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Als Major Rennhöfer dem Baron erzählte, wie nachts der herrlichste Wein ausgegraben worden sei und zwar mit seinem Lächeln, das aber diesmal unzweifelhaft boshaft war, machte der alte Patriot ein Schafsgesicht. Wein? Und nun gar in seinem Park? Und der Spitzbube, der alte Blaise? Da fragte der Divisionsadjutant:
»Also gehört der Wein nicht Ihnen?«
»Nein!«
»Er ist also sozusagen ein Kuckucksei, Ihnen ins Nest gelegt. Mithin herrenlos. So wird er nach Kriegsrecht verbraucht werden. Und Sie müssen uns eigentlich noch dankbar sein, daß solch unfruchtbare Stellen aus Ihrem Parke entfernt werden, denn gesetzt, Sie hätten später einmal dort etwas pflanzen wollen, so würde es nicht haben Wurzel schlagen können auf so glasigem Boden und Sie hätten noch Verdruß und Kosten dazu gehabt!«
Baron de Battaignies zupfte sauersüß an seiner Fliege, schon darum mißgestimmt, weil sein Spießgeselle das Weinlager heimlich besucht hatte, ohne ihn davon zu unterrichten. So ging er denn durch Haus und Hof und fragte Vizewachtmeister Fiedler so von ungefähr nach der Sache. Der zeigte ihm schmunzelnd die Liste der Weine. Baron de Battaignies setzte seinen Kneifer auf, prüfte genau und behauptete empört: da fehle ja so und so viel. Damit schien also des alten Blaise Nase erklärt. Dann hörte man eine scharfe Auseinandersetzung zwischen den beiden Franzosen, und bald darauf in den Zimmern der Familie, die sonst so still war, Claires schneidende Stimme, so daß Major von Esserte den Vizewachtmeister hinaufschicken mußte, um Ruhe zu bitten, sie hätten unten zu arbeiten.
Der alte Blaise hatte wohl geglaubt, daß er erschossen würde, da man ihm aber nichts tat, mußte man doch dem Weinversorger fast dankbar sein, so trat er nun auch aus Wut gegen seinen Herrn, beinah auf Seite der Deutschen. Er lief in die Küche und erzählte, wie anständig man sich benommen habe, und ihn, der wie der alte Knecht die Freundschaft zwischen den Mädchen und den Soldaten mit scheelen Augen angesehen, brauchte nun keine mehr zu fürchten, wenn sie sich entgegenkommend zeigte gegen die strammen Jungen, die bisweilen abends so schön sangen, und ihnen immer gutes Essen zusteckten. In der Tat hatten, seitdem die Deutschen da waren, die drei Mägde zugenommen; auch Jeanne, die »falsche Magere«, begann sich zu runden; Nicolette hatte dicke Backen bekommen, darauf aber nicht mehr des Vizewachtmeisters Lippen ruhen durften, denn jetzt war Klostermann der Bevorzugte. Seine kräftige Gestalt, seine Riesenfäuste hatten es ihr angetan. Zu den anderen Mädchen sagte sie von ihm:
» C'est une brute, hein?« womit sie etwa meinte, das sei doch wenigstens noch mal ein Kerl. Er zeigte es ihr auch, indem er ab und zu in der Küche sie um den Leib faßte mit seinen Riesenhänden, bis die Daumen und dritten Finger hinten und vorn zusammenstießen. Dann hob er sie hoch und sie strampelte mit den kleinen Füßen, daß die Holzschuhe wegflogen. Die dicke Köchin zuckte nur die Achseln. Auch sie schien bereits gewandelt und sagte nur:
»Gott, sie ist jung! Wer weiß, wie lange dieser Krieg noch dauern wird! Schließlich lebt man ja nur einmal.«
Heute freilich wurde sie böse, denn der eine fortgeschleuderte Schuh hatte einen Teller getroffen, der nun klirrend zersprang. Wie sie schimpfte – sie rollte gerade einen Teig – suchten die Schuldigen das Weite, aber der Adjutant kam herein, und auf seine ärgerliche Frage, was der Lärm bedeute, verteidigte sie sofort Nicolette. Im Frieden, der Herrschaft gegenüber, hatte sie es nicht anders gehalten. Sie erklärte, immer weiter rollend auf ihrem Brett: Der Teller sei ins Rutschen gekommen. Ganz von selbst. Offenbar aus innerer Gemeinheit. Doch der Major antwortete diesmal in kurzem Französisch ohne jeden verklärenden Schwung:
»Oben brüllt Monsieur; hier kriegen die Teller Beine; wir aber haben zu arbeiten. Also Ruhe!«
Die Dicke wandte sich um, die Holzrolle, die sich immer weiter drehte, von ihrem gerundeten Leibe abgespreizt:
» C'est la guerre!«
Ja die Dicke hatte sich geändert! Dieser verfluchte Krieg nahm auch gar kein Ende! Und taten sie denn Böses, die boches? Der Vizewachtmeister hatte ihr Grüße mitgebracht von ihrer Schwester aus Lille, die er eigens für sie besucht, Klostermann bei seinen Autofahrten ihr allerlei in Tourcoing oder in Bobines besorgt. Ja für das Besohlen ihrer Schuhe, die sie Kühnscherf, dem Kammerdiener, mitgegeben, hatte der nicht einmal Bezahlung angenommen. Die anderen sagten, er besäße zu Haus ein gutgehendes Geschäft. Und mit den feinen glattrasierten Zügen sah er eigentlich gar nicht aus wie ein Barbar. Wie benahm sich denn ihr Mann: Gustave Germallevoit, der Diener hier im Haus? Jeanne, das Stubenmädchen, hatte von ihm erzählt. Schwerer Artillerist, war er in Maubeuge gefangen worden. Jetzt saß er im Sennelager und schrieb bisweilen, aber nur, sie solle Geld schicken. Wenn man so die Dicke mit dem Schnurrbart sah, mochte man es gar nicht glauben, daß der sie immer blau und braun gehauen, wenn er sich, sobald Monsieur mal nach Lille oder Paris gefahren war, mit dem alten Blaise besoffen hatte. Die dicke Henriette spielte die Gestrenge eigentlich nur wegen des Gärtners. Man mußte sich in acht nehmen bei diesem Netze allgemeiner Angeberei, das der Krieg hier über alle spannte, denn wer nur ein Hühnchen mit einem zu rupfen hatte, wer neidisch oder eifersüchtig war, ließ Augen und Ohren umherwandern und schrieb sich alles auf für die Zeit nach dem Friedensschluß. Aber seit der Weingeschichte mußte Blaise Doulers das Maul halten. Denn nun brauchte die Dicke nur Monsieur zu sagen, wie der Alte auf ihn geschimpft, und jetzt würde er es auch wohl glauben, daß Gustave und Blaise seine Weine leerten. Damals am Dreikönigstage 1914, als der betrunkene Germallevoit seiner Dame die »Schnauze nach der einen Seite geschlagen« hatte, wie sie es der Herrschaft gemeldet und die Weingeschichte dazu, hatte Monsieur es ihr einfach nicht geglaubt, wenigstens den Wein, denn die »Schnauze« war doch zu offensichtlich. Gustave hatte ihr übrigens den Mund wieder gerade gerichtet mit einem zweiten Hieb.
In diesem Augenblick kam gerade Jeanne in die Küche. Jeanne, gnädig gegen die anderen Mädchen, während sie mit Henriette, der Köchin, aus Verpflegungsrücksichten besser stand. Sie verlangte Madames Schokolade. Die Dicke war empört, daß Madame wieder so spät aufgestanden sei, und Jeanne erzählte flüsternd den Grund:
Sie sei nachts fortgewesen und derart beschmutzt wiedergekommen, daß es nicht allein an den Schuhen geklebt habe, sondern an den Strümpfen sogar. Wo die sich wohl herumgetrieben habe? » C'en est du propre, hein?« Und noch dazu, wo Monsieur im Kriege sei, und … mit den boches! Die Köchin rollte, begierig lauschend, am Rand des Brettes, daß der Teig überquatschte, nahm ihn mit dem Finger an der Kante hin ab und schlug ihn auf das Nudelbrett zurück, etwa wie ein Maurer mit der Kelle den Mörtel in die Fugen wirft.
