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3

Auf der endlosen französisch-flandrischen Ebene zogen Kolonnen hin: singende Infanterie, die eben ausgeladen worden, die dampfenden Feldküchen hinter den Kompagnien; rasselnde Artillerie mit ihren Geschützen und Munitionswagen; trappelnde Reiter und endlich all die vielen Formationen, die der Krieg aus dem Boden stampft: Fuhrpark-, Proviant-, Feldbäckerei-, Brücken-, Sanitätskolonnen. Man sah Kisten, Koffer, Säcke aufgeladen. Gefährte aller Art wirbelten durcheinander in endlosen Zügen, die Straßen hinauf und hinab, einander kreuzend, verlassend, begegnend. Da gab es graugestrichene, mit Aufschrift und Nummer versehene Militärwagen, die in Arsenalen und Schuppen dem einmal kommenden Feldzuge entgegengeträumt, jedes Ortscheit, jede Schraubenmutter gleich, mit Einheitsanstrich und Einheitsrädern, daneben aber auch Gigs und Dogcarts, Tonneaus und Victorias französischer oder belgischer Abkunft, die der Krieg, der gewaltige, seinen Zwecken zugeführt. Auf den tiefeingeschnittenen Gleisen, auf vielbefahrenen Straßen, fauchten und spritzten riesige Lastautos, an denen noch die alte Bestimmung zu lesen stand als Besitz einer Brauerei, einer Mühle, eines Sägewerks.

Und all dies wirre Kriegsdurcheinander, scheinbar planlos wie das Gewimmel eines Ameisenhaufens, löste sich leicht durch deutsche Ordnung. An den Straßenkreuzungen, an den Ecken, auf den Plätzen: überall waren Wegweiser zu sehen, Tafeln mit Bezeichnungen, die in kargen Buchstaben unnütze Fragen sparten: »Tankstelle –›«, »Ralinghem 8,3 km –›«, »‹– Armee-Pionierpark«.

Der grüne Rock wurde sichtbar eines Feldgendarmen, der Befehle erteilte oder Auskunft. Ein Stab glitt vorüber im Auto. Dann wichen die Fußgänger ängstlich aus, um von den drecksprühenden Rädern nicht beschmutzt zu werden. Es gab Lachen, Hallo, auch wohl verärgerte Gesichter, die aber im nächsten Augenblick sich wieder aufheiterten bei einem Witz, hinter ihnen von irgendeinem »Landser« losgelassen.

In den Ortschaften standen die Einwohner in den Türen und starrten auf das Treiben, das nun so lange schon, zu lange ihnen, währte, denn jetzt wurden wieder Truppen verschoben: von der Front kamen Regimenter herein, andere wurden an ihrer Stelle eingesetzt. Hatten die Franzosen sich leidlich mit der Anwesenheit der Deutschen abgefunden, so wollten sie jetzt wenigstens ihre Ruhe haben. Die Hoffnung blieb ja doch im stillen Herzen, über Nacht würde es einmal vorüber sein mit der ganzen Herrlichkeit der verfluchten » boches«. Dann zogen die Engländer ein oder die Franzosen. Lieber die Franzosen, denn es war ihr Fleisch und Blut. Man hörte Übles von der Rücksichtslosigkeit des fremden Bundesgenossen. Manche auch hatten, ehe die Deutschen gekommen waren, das Inselvolk erlebt, das da auftrat, als sei ihm das flandrisch-französische Land untertan, mehr als dem Sieger, den Deutschen.

Jetzt kündigten sie sich nur durch Kanonendonner an, heute stärker als je die Wochen vorher. Man war das dumpfe Rollen, das ewige Dröhnen gewöhnt, gewöhnt auch, daß in den Nächten der Himmel wie von fernem Wetterleuchten im Feuer aufzuckte, aber heute klirrten die Fensterscheiben schon seit Tagesanbruch und das quirlende Leben bedeutete, daß irgend etwas vorging da draußen an der Front.

