des Kindes auch beim Greis sich wiederholen, wie einer, dessen sinnliche Regung zu lebhaften Frauen geht, unglücklich werden müßte, verbände er sich mit einem anbetend stillen Geschöpf, dagegen einem der ein Gretchen sucht, das Band mit einer beweglich wilden Schönen zum Unglück ausschlagen würde, so wäre eine Fremde bei ihm nur eine glückliche Wiederholung gewesen. Auch seine erste Frau, eine Baltin, hatte keine deutschen Verwandten besessen, die wohl vorwärts schieben halfen, aber zugleich Fessel und Enge bedeuteten. Er war glücklich gewesen, daß die Sippe nicht sein Haus überlief. Wie seine Träume gingen, beugte er sich herab und küßte Laetitias Hand. Da warf sie ihm beide Arme um den Hals und ihre Lippen ruhten in einem einzigen Kuß. Dann lehnte sie den Kopf an seine Schulter und blieb so, während seine Gedanken weiterflogen. Das Feuer im Kamin, das allein das Zimmer erleuchtet, war niedergebrannt, aber draußen schien hell der Mond. Die Arbeit des Tages, die späte Stunde hatte ihn müde gemacht, so daß er in wunschloser Glückseligkeit die Augen schloß. Er fühlte Laetitias gleichmäßige Atemzüge. Und alle Rätsel der Rassen und des Krieges wühlten in seiner Seele. Er war der Feind. Sie von jenem Stamme, den er nicht mochte. Und gerade sie beide führte das Schicksal zusammen. Wie er der Ruhenden warmen Körper in seinen Armen fühlte, einen Menschen, der ihm gehörte, sah er, der schwer zu Anderen sich fand, ja der es für eine unmännliche Gefühlsduselei hielt, auch nur teilnehmende Worte zu sagen, sich tief beglückt, nicht allein zu sein. Vielleicht, weil in dieser harten Seele doch ein letzter Winkel von Weichheit war, den nun ein Zufall berührt hatte. Wie er dies schlanke, atmende Geschöpf ganz sein, dicht an sich gebettet empfand, überrann es ihn, als besäße er nun wenigstens eine Sicherheit für die Zukunft und stünde nicht gleichsam schwebend im Leben. Da neigte er immer wieder die Lippen und küßte sie leise ins Haar. Aber sie schlief wie tot.

Der Mond mußte verschwunden sein, ein unsicheres Licht umriß nur noch die Gegenstände. Hatte er so lange geträumt? War der Morgen auf dem Wege? Ihn fröstelte. Und er hob leicht die junge Frau und trug sie hinüber. Die weiße Masse des Lagers zeichnete sich hell ab. Er legte sie behutsam nieder und breitete über sie das seidene Daunenbett. Sie schlief. Mit aufgestützten Armen blieb er über sie gebeugt, und suchte in der Dunkelheit ihre Züge zu erkennen. Dann senkte er vorsichtig den Mund. Er tastete sich hinüber in ihr Zimmer nebenan, fühlte sich zur Tür, stand auf dem Gang. Auf dem Treppenabsatz knirschte es unter seinen Füßen. Er war auf eine Spiegelscherbe getreten. Er hielt inne. Lauschte. Alles schwieg im Haus. Auch hier war es hell. Er konnte deutlich die Stufen unterscheiden, die zu dem Nebengang hinaufführten. In seinem Zimmer war wieder das helle Licht. Da regte sich in ihm eine unbezwingbare Sehnsucht hinaus. Da draußen lagen sie in den Gräben vorm Feind, da draußen fielen Kameraden, da draußen war Nacht um Nacht an irgend einem Punkte dieser endlosen Front vom Meer bis zu den Alpen, von den Karpathen bis wieder an das Meer, irgendwo ein Angriff. Und er hatte seine Nacht vertan. Er wollte nach der Uhr sehen. Sie fehlte. War sie ihm drüben entglitten? Er trat ans Fenster, ob der Morgen käme. Was war das? Blendung durch den Mond? Nein, Schnee! Während er drüben die Geliebte in das weiße Lager gebettet, war die weiße Decke niedergesunken auf das flandrische Land. Er öffnete das Fenster, beugte sich hinaus und ließ die frische Luft wohltätig um die Stirn sich wehen. Dann steckte er den Kopf ins kalte Wasser und zog andere Stiefel und Gamaschen an zum Grabenbesuch. Im Hof fragte er den Posten nach dem Schneefall. So um zwei hätte es begonnen. Er ging in den Keller hinab zu den Pferden. Die Stute schnupperte und suchte an seiner Tasche. Ein paar Zuckerkrümel gab er ihr noch, legte die Wange an ihren warmen Hals und streichelte ihn, glücklich, wie nicht in den langen Tagen, seit sie hier still lagen. In der Küche saß Klostermann und trank seinen Kaffee. Nicolette stand am Herd, Und als sei zum erstenmal eine Brücke zu den Franzosen geschlagen, klopfte er dem »kleinen Aas« auf die Schulter. Als er gegangen war, flüsterten die Mädchen miteinander. Was war nur in den finsteren » commandant« gefahren?

Major Rennhöfer saß beim Frühstück und kaute mit vollen Backen:

»Nanu, Esserte, schon auf?«

Der rieb sich die Hände:

»Jawohl, ich fahre mit raus. Ich wollte doch einmal nach dem Graben sehen. Nun, wo Schnee gefallen ist, wird sich vorn alles besser abzeichnen!«

Während der Generalstabsoffizier sich zum Frühstück setzte, ging Major Rennhöfer hinaus, ob der Kraftwagen käme, der noch draußen hinter dem Park stand. Der Major gähnte, reckte die Arme, als ob er Freiübungen mache, und blickte die Allee hinab. Er dachte: ›Klostermännchen, Klostermännchen, unpünktlich? Da kriegst Du was aufs Dach!‹ Er ließ den Blick über den Hof wandern. Es schien immer lehrreich, den Wirkungskreis der Sprengstücke zu sehen. Die Stallwand war förmlich bespritzt, wie wenn eine Feder im Papier hängen bleibt und schwarze Kleckse fliegen. Drüben die Scheune hatte nichts abbekommen. Und dort hatten Gereck und er doch gemeint, allerlei Wundmale zu entdecken an dem alten Gemäuer. Wie anders alles am Tage aussah! Da gewahrte er im halben Morgenlicht einen Schein hinter den Fensterscheiben. Hatten die verfluchten Kerle etwa wieder Licht brennen lassen? Um jeden Sch...dreck mußte man sich doch kümmern! Und wieder gähnte er, und ging, die Arme streckend, über den Hof, das weiße Mehl der dünnen Schneeschicht mit den Sohlen abhebend. Er öffnete die Tür. Eine umgestürzte Kiste trug ein brennendes Licht. Da lag François, der Knecht, auf einem schräggelehnten Brette aufgebahrt, und daneben, den Kopf auf die Knie des Toten gesunken, einen Rosenkranz in den Händen, der alte Blaise mit seiner Kupfernase. Der Adjutant rüttelte ihn. Er fuhr auf, rieb sich die Augen, stellte sich stramm, legte die Rechte, um die der Rosenkranz gewickelt hing, mit der Fläche nach vorn an die Schläfe und brüllte heiser, wobei er. den Major mit widerlichem Dunst von Alkohol anblies:

» Présent, mon commandant!«

Der Major packte ihn bei der Schulter: Er solle seinen Rausch wo anders ausschlafen. Der Alte aber grüßte noch immer und schrie mit verglasten Augen, er sei alter Soldat, » maréchal-des-logis« – wovon er übrigens noch nie Gebrauch gemacht hatte – und müsse seinem Kameraden die Totenwache halten. Aber der Major erklärte kurz in einem Französisch, das keineswegs schwungvoll war, Besoffene und Tote gehörten nicht zusammen. Da kam endlich Klostermann und Major Rennhöfer hauchte, die Uhr in der Hand, aus Gerechtigkeit nun auch den Verspäteten an. Der entschuldigte sich: Er habe die Hälfte seiner Sachen im Haus, die andere Hälfte draußen. Doch der Divisionsadjutant, der sonst wie ein Vater mit den Leuten verkehrte, rief:

»Da steht man eben früher auf! Noch einmal und ich lasse Sie ablösen!«

Dann ging er ins Haus, zu sehen, ob Major von Esserte noch nicht käme. Er fand ihn im Gespräch mit dem Generalleutnant, der erklärte, die Sicherheit der Arbeit dürfe nicht Granatzufällen ausgesetzt sein, und da eine Beschießung täglich sich wiederholen könnte, müsse entweder ein Unterstand gebaut oder die Mauern verstärkt werden. Um sofort die Frage zu entscheiden, gingen Exzellenz und Major Rennhöfer in den Keller. So fuhr der Generalstabsoffizier allein. Er zog den Pelz an und nahm Kartentasche und Glas.