Seit ein paar Stunden kamen auch Verwundete die große Straße herab, die nach dem fernen Ypern führte. Autos mit dem roten Kreuz im weißen Felde eilten hin; die elektrische Bahn – von den Deutschen, die alles machten, wiederhergestellt – brachte feldgraue Gestalten, den Kopf verbunden mit weißem Tuche, daraus es mählich rot durchsickerte, oder den Arm in der Binde. Viele schlichen zu Fuß den weiten Weg herab, zusammengetan, oft indem ein Lahmer sich stützen ließ von einem, den eine Kugel oder ein Granatsplitter in Hand, Arm, Schulter außer Gefecht gesetzt.

Der stärkere Kanonendonner heute hatte auch die Bewohner der Schlösser und Höfe der Umgegend herausgelockt. So manche waren zerstört von Artilleriegeschossen oder ausgeräumt, weil man in Stellungen, Deckungen, Unterständen der Möbel bedurfte. Meist war es jenen nahe der großen Straße geschehen. Den abgelegenen dagegen ging es, soweit Granaten sie nicht erreicht hatten, besser. Belegt freilich waren sie alle, denn im weiten Umkreise gab es nicht ein Haus mehr, das nicht Einquartierung hätte aufnehmen müssen.

Ein Hof schien davon verschont: Ralinghien, die »Ferme«. Dabei lag er nur, wie die Wegweiser der Deutschen richtig angaben, 8,3 km von der Hauptstraße entfernt, die von Bobines nach Ypern führte; und zwar noch in Frankreich, nur einige seiner Felder jenseits der nahen belgischen Grenze. Auch seine Bauart: rote Ziegel, die Fugen weiß verstrichen, dazu das niedrige bemooste Dach, verriet flämische Einflüsse. Der Cottagestil eines offensichtlich späteren Anbaues mußte nach England weisen. »Ferme« nur genannt, bedeutete es im Grunde doch mehr, denn wenn auch der Bau gegen die Protzenschlösser der Gegend fast bescheiden schien, so war doch die ganze Anlage herrschaftlich mit den vier Reihen riesiger Ulmen, die von allen Seiten zum Park zogen. Sie waren schief gewachsen, die Alleebäume, ständig gebeugt durch den Seewind, der unablässig vom unfernen Meer herüberwehte. Regen bringend, förderte er das Wachstum, führte aber auch jene ständige Feuchtigkeit mit sich, die dem Lande etwas Ungesundes gab.

Auch heute blies der Wind, ja bisweilen erhob er sich fast zum Sturm, daß die alten Bäume des Parkes ächzten, daß Ziegel auf dem grünlich angelaufenen Dach klapperten und graue Regenwolken in tief niederhängendem Schleier über die eintönige Landschaft peitschten. Sie allein machten die Truppenbewegungen des Tages möglich. Sonst hätten Fesselballone am Himmel gestanden, sonst wären Flugzeuge angeschwirrt gekommen, Bomben abwerfend und das feindliche Feuer leitend.

Die Bewohner von Ralinghien hatten vom Kriege weniger gespürt als ihre Nachbarn. Nur wenige Granaten hatten sich einmal, während des Vormarsches der Deutschen, hierher verirrt. Sie hatten im Park Bäume gefällt oder angesplittert und eine Kuh erschlagen, die sich in das große Blumenbeet vor dem Hause verirrt. Der Herr der Ferme, der alte Baron de Battaignies, hatte darüber nur gelacht und spöttisch gemeint, jene Bäume habe er nächstes Jahr doch fällen lassen müssen, um den Durchblick auf Bobines frei zu bekommen. In Wirklichkeit jedoch suchte er aus dem Unglück Segen zu zaubern, sich selbst belügend oder doch seine Damen, denn einen Blick zu schaffen auf den Fabrikort Bobines, den er mit nichten schätzte, wäre ihm nie in den Sinn gekommen. Er liebte die Industrie wie ihre Kapitäne nicht, er, der alte französische Edelmann, dessen Baronie nicht von des ersten oder gar des zweiten Kaiserreichs Gnaden stammte, sondern dessen Familie hier seit Hunderten von Jahren saß.