Sie glitten die Yperner Chaussee hinab. Ein paar Bäume waren frisch abgesplittert. Als nun ein gewaltiger Ast völlig die Straße sperrte, befahl Major von Esserte einer Abteilung – Ablösung für die Schützengräben – die gerade, die Gewehre um den Hals gehängt, hinausmarschierte, das Hindernis aus dem Wege zu räumen. Während die Leute zugriffen, sprach der Generalstabsoffizier mit dem Leutnant, der sie führte. Der Major fragte nach der Stellung vorn, besonders nach jenem Grabenstück, das er ansehen wollte. Der junge Offizier hatte zuerst stramm gemeldet, nun aber zeigte er dem Stabsoffizier gegenüber die Sicherheit jener tätigen Männer, die gewohnt sind, ganz anderen Dingen gegenüberzustehen als einem Vorgesetzten. Er nannte das Grabenstück eine »Saustellung«, ereiferte sich aber bei dem Gedanken, es könnte etwa aufgegeben werden. Nee, dann solle man doch lieber das Wäldchen dazu nehmen. Dort hätten die Engländer nichts drin als einen Horchposten. Und er warf eine Skizze des Wäldchens auf den Meldeblock, den ihm der Generalstabsoffizier hinhielt. Er sei schon viermal als Patrouille dort vorn gewesen.

»Einmal sind wir beinahe mittenmang in die Engländer jefallen. Nachts haben sie 'n Maschinenjewehr drin. Das flankiert dann unsern Graben und macht die Verluste. Am Tage nehmen sie's raus. Die Kerle haben uns nicht jesehen, jehört ooch nicht. Weil so 'n Wind war.«

Der junge Offizier nahm die Mütze ab, strich über seinen kurzgeschorenen Schädel, und da seine Leute nun den Ast zur Seite geschoben hatten, rief er ihnen zu: »Weiter, weiter.« Und einem jungen Fähnrich, der wie ein Knabe aussah: »Ich komme jleich nach, Hans.« Dann fuhr er fort:

»Ohne Wind kommt man überhaupt jar nich vor. Sie hörens sofort. Dann jeht 'ne Mordsfunkerei los. Wie noch frisches Gras war, rauschte es; wie's dürr jeworden war, raschelte es; in dem Regen jetzt quatscht immer der Dreck, wenn die Stiebel stecken jeblieben sind, richtig, als ob man 'n Proppen aus der Flasche zieht. Na, und nu is heute gar Schnee jefallen, der macht's zu hell. Man kann nur bei Dunkelheit vor und bei Wind. Daran is ja in der verfluchten Gegend keen Mangel. Und der Wind steht ja immer zu uns herüber. Den Kerlen drüben ist das recht, weil wir dadurch immer den Jestank von ihren Leichen kriegen. Andererseits können sie uns nich hören. Wir aber verstehen jedes Wort. Ich habe damals im Wäldchen 'ne Viertelstunde lang zujehört. Nur aus Spaß. Ulkig, was sie sich da erzählen. Sie beklagten sich, sie kriegten immer die gleiche Marmelade. Dann hatten sie Streit über irgend 'n Mädel. Einer erzählte was aus Manchester. Dort hätte er mehr verdient. Nur jetzt nicht, wo seine Fabrik still stünde. Aber er hätte die janze Schweinerei satt. Sie machten nich grade den Eindruck von begeisterten Kriegern.«

Der Major warf einen Blick zum wartenden Wagen:

»Herr von Kropp, es war mir sehr interessant, ich muß aber dringend vor.«

Der junge Offizier klemmte sein Einglas ins linke Auge und sah die Straße hinunter, seiner Kompagnie nach:

»Jestatten Herr Major vielleicht, daß ich auf dem Trittbrett 'n Stück mitfahre?«

»Bitte, steigen Sie doch ein.«

»Nee, nee, ich springe im Fahren runter.«

Er hielt sich an der Wagentür, und der Kraftwagen setzte sich langsam in Bewegung.

»Frisch heute früh!« sagte der Leutnant. Doch der Major war beim Graben:

»Herr von Kropp, sagen Sie mal, liegt da noch viel unbeerdigt?«

»Von zwei Stürmen, vom dritten Dezember und von voriger Woche. Nu's liegt janz hübsch da wat rum. Die vom Dezember sind schon janz zusammenjefallen. Die tun nischt mehr. Aber die von voriger Woche? Au weh! ›Eau de Kanaille‹ is anders. Nanu sind wir ja da, Herr Major, also danke jehorsamst!«

Major von Esserte kam ein Einfall:

»Sie wissen ja dort gut Bescheid?«

»Ich kenne jeden ollen Pfahl.«

»Wissen Sie was, fahren Sie mit. Ich wollte mir ja grade den Graben ansehen. Lassen Sie die Kompagnie nachkommen!«

Der Leutnant sprang ab und rief:

»Hans!«

Der blutjunge Fähnrich stand stramm, schlank und groß wie der Leutnant selbst.

»Ich fahre mit Herrn Major immer voraus. Du führst die Kompagnie hin.«

Dann sagte er leise:

»Bengel, und daß Du mir nicht wieder neben dem Graben läufst. Mama will Dich ooch noch mal besehen!«

Der Fähnrich lächelte überlegen, aber der junge Kompagnieführer schüttelte den Kopf:

»Decken, Hans, ist die wahre Tapferkeit. Wer sich nicht deckt ist 'n Selbstmörder, Ochse, unreifer Bengel, freches Früchtchen. Sich aussetzen heißt Gott versuchen und dem Vaterland seinen elenden Leichnam stehlen. Schluß. Wiedersehen. Morjen.«

Dann sprang er auf, während der Wagen schon in Bewegung war. Der Major reichte ihm eine Decke. Zuerst lehnte er großartig ab, als es aber anfing tüchtig zu ziehen bei dem schnellen Fahren, zog er sie sich über die Knie, allmählich bis zur Brust herauf, bis er endlich fast ganz dahinter verschwand. Rechts lag der verschneite Park von Opendaele, links Ralinghien, das Dorf. Nun kamen sie an die Höhe, die es vor der Front versteckte. Die Werner Straße stieg sie hinan, und jetzt konnte man deutlich Löcher auf ihrer Decke unterscheiden, Granattrichter, denen Klostermann mit einem Schwung des Steuers auswich, so daß die beiden Herren jedesmal zur Seite kippten. In dem Augenblick, als sie den Kamm der Bodenwelle erreicht hatten und das Vorgelände vor ihnen lag, hörte man das Surren, Zischen, Pfeifen zu weit gegangener Infanteriegeschosse. Der Leutnant ließ die Decke fallen, stand im Wagen auf und blickte die Straße hinab:

»Herr Major, ich glaube, sehr viel weiter können wir nich fahren. Weiter vorn sind wir vom Kemmel einjesehen.«

Der Generalstabsoffizier winkte zustimmend mit der linken Hand und rief Klostermann zu:

»Nach Belvoorde. Der nächste Weg links ab.«

Dann zog er den Leutnant auf seinen Sitz zurück:

»Sie haben vorhin so schön über das Decken gesprochen, wie wär's, wenn Sie sich nicht so hoch rausreckten.«

Der murmelte in die Decke hinein:

»Gott, für jeden is seine Kugel jegossen.«

»Nun, dann brauchten Sie dem Fähnrich das ja auch nicht zu sagen.«

»Herr Major, 's ist mein Bruder. Janz junger Dachs. Achtzehn Jahr. Mordskerl. Man will'n doch Muttern wieder heimbringen, daß sie wenigstens eenen behält.«

»Sind Sie noch mehr Brüder?«

»Fünf. Drei jefallen. Zwei E. K. I. Der dritte einjereicht.«

»Tut mir aber leid. Ihre armen Eltern!«

»Mein Vater hatte die vierzehnte Jardebrigade. Ich habe nur noch 'ne Mutter. Mein Vater ist am Typhus jestorben. Rußland. War jeimpft. Keener kann sich was vorwerfen. Nich wahr, 'ne alte Soldatenfamilie. Alles Schicksal. Aber meine Mutter is jar nich so. Mau und mies und Heulfritze mögen zu Hause Kriegswucher treiben. Wir haben keene Zeit. Zum Fliegenfangen sind wir nich hier.«

Wie nun die Straße sich senkte, kamen sie aus dem bestrichensten Stück, einer Strecke von kaum 200 Metern, wie aus einem Mückenschwarm in ruhige Luft. Deutlicher als sonst auf dem beschneiten Boden, zeichneten sich die Spuren von Gräben ab, bis zu Belvoorde. Man sah die nach verschiedenen Seiten gekehrten Brustwehren, denn sie waren geblieben wie die Deutschen sie genommen, die damals an dieser Stelle im Frühherbst ganze Grabenreihen überrannt hatten. Hier und da erhoben sich gleich kleinen Festungen zusammengefallene Artilleriestellungen und Kreuze, dunkel, denn der Schnee hatte daran nicht gehaftet. Bis in die Dorfgasse fuhren sie hinein. Der Major ging zur Gefechtsstelle der 694. I. B. Noch ein Auto hielt auf der Straße. Im Kugelschatten der Häuser stand der Fahrer. Leutnant von Kropp fragte ihn, wen er herausgebracht habe.

»Herrn Generalmajor Höhne und Herrn Generalmajor von Flurschütz.«

In dem Augenblick platzte in ziemlicher Höhe über ihren Köpfen ein Schrapnell. Schnell lenkten die beiden Kraftwagenführer ihre Wagen so nahe an die deckenden Häuser heran, daß die Kotflügel fast die Wand streiften. Der Leutnant hatte sich eine Zigarette herausgenommen, Klostermann strich ihm ein Zündholz an und bekam dafür auch gleich eine in den Mund gesteckt. Da platzte wieder ein Schrapnell, so rückten sie dicht an die Wand und vertraten sich bei der Morgenfrische die Füße. Es krachte abermals. Ein Sprühregen von Kugeln prasselte auf die Dächer der anderen Straßenseite. Dort am Fenster erschien ein bärtiges Gesicht, die Mütze ganz verschoben, daß die Kokarden über der linken Schläfe saßen, und blickte sich erstaunt um. Der Leutnant rief:

»Rein oder raus! 's wird gleich wieder was kommen.«

Kaum war der Kopf verschwunden, so krachte, klatschte, prasselte es, und die jenseitige Hauswand, die noch eben glatt verputzt gewesen, war mit einemmal wie ein Sieb durchlöchert. Klostermann hob eine der breitgedrückten Kugeln auf, die drüben abprallend ihnen zu Füßen gefallen waren. Er zeigte sie flüsternd dem anderen Fahrer. Der Leutnant hatte seine Brieftasche herausgeholt und schrieb eine Feldpostkarte:

»Ihrer Hochwohlgeboren Frau von Kropp geb. von Burdau, Berlin, Winterfeldstraße 615. Liebes Mutting! Tausend Dank für die schönen Sachen. Aber nur keinen Zuschuß schicken. Habe genug Geld. Läden weder auf der Hasencleverstraße noch auf dem Flurschützplatz verlockend. Engländer augenblicklich bei höchst unnützer Beschäftigung. Sollten mal lieber ausschlafen. Und was kostet das für'n Geld die Schießerei! Hans wohl. Eben gesprochen. Kuß. Joachim.«

Als er den Schlußpunkt setzte, spie abermals ein englisches Schrapnell seine Ladung aus. Aber zu kurz. Es prasselte in die Dachziegel des Hauses, hinter dem sie gedeckt standen. Joachim von Kropp blinzelte nach der Yperner Straße, auf der die Kompagnie jetzt nach vorn ging. War sie belegt? Er dachte an seine Leute und an seinen Bruder Hans, damit die Mutter doch wenigstens »eenen behielte«. Aber drüben schien alles still, und auch hier rührte sich nichts mehr. Endlich kam Major von Esserte mit Generalmajor Höhne, dem Artilleristen. Der Generalstabsoffizier gab Klostermann Befehl, den Wagen in irgend eine Scheune einzustellen und zu warten, bis er wiederkäme. Der große magere Leutnant grüßte den General. Der sagte »Morjen« in seinem tiefsten Baß und reichte dem jungen Offizier die Hand:

»Wir kennen uns ja, lieber Schubart. Nee, nee, warten Sie mal, Herr von Kropp.«

Als die Offiziere durch Belvoorde gingen, kam ihnen Oberleutnant von Bißwang nachgelaufen, ohne Mütze, wie er im Unterstände war:

»Herr General, der Herr General von Flurschütz läßt sagen, er führe zwölf Uhr vierzig nach Ralinghien zurück. Ob er Herrn General vielleicht mitnehmen sollte.«

Doch Major von Esserte meinte, das würde vielleicht etwas lange dauern, er müsse um 9 Uhr wieder in der Ferme sein. Vielleicht dürfe er da General Höhne die Fahrt anbieten?

Der Artillerist bejahte gern. Er war nur herausgekommen, weil für die Belegung des Divisionsstabsquartieres gestern abend ein Vergeltungsschießen befohlen worden. Oberleutnant Graf Bielinski hatte gemeldet, drüben in Oodekerken müsse, dem regen Autoverkehr nach, ein hoher englischer Stab liegen. Den wollte man »mal bißchen wecken.«

Leutnant von Kropp schien das nicht recht zu sein, wie nie ein Racheschießen, denn am Schluß kriegten sie selber auch mal ganz unnötigerweise etwas ab. Er klemmte seine Scherbe ein und blickte den Artilleriegeneral mißtrauisch von der Seite an. Nun es hell geworden war, sah man deutlich die Kirche von Belvoorde. Von dem ragenden Schatten, als die sie einst im Dunkel der Nacht Herrn von Bißwang über dem Platz erschienen, war nichts übrig als ein gewaltiger Trümmerhaufen. Baß-Orgelpfeifen steckten wie gewaltige Zinntuben zwischen dem Gestein. Das hatte sich gleich einem Lavastrom in den Friedhof eingefressen, war verschieden weit vorgeleckt, hatte Grüfte überschüttet, und wie in dem glühenden Fluß aus dem Erdinnern der Vulkane einzelne verkohlte Bäume stehenbleiben, so ragten hier Kreuze mitten aus den Schuttmassen empor.

Die drei Offiziere gingen durch die durchbrochene Dorfzeile durch Wand und Wand, von Haus zu Haus. Diesesmal auf der linken Seite, denn sie wollten den Hasenclevergraben erreichen. In ihm war durch den Verkehr und die wärmere Luft in der Tiefe der Schnee geschmolzen. Nun stapften sie in dem Lehmmatsch vorwärts, bald völlig mit gelbem Kot bespritzt, der General voraus, am Schluß der Leutnant. Wo ein Draht der Fernsprechleitung hing, befestigte er ihn. Er riß herausstehende Wurzeln ab. Er bückte sich, ein paar umherliegende Patronen sammelnd, die er, ehe er sie in der Tasche barg, am Gesäßteil seiner dreckigen Feldzugshose abwischte, als ob ein Bauer ein Streichholz anstreicht. Nichts durfte umkommen. An jedem dieser vergessenen Geschosse hing vielleicht die arme Seele eines Engländers.