Gleich allen Franzosen hatte er seit Monaten sein Haus nicht mehr verlassen und ging nun unruhig auf und nieder, dem Toben der Kanonen lauschend. Vielleicht war jene Schlacht nicht einmal nah. Am Ende trieb nur der Wind ihnen heute den Schall stärker zu. Der alte Herr hatte öfters mit französischen Offizieren gesprochen, als seine Landsleute noch hier weilten. Sie hatten lächelnd die Damen beruhigt: Die » boches« wären noch weit, sehr weit! Um Luftlöcher, Strömungen, Schallgesetze, unerforschte und höchst eigene, handle es sich, die das Kanonengebrüll bisweilen deutlich hörbar machten, obwohl es noch weit entfernt sei, die es andererseits wieder verschluckten bei drohendster Nähe. Aber dann waren trotz freundlichem Lächeln liebenswürdiger französischer Offiziere mit einem Male die Deutschen und ihre Kanonen – bums – in Bobines gewesen und kurz darauf schon weiter, viel weiter vorn, wo sie jetzt seit dem Stellungskriege in unerschütterten Linien ehern standen.

In der »Ferme«, wie die Bewohner von Ralinghien – sie sprachen es französisch aus – den alten Besitz zu nennen pflegten, denn ein » château« hatte jeder der Fabrikherren, war also nie Einquartierung, sondern nur »Besuch« gewesen. Einmal bei jenem Herbstvormarsche eine Stunde lang ein junger deutscher Leutnant. Er hatte mit seinem Zuge den Parkrand besetzt und dabei Zeit gefunden, in leidlichem Bonnenfranzösisch den alten Herrn und seine Damen zu bitten, in den Keller zu gehen – denn bei dem Granatenhagel könnte etwas » tomber dedans«, wie er sich ausgedrückt. Mehrmals war dann der große, lebenstrahlende junge Mann im Keller erschienen, um zu fragen, wie es ginge. Er hatte den Damen Schokolade gebracht. Stollwercksche Milchschokolade. Deutsch. Aus Köln. Und hatte nicht geruht, bis man sie annahm. Zwar war sie ein wenig weich und zerdrückt gewesen, aber im Kriege änderten sich die Wertungen. Der deutsche Leutnant hatte nämlich darauf gesessen, aber das sagte er nicht. Es war ja auch nur eine Tafel – mehr nannte er nicht sein eigen. Und dann war er nicht wiedergekommen. Als die Battaignies heraufstiegen, zeigte nur noch eine Reihe von Erdlöchern am Parkrande, wo die deutschen Soldaten sich eingegraben, an, daß hier der Krieg seine Spuren hinterlassen. Der Leutnant selbst mit seinem Zuge war längst weiter vom oder weiter noch, höher droben, vielleicht im Himmel.

Und Madame Laetitia Vison de Beaucourt, des alten Herren jüngste Tochter, deren Mann im Felde stand, – da drüben jenseits der Stacheldrähte – hatte gesagt: » Il est parti!« Das klang fast traurig, denn sie dachte bei jedem Soldaten, auch beim Feinde, an ihren Mann, an das gleiche Geschick.

Der zweite Besuch nun, den der Hof Ralinghien von deutschen Offizieren erhalten, war erst gestern erfolgt. Ein Fliegerleutnant. Der hatte noch besser französisch gesprochen, trug er doch einen polnischen Namen: Graf Bielinski. Auf leise Andeutungen gemeinsamer Freundschaft zwischen Polen und Franzosen hatte er jedoch zu betonen gewußt, er sei Königlich Preußischer Offizier. Das fanden die Battaignies nicht sehr zartfühlend und so mußte sich der Flieger, der mit seinem großen brummenden Insekt nur auf Minuten gelandet war, unbedauert ob seines so kurzen Verweilens wieder davonmachen. Immerhin trug seine unvermutete Landung einige Beunruhigung ins Haus. Man zerbrach sich den Kopf, was sie bedeutete und brachte sie unwillkürlich mit irgendwelchen neuen Plänen der Deutschen in Verbindung. Daß Ralinghien bisher nicht belegt worden war, hatte der Maire von Bobines dem Herrn der Ferme einmal so erklärt: es lag noch in Reichweite der englischen Geschütze da drüben und täglich konnten Granaten hineinfallen, wenn etwa Flieger oder vielleicht eine Spionenmitteilung über das feindliche Ausland denen da drüben gemeldet hätte, hier gäbe es für die Granaten Menschenfutter, gar etwa einen höheren Stab. Zur Belegung mit Mannschaften schien Ralinghien aber zu klein, lag zu weit ab von der Straße und wäre andererseits als Ruhestellung der Feuerlinie doch wieder zu nahe gewesen. Aber solche Betrachtung mochte immerhin nur dem Haupte des Advokaten in Bobines, der während des Krieges als adjoint die Geschicke des Städtchens leitete, entsprungen sein.

Baron de Battaignies war von seinen beiden Töchtern, Madame Laetitia Vison de Beaucourt und Claire, der älteren, unverheirateten, begleitet. Bisweilen blieben sie stehen, wenn das ferne Rollen der Geschütze zu unheimlich anschwoll. Dann legte wohl die junge Frau beide Zeigefingerspitzen an die hübschgeformten kleinen Ohrmuscheln und sah die Schwester trostlos an. Nicht den Vater, denn der alte Herr nannte sich einen »Patrioten« und liebte kein Zeichen der Schwäche, auch nicht bei einer Frau. Kleiner als seine Töchter, war er mager, gelb von Angesicht, mit langem, weißem Schnurrbart und einer struppigen Fliege am Kinn, struppig, weil er immer daran zupfte. Sein volles, weißes Haupthaar trug er, wie es einst in Frankreich Mode gewesen, aufrecht gebürstet und eckig kurz geschnitten.

Sie sprachen wieder über den Fliegerbesuch, denn immer kehrten die Gedanken der drei dahin zurück, wie denn auch das Geringfügigste den Unbeschäftigten zum Ereignis wurde. Mit der Weitschweifigkeit der Jahre wog der alte Baron alle Möglichkeiten ab und als bei endlosem Auf- und Niederschreiten die Betrachtungen gar kein Ende nehmen wollten, warf die junge Frau ihrer Schwester einen verzweifelten Blick zu. Doch eben jetzt kam die Erlösung, denn als sie jenen Punkt erreicht hatten, wo die eine der von vierfachen Ulmenreihen gesäumten Alleen gen Osten in das freie Feld hinausführte, um dort über ein paar zerstreute Gehöfte die Straße nach Bobines zu gewinnen, blieben sie alle drei unwillkürlich stehen. Reiter näherten sich. Baron de Battaignies wandte sich siegesgewiß zu seinen Töchtern: er wußte es, jetzt bekamen sie die » boches« auf die bis dahin unberührte Ferme gesetzt. Darum auch gestern dieser unhöfliche Fliegeroffizier, der Damen nicht zu begegnen wußte. Da nun die Gestalten der Reiter immer wuchsen, wurde kurz beratschlagt, was zu tun sei. Am besten ins Haus gehen. Sollte man sie etwa erwarten? Zuviel der Höflichkeit. Aber man war schon entdeckt worden, das hätte wie Flucht ausgesehen. Also bleiben. Vielleicht konnte Claire verschwinden. Alle drei brauchten ja nicht dazustehen. Oder beide Schwestern zögen sich zurück, denn am Ende war es Männersache, die Feinde zu empfangen. Schon gab der Vater ein Zeichen, als über all dem Zögern die Reiter so nahe gekommen waren, daß jede andere Lösung als zu verweilen nicht allein unwürdig gewesen wäre, nein, sogar hätte mißdeutet werden können.

Sie blieben also stehen, jedes auf seine Weise sich auf den Besuch vorbereitend. Claire setzte ihre abweisendste Miene auf, was ihr nicht besonders schwer ward, hatte die Natur doch ohne Zweifel an ihrem Körperlichen sich nicht ausgegeben; Madame Vison de Beaucourt, ohne eigentlich hübsch zu sein, doch mit allem Liebreiz junger Frauen jenes den Äußerlichkeiten zugewandten Volkes begabt, nahm eine gleichgültig-lässige Haltung an, die ihr gut stand bei ihrer biegsamen Gestalt; der alte Herr aber zupfte wütend an seiner Fliege. Dabei wandte er sich ab, als habe er die Reiter nicht gesehen, scheinbar in neckischer Unterhaltung mit den Damen. Da ihm in Groll und Stolz Worte jedoch nicht zu Gebote standen, so beugte er sich plötzlich zum Beete hinab und begann eine Blume zu betrachten, die ihm offenbar fremd sein mußte, sonst hätte er sie nicht so aufmerksam geprüft. Nur war es just ein Chrysanthemum.