Endlich blieb General Höhne stehen. In einem Verbindungsgraben war der Artilleriebeobachtungsstand. Ein Hauptmann meldete sich. Der General drückte Major von Esserte die Abschiedshand und sagte zu Leutnant von Kropp:

»Leben Sie wohl, lieber Schu … äh äh Kropp!«

Die beiden anderen setzten schneller ihren Weg fort, denn der General, immer die Ruhe selbst, war nicht eben weit ausgeschritten. Der Leutnant sagte keck:

»Herr Major, wenn ich nu den Herrn Jeneral immer Moltke nennen wollte oder Bülow oder so wat. Wir kennen uns seit Jahren. Ick heeße immer Schubart. Dabei ist der Schubart jewiß 'n viel vortrefflicherer Mensch als ich.«

»Herr von Kropp, bei soviel Herren!«

Der Leutnant brummte:

»Nu ja, Kanonenfutter.«

Aber Major von Esserte schob ärgerlich den jungen Offizier an sich vorbei, voraus:

»Zeigen Sie mir den Weg, Sie wissen besser Bescheid. Aber Sie dürfen sowas nicht sagen, Herr von Kropp. Kanonenfutter ist keiner.«

Der Leutnant legte einen Finger an die Mütze:

»Danke jehorsamst, Herr Major. Das ist immer nur mein verfluchtes Maulwerk! Es war auch Blech, was ich da jesagt habe. Ich fühle mich ooch jar nicht als Kanonenfutter. Ich weiß janz jenau, ich stehe meinen Mann trotz meiner nur dreiundzwanzig Jahre. Wenn mein Hauptmann im Frieden auf Urlaub jing, meinte er immer, er müsse drei Tage früher zurückkommen, weil seine Kompagnie unter meiner Leitung zugrunde jerichtet würde. Und jetzt führe ich zweihundertfufzig Mann, das heißt Tote und Verwundete mitgerechnet, denn es fehlt mancher. Übrigens, Herr Major, vielleicht könnten wir mal aufjefüllt werden. Aber das nur so nebenbei. Also ich führe zweihundertfufzig Mann, und jeder einzelne meiner Leute ist da vorn für das Vaterland jenau so wichtig wie ich und wie 'n Jeneral. Das muß jeder denken und denkt's ooch. So wird Selbstbewußtsein erzogen. In unserem kleenen Abschnitt da vorn kennen wir alles wie auf'n Kasernenhof. Gott, ich halte alle Hände über jeden meiner Leute, daß mir nur keener anjeschossen wird. Immer ein Jewehr weniger. Also Herr Major, Sie sehen, bescheiden bin ich jar nich. Oberst von Verzehl hat mir mal jesagt: ›Kropp, wenn Sie nicht so 'ne Schandschnauze hätten, würde ich Sie zum Adjutanten machen!‹ Unser Adjutantenverbrauch beim Rejiment grenzt ja ans Fabelhafte. Da führe ich lieber meine Kompagnie. Da vorn in dem Saugraben ist's viel sicherer. Und ich hänge sehr am Leben. Ich will jar nich sterben. Das wäre mir sehr fatal. Der Heldentod fürs Vaterland ist 'ne janz verfluchte Jeschichte! Ich möchte noch Mama mal wiedersehen, und ich hatte so'n kleenes Mädchen, die sehe ich ooch janz jern mal wieder. Herr Major, ich sterbe nich an Herzdrücken! Und dann möchte ich mal wieder in Werder die Kirschblüte erleben. Und mal nach Potsdam fahren, den alten Fritz besuchen. Nich in der Jarnisonkirche, nee draußen, wo er liegen sollte, auf der Terrasse in Sanssouci zwischen den Windhunden. Das is ooch so'n Skandal, daß sie ihn da nich hinjelegt haben. Wenn sie nich mal'n König dort begraben wo er will, wat soll unsereener da verlangen! Nur nich in die Heimat schaffen. Ich würde am liebsten hier draußen in meinem Graben liegen, unter meinen Leuten. Wenn mal so 'ne miesrige Stimmung ist, daß ich sie da auffrischen kann. Ich glaube an ein Fortleben nach dem Tode. Mein Schatten würde sagen: »Jungens, Kopp hoch!« Nu aber Schluß. Ich wollte nur noch eins sagen: Wenn nur mein Bruder Hans heil nach Hause kommt. Wenn's durchaus noch eener von uns sein muß, dann will ich's lieber sein. Hans is viel gescheuter als ich. Der wird noch mal der Stolz von der Familie. Und denn quasselt der nich so viel wie ich. Gott, nich wahr, 's ist ja ooch nich so schlimm. Aber wenn ich mal kann, muß ich mich mal ausquatschen, denn draußen rede ich manchmal die janze Woche keen Wort.«

Major von Esserte rief, durch die scherzhafte Frische des jungen Kameraden ganz verändert, schmunzelnd dem im Geschwindschritt Vorauseilenden zu:

»Na, na!«

Der drehte sich um und machte ein verfluchtes Gesicht mit seiner eingeklemmten Scherbe:

»Das heißt, Befehle werden jejeben, Herr Major. Und mit meinen Meldern red ich mal. Mit den toten Engländern kann ich doch nicht sprechen, die da rumliegen wie die Zuckerrüben. Man möchte wirklich mal wissen, was sie wohl so über einen denken. Ob die uns ooch so hassen? Mir sind sie ekelhaft wie 'ne Filzlaus. Alles, was eener um Geld macht, is mir speifatal. Aber schneidige Kerle sind's. Gott, wie oft habe ich welche mit'n Zielfernrohr wegjeputzt. 's tut einen dann fast leid. Wie einen ein kapitaler Hirsch leid tut. Aber 's muß eben sein. Und Schweinigel sind's eben doch. Nicht der einzelne, aber die Nation. Mein Vater sagte immer:

»Engländer allein,
Scheißfein!
Engländer engros
Ruppig und roh!«

Er hörte auf zu sprechen, denn sie kamen der Front immer näher. Aus einem Unterstand streckte einer den Kopf. Man sah in der kleinen Blockhütte eine Lagerstatt, auf der welche ruhten. Auf dem Öfchen standen Kochgeschirre. Überall waren die Landser beschäftigt. An einer Stelle öffnete sich ein freier Blick sozusagen auf die Hinterhöfe der Grabenstraße. Sandsäcke in weißen, blauen, rot- und weißgestreiften Stoffen lagen zu Mauern gestapelt. Eine Bank stand hart an die Wand gelehnt, gedeckt gegen die Streugarbe der Infanteriegeschosse. Dort hatten fleißige Hände um ein Grab herum kleine Anlagen geschaffen. Tod und Leben wohnten hier draußen dicht beisammen.

Der Major breitete auf dem kleinen, rohgezimmerten Holztisch die Karte aus, während Leutnant von Kropp den Kompagnieführer holte, den er ablösen sollte, um die genaue Grabenskizze zu haben. Jener, ein Hauptmann der Reserve, grüßte sehr dienstlich, verbeugte sich und nahm Platz auf der kleinen Bank neben dem Major, während der Leutnant auf der anderen Seite stehen blieb. Immer klang von drüben Knallen, Klatschen, Peitschenschläge, und oft hörte man ein scharfes, kurzes, helles Pfeifen über den Köpfen.

Der Leutnant schwatzte nicht mehr, nun er in seinem Abschnitte war. Auf der Karte zeichnete er einen Wassergraben ein, Büsche, ja in dem Wäldchen fast Baum um Baum, dazu den Horchstollen, an dessen Sappenkopf die Engländer ihr Maschinengewehr aufzustellen pflegten. Der Hauptmann blieb stumm. Endlich erklärte er dem Major sein Schweigen:

»Ich bin erst seit einer Woche wieder im Feld. In der Stellung aber erst seit ein paar Tagen!«

»Wo waren Sie bis dahin?«

»Ich war verwundet bei Vitry-le-François. Nach so viel Monaten Lazarett kommt es einem noch etwas ungewohnt vor.«

Major von Esserte fragte mit seiner immer etwas erzwungenen Teilnahme:

»Aber ich hoffe, es ist wieder alles in Ordnung?«

»Jawohl. Sonst wäre ich gar nicht herausgekommen. Ich habe mir gleich gesagt: Erst ganz gesund sein. Ich will meinen Mann stehen oder gar nicht. Halbe Sachen liebe ich nicht.«

Der Generalstabsoffizier blickte ihn an:

»Sie haben recht. Ich auch nicht.«

Während der Leutnant noch zeichnete, stand der Hauptmann auf, um nach seinen Leuten zu sehen. Major von Esserte ließ das draußen immer bebrillte Auge über die Umgebung schweifen: Auf dem Kreuz vor sich las er die Namen zweier Grenadiere. Das Grab, halb an den Unterstand angebaut, war mit Blindgängern eingefaßt, einen dunklen Lebensbaum hatten sie hinter dem Kreuz gepflanzt, allerlei Blumen, die jetzt unter der leichten, weißen Schneedecke schliefen, schmückten den Hügel. Links und rechts war ein Beet sorgsam mit Buchs eingefaßt, darin ein eisernes Kreuz und ein Reichsadler kunstvoll durch Kiesel, Splitter von Ziegelsteinen, Zünder und Schrapnellböden hergestellt. In Granattrichtern stand das Wasser schmutzig gelb, mit einer dünnen Eisschicht bedeckt. Weidenstrunke ragten. Daneben leuchteten helle Flecken: Brave Landser wuschen sich, den Oberkörper entblößt. Einer saß im Schnee und putzte sich langsam die Zähne. Zerstreut, denn sein Auge folgte einem Spatz, einem armseligen Spatz, der sich aufplusterte, sich putzte mit dem Schnabel, der seine Morgenreinigung vornahm wie die Soldaten. Der Grenadier warf dem kleinen Vogel Brotkrumen zu, und über die beiden weg pfiffen die Kugeln. Major von Esserte bewegte es das Herz. Wie er hinüber blickte, kam ihm der Gedanke an die junge Frau, die ausgelöscht in seinen Sinnen gewesen, solange der Beruf ihn rief. Jetzt stand sie vor ihm, und ihn überkam eine dunkle Unruhe. Er meinte fast körperlich Laetitias schlanke Glieder in seinen Armen zu fühlen. Aber er schüttelte den Gedanken ab wie ein Unrecht. Major von Esserte folgte mit dem Bleistifte den Einzeichnungen auf der Karte, dann stand er auf:

»Wir wollen es mal an Ort und Stelle ansehen.«

Während sie wieder durch den Graben schritten, fragte er:

»Warum wird bei Ihnen eigentlich so spät abgelöst?«

»Die Stunde ist verlegt worden, Herr Major. Zuerst, als wir bei der Dämmerung ablösten, ging da die Hauptfunkerei los. Als wir's dann auf abends verlegten, bumsten sie abends. Das ist noch so. Offenbar haben sie die Zeitänderung noch nicht raus. Nur um Gottes Willen keinen Lärm, Herr Major.«

Schweigend lag der Graben. In den Unterständen machten sich die Leute zurecht. Man sah sie beim Vorbeigehen, wie sie umhingen, ihr Gewehr nachsahen, den Mantel anzogen. Welche fegten mit Besen, die sie sich aus Tannenzweigen hergestellt. In allen Unterständen war es gleich. Ob nun darüber stand: »Herberge zur Heimat«, »Strandvilla« oder »Granatenschloß«, ob sie mit Fensterscheiben versehen waren oder nur mit Ölpapier, ob sie, wie einzelne hier, unter die Brustwehr geschoben lagen, oder man von der Rückenwehr aus hineinkam. Im Graben standen in Abständen die Posten, regungslos, ohne nach den vorüberschreitenden Offizieren zu blicken. Die Arme aufgelehnt, blickten sie, das Gewehr neben sich, durch die Schießscharten, über die Böschung der Brustwehr, die langsam niedersank, über das Gewirr der Stacheldrähte, hinaus auf das freie Feld dort draußen, aus dessen dünner Schneeschicht einzelne dunkle Punkte ragten: Größere Erdschollen, ein Baumstumpf, Gräser, ein Busch. Jenes dritte Reich lag dort draußen, keinem untertan als nur den Kugeln, die darüber hinwegstrichen, so daß jeder, der gewagt hätte, es zu beschreiten, in einem Gitterregen von Geschossen sein Leben verloren haben würde.

Die Klappen an den stählernen Schutzschilden standen nur soweit geöffnet, daß man eben hinaussah. Ohne Blinzeln blickten sie dem Tod entgegen, der jeden Augenblick durch die winzige Öffnung sein Opfer greifen konnte. Welche der Grenadiere rauchten. Viele beobachteten durch Gläser, ob drüben an den stummen Linien sich etwas rege. Aber so still war es dort, daß man hätte meinen müssen, kein lebendes Wesen atme. Das Artilleriefeuer war allmählich erloschen. Kein Infanteriegeschoß pfiff.

Die beiden Offiziere traten an eine Schießscharte jenes vorspringenden Grabenstückes. Major von Esserte legte dem Posten die Hand auf die Schulter. Es war ein junger blonder Mensch mit wunderbar feingeschnittenem glatten Mund, dessen blaue Augen das schweigende dritte Reich da draußen nicht losließen. Der Major fragte:

»Wie weit sind wir hier vom Gegner?«

Der Posten warf einen flüchtigen Blick rückwärts auf die Achselstücke, dann blieben die schönen blauen Augen hinausgerichtet und er antwortete mit klangvoller Stimme, jede Silbe betonend:

»Zweihundertzehn bis zweihundertdreißig Meter, Herr Major.«

»Das ist das Wäldchen?«

»Zu Befehl, Herr Major. Die Spitze, die drei einzelnen Bäume – der mittlere Stamm ist heller – liegt wohl noch siebenzig Meter weiter vor. So dürfte dort die Entfernung nurmehr hundertsechzig bis hundertvierzig Meter betragen.«

Der Generalstabsoffizier wollte sich zum Leutnant wenden. Aber der war eben von dem Auftritt herunter in den Graben getreten. Ihm schien es, als sei seine Kompagnie eingetroffen. So fragte Major von Esserte, indem er die Kartenskizze mach der Himmelsrichtung legte, ob man jenen neueingezeichneten Wassergraben draußen erkennen könne. Der Grenadiergefreite fing an zu beschreiben:

»Herr Major sehen hier vorn ein einzelnes hohes Gras. Die Dolde breitet sich aus. Sie steht rechts von dem Baum mit dem hellen Stamm. Sie deckt einen gelben Fleck. Schneefreier Lehm. Ich vermöchte nicht zu sagen, warum er aper geblieben ist. Dort vorwärts, dem Gegner zu, wölbt sich ein geringer Hügel. Gefallene Engländer. Da hebt der Graben an. Er zieht am Waldsaum hin. In drei Abschnitte ist er zerlegt. Und dreimal bedeuten tote Gegner dieser Abschnitte Grenzen. Wo er endet, wer mag es sagen? Ich meine am feindlichen Graben, dort, wo eben dünner Rauch aufsteigt.«

Der Major blickte, mit dem Glase dicht an den Kopf des Gefreiten gedrängt, hinüber. Und der Mann mit dem glatten, ungemein beweglichen, schönen Antlitz fuhr fort, ganz in seine Aufgabe versenkt:

»Sie kochen sich das Frühstück.«

»Kennen Sie das Gelände von Patrouillen her?«

»Zu Befehl, Herr Major. Ich bin verschiedentlich vorn gewesen.«

Major von Esserte sah das schwarz-weiße Band im Knopfloch des Gefreiten:

»Haben Sie sich das bei der Gelegenheit erworben?«

»Nein, Herr Major. Beim Sturm auf Frèsne-la-forêt.«

»Das war ein schwerer Tag!«

»Einen schweren Tag mag man es wohl nennen, Herr Major. Aber ein Patrouillengang hier draußen ist ernster noch. Der Gang zu den Müttern.«

Der Generalstäbler blickte ihn an:

»Faust? Was sind Sie im Zivilverhältnis?«

»Königlicher Hofschauspieler, Herr Major.«

»Und Ihr Rollenfach?«

»Valentin, zum Beispiel.«

Die Erinnerung an die Theaterabende seiner Friedenszeit stieg wie eine stille Seligkeit vor Herrn von Esserte auf. Diese Abende, wo seine ewig beherrschte Seele, die Menschen nicht liebte, sich zu tiefst erschüttert gefühlt. Und er sagte nachdenklich:

»... Ein Soldat und brav.«

Ein Lächeln ging um den schönen Mund, der so seltsam gewählt zu sprechen verstand, von dem manches süße Wort überredender Liebe von den Brettern herab Menschen bewegt haben mochte. Major von Esserte sagte, während des jungen Schauspielers schönes blaues Auge immer bei seiner Pflicht, im Reich der Mütter, draußen weilte:

»Wenn Sie übernächste Woche in Ruhestellung sind, kommen Sie mal abends zu Tisch zum Divisionsstab. Lesen Sie uns eine deutsche Dichtung vor. Ich werde es veranlassen. Exzellenz hat das sehr gern.«

Während er noch sprach, brach der junge Schauspieler vornüber. Der Körper sank in sich zusammen. Der Major griff zu. Er fühlte Warmes auf seiner Hand. Der schöne Kopf sank schlaff zur Seite. Ein Schuß in das blaue Auge, das so treu für sein deutsches Vaterland hinausgeblickt, in das Reich der Mütter, hatte das Leben geendet.

Eben war der Leutnant von Kropp gekommen. Die Ablösung im Graben ging schon von statten. Die Horchposten krochen mit lila erfrorenen Gesichtern herein. Eine Minute später wäre der Dienst beendet gewesen. Und der Major dachte in tiefer Erschütterung: Hätte ich hinausgesehen, es hätte mich ereilt. Der Mann, der in diesem Feldzuge ohne Bewegung seiner von der Pflicht gehaltenen Seele über manches Leichenfeld geritten war, streichelte dem jungen Toten, dem die Mütze vom Kopf gefallen, fast zärtlich die Wange, das kurzgeschnittene Haar.

Man bettete ihn in eine Zeltbahn, dann trugen ihn die Kameraden leise, daß die drüben nichts vernehmen sollten, zur Flurschützfeste, den Resten einer Ziegelei, schräg dem Wäldchen gegenüber.

Major von Esserte schritt mit dem Leutnant hinterdrein. Ihm klang es noch in den Ohren, jenes: »Ich sterbe als Soldat und brav«. Er dachte an die hübsche Frau, die ihm das Blut erregte, und etwas quälte ihn: Sie war von den Bundesgenossen jener da drüben. Er fragte den Hauptmann, der sich verabschieden wollte, nach dem Ort des Begräbnisses:

»Wahrscheinlich Soldatenfriedhof bei Ralinghien!«

Als der Major den Leutnant fragend anblickte, erklärte der:

»Wir hatten bisher in Belvoorde begraben. Aber das jeht nicht mehr. Sie schießen jetzt immer zu doll rein. Es nimmt jeden Tag zu. Als ob sie alles klein kriegen wollten. Unsere janzen schönen Jrabkreuze sind schon zum Deubel. Da sind wir jetzt nach Ralinghien, Dorf, jegangen. Der Weg ist zwar'n bißchen weit, aber ich habe noch nie jehört, daß eener jeschimpft hätte, wenn er 'n armen toten Kameraden schleppen muß.«

Major von Esserte stand neben dem braunen Paket, das jenen barg, der noch vor Minuten mit Haaren, schönen Augen hinaus geblickt auf das Reich der Mütter. Es würgte ihm die Kehle ab. Und der verschlossene Mann, der sich quälte, grundsätzlich mit den Leuten gut zu tun, da er sein Herz nicht eben auf der Zunge trug, ließ sich, seinem Herzen folgend, in Kniebeuge herab und legte sanft die Hände des friedlich Ruhenden ineinander. Dann schlug er das braune Tuch wieder zu. Rundum standen die abgelösten Kameraden. Ein paar rauchten gleichmütig, andere sahen still herüber. Mancher dachte wohl an das eigene Geschick. Blicke einfacher Leute mit derben, rissigen Feldarbeitshänden folgten freundlich dem Mann mit den breiten roten Generalstabsstreifen, als er sich erhob und ein Gewandelter nun, Pflicht und Soldat, nur Soldat, knapp zum Leutnant sagte:

»Nun wollen wir mal das Wäldchen von hier aus ansehen.«

Sie traten an die Sandsackmauer, die, durch Schotterkästen verstärkt, von Balken gestützt, in unentwirrbarem Gemenge, in Ziegelmauer und Lehmhaufen überging. Und während der Tote ruhig hinter ihnen lag in seinem einfachen braunen Sack, der ihm in langem Kriege Dach wie Mantel gewesen und nun sein Sarg sein sollte, stieg er eine Treppe hinauf, zu einem Beobachtungsschlitz. Die Klappe war geschlossen. Der Posten daneben sah in eine jener Spiegelröhren, die in quecksilbernem Glasstück oben über dem Wall das Bild des Vorgeländes fing, um es durch die dunkle Bretterbahn hinabzuwerfen auf den zweiten Spiegel, – unten in gedeckter Sicherheit. Major von Esserte schob die Klappe vom Stahlschild und blickte hinaus auf das gleiche Gelände, aus dem eben der tödliche Schuß ein junges Menschenleben geendet. Draußen sahen sie das Wäldchen dicht vor sich. Durch den veränderten Beobachtungsstand verschoben, lag der helle Stamm nun rechts. Die Leichenhaufen, die den Graben eingeteilt, waren verschwunden. Aber in nächster Nähe vor dem Drahthindernis, ja in den Drähten verstrickt, hing etwas, vom Schein der steigenden Sonne hell bestrahlt: Tote Engländer.

»Und Sie meinen, am Tage ist kein Maschinengewehr dort?«

»Bestimmt nicht, Herr Major. Der Wald ist am Tage nie besetzt. Nur nachts.«

»Aber der Schuß eben kam doch wohl aus dem Wäldchen?«

»Wahrscheinlich, Herr Major.«

»Also ist jetzt doch jemand vorn.«

»Wahrscheinlich eine Patrouille, Herr Major!«

»Kommt man von uns aus bis heran? Bei Tage?«

Der Leutnant überlegte einen Augenblick:

»Wenn der Schnee weg ist, will ich mich verpflichten, hinzukommen. So nicht.«

»Die Sonne scheint!«

Der Leutnant blinzelte ins Himmelslicht:

»Bis zwei ist alles weg.«

»Wann bringen die Engländer das Maschinengewehr vor?«

»Nicht vor völliger Nacht, Herr Major.«

»Wie ist der jenseitige Waldrand vorwärts zum Gegner beschaffen?«

»Ein tiefer, trockener Graben.«

»Ist er richtig eingezeichnet?«

»Zu Befehl! Herr Major.«

Der Generalstabsoffizier schrieb. Dann schloß er langsam den Schieber am Stahlschild. Er stieg hinab. Der Posten starrte noch immer unbeweglich in die Spiegelscherbe. Der Tote war schon fortgebracht. Die abgelösten Mannschaften hatten ihn gleich mitgenommen. Im ganzen Graben hin standen die Posten.

Major von Esserte wollte nach der Uhr sehen, denn das Vergeltungsschießen mußte in wenigen Minuten beginnen. Daß er sie nicht fand, führte seine Gedanken zu dieser Nacht zurück, und ärgerlich fragte er den Leutnant nach der Zeit. Da klangen Schrapnelle in den Lüften. Die Leute im Graben blickten auf. Aus den Unterständen krochen hier und da Gestalten. Welche schoben sich an den engen Grabenrändern wie Kaminfeger hinauf. Gläser wurden gegen den Himmel gerichtet. Weit vorn, über den englischen Stellungen zeigten sich Wölkchen im Blau. Bald wurde klar, was der deutsche Flieger dort suchte, den sie so gern heruntergeholt hätten. Irgendwo in Himmelshöhen klang wieder das Rauschen, das majestätische eines die Luft verdrängenden schweren Geschosses. Das Vergeltungsschießen begann.

Während die Leute im Graben auf den Einschlag drüben warteten und zu dem lieben deutschen großen Vogel aufschauten, der schwer bespieen unbeirrt über Oodekerke seine Kreise zog, eilte der Major durch den Hasenclevergraben zurück. Ab und zu blickte er sich um, zu sehen, wie der Flieger Leuchtkugeln abschoß, trotz des Tageslichtes sichtbar, als ob die Sonne Funken gesprüht hätte. Auf der Artilleriebeobachtungsstelle stand General Höhne an einem Scherenfernrohr, das eine Ordonnanz ihm nachgetragen hatte, durch Buschwerk, Gestrüpp und die Mauerreste eines zerstörten Stalles gedeckt. Nur schwarze Kragen waren dort zu sehen. Hauptmann Wessels unter ihnen. Bei einer »Grabenpirsch«, wie er es nannte, war er hinzugekommen. Ihn ging es nichts an: Hier schossen 21- cm-Mörser. Hauptmann Wessels schob schnell den Generalstabsoffizier an sein Fernrohr. Genau im Fadenkreuz sei das Ziel. Es heulte über ihnen und noch lange rauschten die verdrängten Luftschichten nach. Er sagte: »Es muß jeden Augenblick einschlagen!« Eine dunkle Säule stieg am Himmel auf, schwebte breit auseinander, verfinsterte den Raum, wo Oodekerke lag. Der Hauptmann der Mörserbatterie gab, mit plus und minus, über die Regelung des Feuers, je nachdem ob die gemeldeten Einschläge vor oder zurück lagen, seine Befehle. Der Fernsprecher trug sie zur Batterie. Zu Kanonieren, die, ungesehen und selbst nicht sehend, nach ihnen gegebenen Winkeln schossen und so Verderben hinaus tragen und Tod dorthin, wo keiner sie ahnte. Eine Wolke stieg auf, als sei ein Sandmagazin getroffen worden; da tanzte Hauptmann Wessels umher und schob Major von Esserte wieder bei Seite, er mußte »auch mal sehen«. General Höhnes tiefen Baß hörte man, wie er mit dem Hauptmann der Mörserbatterie redete. Drin im Unterstand saß am Fernsprecher ein Unteroffizier und führte Buch über jeden der teueren, furchtbaren Schüsse, die in Häuser fuhren, die Kirchen öffneten, umwarfen, auseinanderblätterten wie eine Blume, die Menschen zermalmten, durch die Luft tragen, um sie überdrüssig wieder irgendwo als blutige Fetzen liegen zu lassen.