Als er eine Stimme vernahm, frisch und laut, wandte er sich herum. Von einer Stute herab, die unverkennbare Zeichen des Arabers trug, mit Fasanenschweif und beim Parieren leicht herausgedrücktem Hirschhalse, grüßte ein glattrasierter, schlanker Husarenoberleutnant, dem die Mütze, das einzig bunte, stark auf dem linken Ohre saß: Er sagte deutsch etwas, und die junge Frau hob den Kopf, als verstände sie. Schon wollte sie antworten, da bedeuteten sie ihres Vaters Augen zu schweigen. So wiederholte der deutsche Offizier französisch seine Rede, langsam, Ausdrücke suchend, aber durchaus verständlich. Er bat das » château« besehen zu dürfen, bedauernd, daß er stören müsse. Dabei saß er ab, überließ der Ordonnanz die Zügel und wandte sich zu den Franzosen, die wohl oder übel voranschritten, dem Hause entgegen.

Das kleine Stück Weges wurde nicht gesprochen, nur der Offizier wechselte ein paar Worte mit einem Vizewachtmeister, der ihn begleitete. Während sie durch die Räumlichkeiten schritten, die Baron de Battaignies allein zeigte, denn die Damen waren im großen Salon zu ebener Erde zurückgeblieben, besprachen die beiden Deutschen allerlei miteinander, als ob sie die Zimmereinteilung träfen. Der Hausherr schien zu finden, daß es nun genug sei, denn die Wirtschaftsräume brauchte man ebenso wenig zu sehen wie den Anbau, vor allem aber nicht den ersten Stock, in dem die Schlafzimmer lagen. Aber der deutsche Offizier bestand darauf, daß sich ihm alle Türen öffneten, ja, als er auf Widerstand stieß, drohte er jede Artigkeit zu verlieren. Wie nun der alte Herr sofort nachgab, lenkte der Husar ein und erklärte begütigend, es handle sich um Unterkunft für einen großen Stab. Ein Divisionskommandeur mit allen seinen Herren müsse untergebracht werden, dazu die Schreiber, Burschen und Ordonnanzen. Da blieb Baron de Battaignies stehen, rollte die Augen, zupfte seine Fliege und erklärte, das sei völlig ausgeschlossen, es sei einfach kein Platz.

Der Offizier gab sehr kurz zurück, bei den Deutschen gäbe es das Wort »ausgeschlossen« überhaupt nicht. Im übrigen habe er Befehl und damit sei die Sache erledigt. Er machte eine knappe Verbeugung und stieg, ohne sich um den Franzosen weiter zu kümmern, die Treppe hinab. Am großen Salon aber klopfte er, um sich bei den Damen zu verabschieden. Er fand das Zimmer leer, zuckte die Achseln und wandte sich.

Währenddessen holte der Vizewachtmeister ein Stück Kreide aus der Tasche und schrieb an die große Eingangstür unter dem Glasdach der Vorfahrt:

Stab der 347. I. D.

Die drei Reiter saßen auf und ritten im Schritt davon, ohne sich umzublicken. So konnten sie auch nicht sehen, wieviel Neugierige ihnen nachstarrten: oben in den Schlafzimmern die beiden Damen; vom Billardzimmer aus der Herr des Hauses; aus Küche und Wirtschaftsräumen, vom Dachboden und aus Kammer wie Nebengelaß manch heimliches Auge.

Baron de Battaignies trat in das mit großgeblumtem bedruckten Cretonne bespannte Schlafzimmer seiner jüngsten Tochter. Die Schwestern, die hinter den dünnen Gazevorhängen gespäht, fanden den deutschen Offizier ungezogen. Er habe sich nicht einmal empfohlen. Auch der alte Herr war mit dem Husaren nicht einverstanden, obwohl seine nicht unartige Bestimmtheit ihm eigentlich Eindruck zu machen schien. Sagte er doch: » Quand' même ce sont des gaillards.« Ein wenig spielte er sich auf den Unterrichteten, den Besserwisser, und ließ seine Überlegenheit als Mann, Vater, wie auch als alter Soldat, der er einmal gewesen war, dem weiblichen Geschlechte, der Jugend, den Töchtern gegenüber fühlen. Dann begannen Erwägungen aller Möglichkeiten und Wahrscheinlichkeiten; Voraussagen alles dessen, was nun eintreten könnte, sich begeben müßte, zu erwarten sei. Der Baron prunkte damit, er habe bei der Landung des Fliegers gestern das alles weitblickend vorausgesehen, denn von diesem waren sie alle drei fest überzeugt: die Begebenheiten von gestern und heute hingen zusammen. Und bei all dem Reden, dazu die Töchter ihr gleiches Teil gaben, ward sich keiner klar, daß sie das alles, für etwa kommende Fälle dieses Krieges, ja längst besprochen hatten und heute wieder einmal nur endlos Dinge wiederholten, die bis in die geringsten Kleinigkeiten seit August 1914 feststanden: wie redete man mit den » boches«, wie grüßte man sie, wie verhielt man sich bei unverschämtem Benehmen, wie gar bei zu großer und dadurch doppelt verdächtiger Artigkeit.

Da nun aber Eile nottat, hatte doch der Oberleutnant gesagt, der Stab würde noch heute eintreffen, so überlegte man, welche Dinge noch schnell beiseite geschafft werden könnten, sei es, daß sie verdorben würden, sei es, daß es ratsam schien, sie den Augen der Feinde zu entziehen. Zwar war gar manches schon in Sicherheit gebracht worden, aber nun, wo es brannte, wurde immer Neues entdeckt beim Stöbern und Packen, beim Räumen und Umstellen, das nun wütend begann.

Hatte Ralinghien beim deutschen Besuch einen völlig toten Eindruck gemacht, so tauchten nun eine Anzahl weiblicher Wesen auf. Gänge und Stuben, Kammern und Böden wimmelten von Schwarzen und Blonden, die zugriffen, alles zu beseitigen, zu verstecken, wegzuschließen. Und wie bei einem Brande die gleichgültigsten, wertlosesten Nichtigkeiten gerettet werden, so entzog man den gierigen Klauen der nahenden boches Dinge, die keinem nützen konnten, während man anderes stehen ließ, das zerbrechlich war oder ihnen von Wert sein konnte.

Während unter Oberaufsicht der Damen geräumt wurde, ging der alte Herr in den Park. Ein Aussichtstempel stand auf einer Anhöhe, die durch einen Durchblick in den Bäumen den Blick bot den feindlichen und, ach, den befreundeten Stellungen entgegen. Dort bohrte Baron de Battaignies mit dem Stocke leicht in der Erde und warf abgefallenes Laub eifrig hier und dorthin. Es war aber nur das böse Gewissen, denn über dem köstlichen alten Bordeaux und dem weißen Burgunder, den er hier hatte vergraben lassen, war längst allerlei Rankendes gewachsen. Scheu blickte er um sich, rot von der Anstrengung. Erschrocken fuhr er zusammen, als Schritte klangen und der alte Blaise, der Gärtner, dastand mit seinem ehrlichen Gesicht, dessen Kupfernase auf Alkohol zu deuten schien, während er doch nach eigener Angabe nichts zu sich nahm an geistigen Getränken als seinen täglichen petit verre, den apéritif der Friedenszeit. Der Alte erklärte treuherzig, er habe, wie Monsieur, nur mal nachsehen wollen, ob man nichts sehe, auch wirklich nichts sehe, denn die verfluchten boches, das habe er nun schon mehrfach von Nachbarn gehört, besäßen ganz verdammt feine Nasen für vergrabene Schätze. Sie röchen ordentlich den Wein, gerade den Wein! Gott sei Dank wisse ja aber niemand davon als sie beide, Monsieur und er, die ihn gemeinsam verscharrt hatten. Dabei schnupperte der Alte umher, als wolle er sich vergewissern, ob die Köstlichkeiten da unten nicht etwa durch die Erde dufteten.