Trotz der scheinbar geringen Erhöhung des Hügels sah man den ganzen weiten Horizont hin die hellen Sandsäcke der deutschen Grabenrückseite leuchten, und ihnen gegenüber, scheinbar sprungnah, oft ineinanderfließend durch trügerische Verkürzung, die dunklen Linien der englischen Brustwehren. An einer Stelle hob sich über der Schneeunterlage das Pfahl- und Gitterwerk der Drahthindernisse ab, so regelmäßig, wie etwa die karierte Rückseite von Kartenblättern. Die Flurschützfeste, breit, gleichsam ein Platz, war genau zu erkennen. Hätte man nicht gewußt, daß zwischen ihr und dem Wäldchen das Reich der Mütter lag, man hätte meinen sollen, die Bäume wären nichts anderes als gleichsam nur die Glacisbepflanzung, derart waren Wald und Feste eins. Die Sonne, hinter den deutschen Stellungen emporgestiegen, beleuchtete mit rötlichem Winterschein die weiße Schneelandschaft, dem Gegner entgegen Schatten werfend. Gespenstisch ragten aus dem matthellen Grunde riesige Rutenbesen, Bäume, durch den Winter kahl, Bäume, entlaubt, weil an den Wurzeln verletzt von der wühlenden Hand des Menschen, der seine Gräben zog nur nach Nutzen und Sicherheit und nicht frug, was hier unterging. Wildes Gestrüpp schien dort vorn zu wuchern und war doch nichts anderes als Wald, der Wut der Granaten zum Opfer gefallen. Der Himmel stand hell im klarer und klarer werdenden Licht des wachsenden Tages. Zur Rechten aber lagen noch schwere Wolkenbänke über dem Land, Dünste und Schleier. Gerade vor Oodekerke blähten sich jetzt in wechselndem Nebelspiel, das die steigende Sonnenwärme aus dem Boden rief, vielleicht auch vom Winde zusammengetrieben, Wolken empor. Sie zogen einen Vorhang vor, der allmählich die schmutzigen Säulen der einschlagenden Geschosse nur noch als Schatten in hellerem Dunste erscheinen ließ und bald völlig verschlang. Dafür teilten sich rechts am Himmel die Wolken, niedergedrückt von irgend einer gewaltigen Himmelsmacht, um an anderer Stelle befreit wieder zu steigen. Und eben dort strahlte grell die Sonne in die Lücken der Nebel hinein.

Die Offiziere, die nun, wo die schweren Mörser schwiegen, auch das Ziel nicht mehr sichtbar blieb, zurückgetreten waren von den Kunstaugen der Fernrohre, wurden Zeugen eines ergreifenden Schauspiels. Nur bei besonderer Licht- und Luftströmung konnte man Ypern sehen. Jetzt aber stieg es aus den Lücken des Gewölks feierlich empor. Hochragende graue Trümmerruinen, blutigrot bestrahlt von dieser Wintersonne, die, nun schon dem Frühjahr entgegen, wieder Farben zu zaubern begann. Da standen gleich erstaunlichen Dolomitriffen aus niederen Dächern, Buschwerk, Bodenwellen emporwachsend, die Denkmale der zerschossenen Stadt dort drüben, ein grausiges Grab denen, die sie hielten, unerreicht noch von jenen davor. Drei Giebel ragten. Die tiefe Stimme des Generals Höhne verkündete sie, wie ein Unweigerliches, mit ihrem gewaltigen Baß: Das einstige Wunder aus Yperns mittelalterlichem Glanz – die Tuchhallen; das graue Riesenriff der Kathedrale rechts daneben und mit festlichen Seitentürmen, scheinbar unversehrt–die Petruskirche. Die Offiziere, die Gefechtsordonnanzen, alles, was den schwarzen Kragen trug, war aus den Unterständen getreten. Man vergaß jede Vorsicht, stieg auf den Auftritt, stemmte sich an den Wänden in die Höh: Ypern! Irgend einer sagte es laut, das Wort. Ypern, das ganzen Schlachtenreihen den Namen gegeben, Ypern, zu dem jene Straße führte, die sie alle fast täglich begingen, jene Straße, stündlich unter Feuer, von Granaten gehöhlt, von Schrapnells befegt, vom Streuhagel der Infanteriegeschosse pfeifend bestrichen. Ypern, jener Boden, rundum vom Blute der Hunderttausende getränkt, der jedem anders erschien. Von Zerstörung sprach einer, der andere leugnete sie. Fliegerbilder gaben die Bestätigung. Etwas Geheimnisvolles, Seltenes, Besonderes, Unerreichtes, vielleicht Ersehntes, lag in diesem Namen. Als wäre er wirklich nur eine Erscheinung, etwa eine Luftspiegelung der Wüste gewesen, denn Wüste, Wüste lag ja hier rundum, verschwamm das Bild, die Kirche zerging, die Kathedrale verblaßte, wie am Abend die Landschaft stirbt. Nur die Tuchhallen ragten noch, rotglühend. Doch mit einemmal deckten Wolken sie zu, Nebel spannen, Dünste geisterten hin. Ypern, die Stadt, war verschwunden, als sei sie nur ein Traum gewesen, den man hier staunend erlebt.

Aber Träumen gab es nicht im Kriege. Wie sie noch dastanden und über die Erscheinung sprachen, als der Hauptmann der Mörserbatterie nüchtern erklärte, er habe Ypern schon oft gesehen, während es anderen Erlebnis schien, als Major von Esserte gerade auf der Karte die Luftlinie maß, krachte eine englische Granate. Sie platzte auf freiem Feld, dem Deckungsgraben nah.

»Nanu,« sagte Hauptmann Wessels. »Ich räche mich, du rächst dich, er rächt sich, wir rächen uns, ihr rächt euch, jetzt rächen sie sich. Gott sei Dank, daß die heilige Barbara was zu tun hat.«

Er fuhr sich wühlend mit beiden Händen in den dichten roten Bart, daß man begriff, warum er immer so struppig war. Nun kam die nächste Granate. Schon näher. Wessels rief:

»Jetzt schießt 'n Gefreiter!«

Da nun aber die folgende abermals ein Stück heranrückte, meinte er lachend:

»Das war 'n Reserveoffizier.«

»Nanu, Herr Hauptmann, bitte sehr,« sagte ein Oberleutnant der Reserve.

Hauptmann Wessels meinte begütigend:

»Vor dem Kriege natürlich!«

Als nun die vierte heranheulte, so nah, daß man schon Sprengstücke schwirren hörte, flüchtete alles in den Unterstand. Nur Hauptmann Wessels blieb stehen:

»Nu schießt 'n alter Wachtmeister!«

Dann aber hielt er es doch für besser, gleichfalls unter das Dach zu kriechen. Sie saßen eng gedrängt. Major von Esserte schrieb auf seinem Meldeblock. Ein großer Leutnant stand, den Rücken gebeugt. Hauptmann Wessels hockte am Boden. Der General sprach mit dem Hauptmann von der Mörserbatterie. Da schmetterte ein harter Schlag, Erde rieselte, Staub und Dreck stiebte. Die Kerze, die der Schreiber am Fernsprecher brannte, erlosch. Sie atmeten schwer in Pulverqualm und Schwefelgestank. In der jähen Finsternis bei Husten und Prusten klang Hauptmann Wessels Stimme:

»Dunnerschtag und Freitag, das war aber der Herr Batteriechef selbst.«

Wie sie sich herausbuddelten aus dem Unterstand, dessen Eingang halb verschüttet war, und weiter rückwärts die sechste Granate krachte, rief Hauptmann Wessels:

»Na, jetzt hat er Gott sei Dank das Kommando wieder abgegeben.«

Die Herren klopften sich Staub und Schmutz ab, und als sie wieder draußen im freien Sonnenlicht standen, in dem zum Trichter gewandelten Graben, klangen befreiende Scherze über das Rachestreuen der Engländer, das immer weiter rückwärts ging nach Belvoorde, wo man jetzt die Einschläge sah, um endlich, da nun wohl der Strafe genug schien, völlig zu ersterben. Es war still, alles vorüber, als sei nichts geschehen. Die Mannschaften im Unterstand zündeten die Kerze wieder an, säuberten ihre Apparate, schüttelten die Bücher aus, wischten den Dreck vom Tisch, und ein kleiner bleicher Mensch, um den der Rock schlotterte, sagte zu seinem Kameraden, einem Gefreiten:

»Das war aber knapp!«

Doch der bärtige Unteroffizier an Tisch und Buch zog spöttisch die Lippen zusammen und suchte durch das Kerzenlicht die Züge des Sprechenden zu durchbohren, indem er höhnend sagte:

»Na, Milchkamerad, daran wirste dir wohl noch jewöhnen müssen!«

Der General und sein Adjutant kehrten mit Major von Esserte durch den Annäherungsweg, den Hasenclevergraben, nach Belvoorde zurück. Es war ganz still geworden, so still, daß sie das letzte Stück vor dem Ort sogar aus dem Graben stiegen, denn General Höhne, kein großer Fußgänger, wollte es immer bequem haben. Er schritt so bedächtig, daß Major von Esserte, während jener mit der tiefen Stimme ein Manövererlebnis erzählte, leise den Adjutanten fragte, wieviel Uhr es sei. Der hielt ihm das Zifferblatt hin: Es war spät geworden, so versuchte der Generalstabsoffizier den Schritt zu beschleunigen. Wer General Höhne war jetzt auf seine Tätigkeit bei der Artillerieprüfungskommission gekommen, verlor sich in ballistische Geheimnisse und blieb sogar stehen, um mit dem Absatz etwas auf dem schmutzigen Lehmboden zu zeichnen. Endlich tauchten sie unter in die durchbrochenen Häuser von Belvoorde. Der Major eilte voraus. Auf der Straße zur Gefechtsstelle der Brigade rief er: »Klostermann!« Keiner gab Antwort. Da kam ihm General von Flurschütz mit ernstem Gesicht entgegen:

»Esserte, ich habe mir erlaubt, über Ihr Auto zu verfügen. Seien Sie mir nicht böse. Es muß jeden Augenblick wiederkommen. Mein armer Bißwang ist verwundet. Ich habe ihn gleich mit dem Auto reingeschickt.«

Der Major dachte an seine Schwester:

»Schwer, Herr General?«

Der kleine General schritt ganz gebeugt hin:

»Vor 'ner halben Stunde streuten sie hier rum, es kam immer weiter ran, immer näher. Wir konnten von hier aus sehen, wie da vorn an der kaputten Mühle 'ne ganze Gesellschaft auf den Trümmern saß. Leichtsinnig, wie unsere Kerle so oft sind. Bißwang der alte, brave, ehrliche Bißwang, lief raus, um die Leute zu warnen. Da kommt richtig so'n Aas. Die Leute schmeißen sich alle hin. Keinen hat's gelangt. Bißwang tut ja sowas nicht. Ich habe es ihm ja so und so oft gesagt. Na und da hat er was abgekriegt. Ich hoffe, es ist nicht so schlimm, aber immerhin möchte ich, daß er gleich 'ne Tetanus-Einspritzung kriegt. Die Wunde war kolossal voll Dreck. Rechte Schulter. Wir haben ihm gleich den Rock aufgeschnitten. Hasenclever. Famoser Mann. Mir ja manchmal zu vorsichtig. Bei Bißwang ist mehr Murr, aber …«

Der General schüttelte immer noch ganz betreten den Kopf, als dürfe sowas nicht geschehen, doch plötzlich wachte der alte Flurschütz wieder auf. Er lachte und rief in komischem Zorn:

»Bomben und Granaten! Wer soll mir denn nun widersprechen?«

Dem General hing bald wieder der Himmel voller Geigen. Als sie ein paarmal auf- und abgeschritten waren, behauptete er, sein lieber Bißwang würde nicht einmal ins Lazarett müssen, und als er nun General Höhne davon erzählte, schien er fast der Überzeugung, in ein paar Tagen sei die Sache wieder gut.

Major von Esserte stieg die Straße zur Gefechtsstelle der Brigade in den Unterstand hinab. Dort saß Hauptmann Hasenclever, denn der General wollte nie im Brigadestabsquartier bleiben und wenn es noch so ruhig war. Vor, nur immer vor, war sein Drang. Der Brigadeadjutant nahm die Verwundung gar nicht so leicht:

»Bei Bißwang ist es schwer, was zu sagen. Als sie ihm damals die Nase weggeschossen hatten und er ein paar Stunden dalag wie tot, stand er plötzlich auf und verlangte einen Schnaps. Das war alles. Es ging ja damals merkwürdig schnell. Nur drei Wochen hats gedauert. Er muß eine besondere Heilhaut haben. Er war auch jetzt bei voller Besinnung. Hat nur kolossal geschweißt. Ist denn der General wieder gefaßt? Es war ja, als ob er einen Sohn verloren hätte!«

Als der Major erzählte, er hätte gelacht, freute es den Adjutanten, aber er sagte ein klein wenig bitter:

»Ich werde ihm ja nun Bißwang nicht ersetzen können!«

»Na na na, Sie werden doch wahrhaftig Selbstvertrauen haben?«

Der Hauptmann, das Arbeitstier der Brigade, der immer saß und schrieb, der an alles und für alles denken mußte, spielte mit dem Tintenstift, drehte an seinem Trauring, schob Papiere hin und her, schließlich stand er auf und zog die Tür zum Nebenraum zu, wo Schreiber und Ordonnanzen saßen:

»Gott, ich kann mich mit dem General eben nicht so unterhalten Ich bin aktiver Mann. Kadett gewesen. Wir haben knapp das Kommißvermögen. Ich bin nicht erzogen, meinem General über den Schnabel zu fahren, was er ja an Bißwang so schätzt. Ich denke immer, wenn's mal doch 'n Krach gäbe und ich müßte den Abschied nehmen, was wird dann aus meiner Frau und meinen Kinderchen? Drei Stück. Ist ja schon viel zu viel für unsereinen. Wie soll ich dann was verdienen? Und dann, meine Erziehung: ich kann einem General gegenüber nicht so auftreten. Bißwang ist überhaupt schon militärisch manierenloser. Ich bin armer Infanterist, Bißwang ist 'n reicher Kürassier und Reserve. Nach dem Kriege geht er wieder ins Auswärtige Amt oder auf sein Gut, und wenn ihm einer grob wird, pfeift er drauf.«

Der Major legte dem Hauptmann die Hand auf die Schulter:

»Lieber Hasenclever, Sie dürfen nicht kleinmütig sein in diesem großen Kriege! Jeder muß seinen Wert kennen, wenn man auch mal Stimmungen hat und nicht mit sich zufrieden ist. Glauben Sie, daß ich es mit mir immer bin?«

»Na, Herr Major, ein Mann wie Sie?«

Einen Augenblick zögerte der Generalstabsoffizier: »Vielleicht bin ich ganz anders, als Sie denken. Unter der Uniform verschwindet scheinbar der Mensch. Ich kann's ebensowenig rausgeben wie Sie manchmal. Bißwang ist in seiner Art ein famoser Kerl. Ihr General ein großartiger Haudegen. Aber wer bei der 694. I. B. eigentlich die Arbeit macht, nun, glauben Sie, Exzellenz wüßte das nicht? Glauben Sie, Exzellenz würde damit hinterm Berge halten, wenn er es für angezeigt hielte, es zu sagen? Seien Sie ohne Sorge wegen Ihrer lieben Gattin und den drei Kinderchen. Wenn Sie ihnen mal schreiben, ich habe ja niemanden, dem ich schreiben könnte, empfehlen Sie mich und erzählen Sie, was ich gesagt habe. Ich weiß Bescheid.«

Er wollte nach der Uhr sehen, aber er zog die Hand ärgerlich von der Tasche zurück, und mit einemmal überkam ihn eine grenzenlose Sehnsucht nach jener Frau, die auf ihn wartete im Hof in Flandern.

Klostermann kam eben mit dem Wagen. Er wurde gefragt, wie die Fahrt verlaufen sei. Er meinte, die Stöße auf der Straße hätten dem Herrn Oberleutnant weh getan. Exzellenz, dem sie begegnet, habe den Herrn Oberleutnant gleich nach Bodines weiterfahren lassen. Dann nahm der große vierschrötige Mann Putzwolle aus dem Kasten und wischte die Polster ab, wo der Kürassier gesessen. Sie waren voll Blut.


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