Der Baron schickte den Gärtner unter einem Vorwande fort und strich dann noch einmal allein durch seinen Park mit den herrlichen alten Bäumen, von denen dieser und jener granatengefällt quer über den Weg lag. An einem Teiche, darauf ein halbversunkenes Boot inmitten wuchernder Entengrütze träumte, trat er unter eine Wellingtonie. Sie war durch Zu-eng-Stehen um ihren Kerzenwuchs betrogen. Er schritt plötzlich leise zählend am Wasserrande hin, verweilte sich, suchte am Boden, der nichts Besonderes aufwies, zupfte erfreut an seiner weißen struppigen Fliege und ging dann, zuerst scheu, bald aber stolz aufgerichtet, wieder dem Hause zu.

Helle Stimmen schallten ihm entgegen, so fröhliche daß er ganz verdutzt die Schritte beschleunigte, meinte er doch nicht anders, als es müsse etwa die Belegung mit deutschen Truppen abgesagt sein. Je näher er kam, desto mehr wuchs der Jubel. Er eilte ins Haus, aus dessen offenen niederen Fenstern das Lachen klang. Da stand ein französischer Piou-piou mit weiter roter Hose und blauem Rock, das rote Käppi so schief auf dem Ohr wie der deutsche Husar vorhin. Er grüßte, die Finger abgespreizt, stolzierte auf und ab und dankte für den stürmischen Beifall der Weiber, der Mädchen, des alten Blaise und eines alten Knechtes. Aber das Becken war seltsam breit, der Leib schmal und auf der Fülle schwarzer Haare wollte die Mütze nicht recht sitzen.

Als Baron de Battaignies stirnrunzelnd eintrat, wandte der Piou-piou sich um. Siehe da: Nicolette, das Küchenmädchen. Bei dem erschrockenen Gesicht des alten Herrn brach erst recht der Jubel los. Die dicke Köchin mit dem Schnurrbart und dem Trauring – parti en guerre war ihr Mann – weinte Tränen vor Lachen. Die Mädchen hielten sich die Seiten. Auch Claire und Madame Vison de Beaucourt rangen nach Luft in ihren bergères, vorn auf den Ehrenplätzen sozusagen, und im Grunde war doch nichts Wichtiges, nichts Komisches geschehen. Nur einmal, einmal etwas anderes war es! Eine Abwechselung in dem öden Einerlei dieses entsetzlichen Krieges. Und es tat so gut, einmal wieder zu lachen, da man doch seit Wochen, seit Monaten nicht mehr lachen gekonnt.

Die Tränen der Freude begannen zu versiegen, vielleicht mit, weil Monsieur dazugekommen war, den Hut vor Staunen noch immer auf dem Kopf, Monsieur mit dem verstörten Gesicht, in Gedanken noch bei den vergrabenen Silberschätzen des Hauses, die am Teiche ruhten.

Da nahm Nicolette, das Küchenmädchen, Range, gamine, ein rechtes französisches kleines Aas, plötzlich die Beine mit den unter den weiten roten Hosen verschwindenden Füßchen zusammen. Ganz ernst wurde das kecke Gesicht, die Stupsnase, die kohlschwarzen Augen, und mit einemmal begann sie stolz zu singen: » Allons enfants de la patrie …«

Verdutzt waren sie gewesen im ersten Augenblick, die rundherum, dann aber fiel der alte Gärtner Blaise ein, die dicke Köchin gröhlte mit, die Mädchen öffneten den Mund. Mademoiselle Claire und Madame Vison de Beaucourt standen auf von ihren Stühlen. Der alte Herr aber trat vor in den Kreis, nahm feierlich den Hut vom Kopfe und stimmte in das Lied ein, das er als Royalist in Friedenszeiten nicht mitgesungen hätte, das ihm aber jetzt ein Symbol seines nicht eben glücklichen Vaterlandes dünkte.

Man sah Tränen in seinen Augen schimmern. Auch die Köchin weinte. Madame de Beaucourt wischte sich mit dem Tüchlein das Gesicht. Und in dem Schweigen dieser verängstigten Besiegten, dieser großen Kinder, die Franzosen nun einmal sind, trat plötzlich der alte Herr auf den kleinen Piou-piou zu, auf Nicolette das Küchenmädchen, und gab ihm sozusagen einen Weihekuß auf die von Lachen, dicker Verkleidung, Ulk, völkischer Begeisterung und Singen nasse Stirn. Die andern aber, über solch hohe Handlung des Patriotismus entzückt und gerührt in ihrer armen eitlen unterdrückten Franzosenseele, begannen mit einemmal wütend Beifall zu klatschen. Und dann, große Kinder, bösartige zuweilen, unerzogene meist, Kinder aber immer, mit Lachen und Weinen in einem Sack, fingen sie an zu jubeln, zu tanzen, sich zu drehen im Kreise, als hätten sie, so Männlein als Weiblein, so alt wie jung den Verstand verloren.

Baron de Battaignies schlug in die Hände: »Kinder, Schluß jetzt, Schluß! Die boches könnten kommen!« Und mit Huh, huh! und scherzhaftem Gesichtverstecken huschten sie auseinander.

Nun gab es noch einen Riesenulk, als draußen in der Küche die kleine Nicolette ausgezogen ward, denn die Uniform, von einem Soldaten herrührend, den man vor den Deutschen in Sicherheit gebracht, mußte wieder versteckt werden. Als nun das Mädchen herausschlüpfte, tat der alte Blaise ganz verschämt, verbarg, heimlich, doch durch die vorgehaltenen Finger schielend, sein Gesicht und mancher derbe gallische Spaß ward losgelassen, zum Kichern der Weibsbilder, während die dicke Köchin mit Schnurrbart und Trauring wieder Tränen lachte. Die Mädchen stiegen auf den Boden, und am Giebel, zwischen Verschalungsbrettern, wurde die Uniform versteckt. Alle gingen sie mit, wie zu einer Prozession, und standen rundum und machten traurige Gesichter, als die leuchtende rote Hose verschwunden war.

Der Vizewachtmeister hatte eine Anzahl Räume genannt und ausgesucht für jenen deutschen Divisionsstab, der unten an der Tür mit Kreide angeschrieben stand. Es war gleichsam die Besitzergreifung des Feindes. Das erstemal, daß ihnen die Deutschen ganz nahe kamen, die nun Herren wurden in der Ferme. Darum fühlten alle ein Bangen, ein Unbehagen. Die Nachbarn hatten zwar nur Gutes erzählt, es herrsche Ordnung bei den deutschen Soldaten, sie täten nichts Böses, aber wer sollte es wissen: Menschen waren verschieden überall.

Madame Laetitia Vison de Beaucourt saß in ihrem Schlafzimmer mit den großen bunten Blumen und Früchten auf dem Stoff der Wände. Sie ging an den Bildern hin, die hier in ihrem einstigen Mädchenzimmer hingen, noch aus jener Zeit, wo sie kaum aus dem Kloster wiedergekommen war, um kurz darauf zu heiraten. Die selige Mutter war da zu sehen, ihres Vaters zweite Frau, um zwanzig Jahre jünger als er, ein stilles, ruhiges, fast ein wenig traurig blickendes Gesicht. Wie ihre Töchter war sie nicht schön, aber voll heimlich dunkeln Liebreizes, von dem auch das Lichtbild einen Abschein wiedergab. Und dann waren Ansichten da vom Rhein: der Drachenfels, Köln mit dem Dom, Bonn. Dort war Laetitia im Kloster erzogen. Dort hatte sie die glücklichste Zeit ihres Lebens verträumt. Und an Bonn, an das Kloster am Rhein, dachte sie jetzt zurück, gerade jetzt, wo bald, vielleicht gleich, die Deutschen kommen konnten. Sie verstand und redete deren Sprache, die Sprache ihrer einzigen Freundin, die Sprache von Menschen, die ihr immer nur Gutes getan, und die heute als Feinde im Lande standen.

Wie sie noch darüber sann, klopfte es. Das Mädchen riß die Tür auf:

» Madame, les boches!«


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