Die dicke Henriette wollte die Schokolade nicht machen, jetzt müsse sie ans Essen denken. Madame solle lieber zeitiger aufstehen. Als sie nun gar hörte, daß auch Mademoiselle Claires Schuhe beschmutzt gewesen, überließ sie es Jeanne, den Topf auf den Herd zu schieben. Überhaupt immer für zwei kochen! Monsieur hatte noch dazu für Kriegsdauer den Lohn herabgesetzt! Die Deutschen ihr dagegen noch einen Koch von der Division beigegeben. Und sie zahlten gut. Sie blieben auch nichts schuldig, wie man zuerst allgemein gefürchtet. Gestern abend hatten ihr auch noch ein paar Herren was in die Hand gedrückt, als sie mal den Kopf herausgesteckt, um die Abfahrt zu erleben. Der große Fliegeroberleutnant hatte Major Rennhöfer eigens gefragt, ob er nicht die Köchin sprechen könne, er wolle ihr: » graisser la patte.«
Inzwischen war die Schokolade fertig. Als Jeanne grade den Anrichteraum durchschritt, kam ihr Vizewachtmeister Fiedler entgegen. Er nahm sie beim Kopf und gab ihr einen Kuß. Was sollte sie dagegen tun? Sie hatte die Hände nicht frei. Als sie durch das Treppenhaus ging, stieg Exzellenz eben die Stufen herunter. Wie zu allen, sagte er auch zu ihr freundlich guten Tag. Draußen stand der Kraftwagen mit Klostermann am Steuer. Major Rennhöfer wartete schon, und die Offiziere fuhren zum Korpskommando. Jeanne setzte ihrer Herrin die Schokolade hin. Madame de Beaucourt saß in einem Schlafrock aus malvenfarbiger Seide am Tisch, die Ellbogen aufgestützt, so tief in Gedanken, daß sie das Kommen des Mädchens nicht bemerkte. Die Ärmel waren zurückgefallen und zeigten die schönen Arme, voller, als man sie nach der jungen Frau Schlankheit vermutet hätte: Ein Beweis, wie ebenmäßig Laetitia gebaut war. Das Mädchen huschte hinaus, und derart war Madame in Gedanken gewesen, daß sie ungeduldig, weil die Schokolade noch nicht käme, nach der Tür ging, um Jeanne zu rufen. Es war nämlich eines der Leiden dieses Krieges, daß die elektrischen Klingeln unbrauchbar schienen, schellten sie doch jetzt in Räumen, die von den Deutschen besetzt waren.
Madame de Beaucourt trat eben auf den Gang hinaus, als sie Major von Esserte am Zimmer des Generalleutnants sah. Er hatte Akten in der Hand. Sie fragte:
»Suchen Sie Ihren General?«
»Jawohl. Ich muß ihm etwas geben.«
»Seine Exzellenz ist fortgefahren eben. Ich abe es gesehen von meinen Fenster.«
Sie sah ihn an, von oben bis unten. Er fühlte es und sagte:
»Sie haben mir leid getan gestern abend.«
»Leid?«
»Ja, gnädige Frau, Sie haben recht, was wissen Menschen von einander. Sie sagten, ich wüßte nichts von Ihnen, nun, wissen Sie etwa, was ich denke? Keiner ahnt etwas vom andern. In Wirklichkeit sind wir uns so fern wie die beiden Gegner hier in diesem Land, zwischen denen Drahthindernisse ziehen. Aber ich glaube, daß nicht nur zwischen unseren Völkern eine tiefe Kluft liegt, nein, beinahe zwischen allen Menschen. Sie waren bitter gestern abend, vielleicht weil ich nicht antwortete, aber wie sollte ich antworten? Sie sagten einfach: Bon soir! und ließen mich stehen.«
»Ich abe nicht wollen sein ungezogen! Ich war nur unglücklich.«
»Und sind Sie es noch?«
»Ich bin es, glaube ich, immer gewesen.«
Sie hielt den runden Knopf ihrer Tür noch in der Hand. Da sie nun so halb auf dem Gang, halb in ihrem Zimmer standen, meinte sie:
»Aber nun werden Sie wieder sagen, daß ich nicht bin artig. Darf ich Sie bitten, zu kommen zu mir?«
Er zögerte. Sie warf einen schnellen Blick auf ihr Bett. Jeanne hatte es schon gemacht und zugedeckt, während sie nebenan gebadet. Nun ging sie voran mit einladender Gebärde und anmutigem Neigen. Er trat ein, die Akten in der Hand.
Auf ihrem Schreibtisch an dem einen Fenster, das zum Hofe ging, während das andere den Park zeigte, standen ein paar kleine Bronzen, einige Photographien in Rahmen, offenbar von ihr selbst mit alter Seide und Kirchenborte überzogen. Von der großgeblumten Wand hob sich der Betthimmel ab, mit einem Onyx-Kreuz, ein Bronze-Christus darauf, ein Rosenkranz darum geschlungen. Auf dem Nachttisch lag das Gebetbuch, ein kleiner roter, goldgepreßter Maroquinband. Im Winkel zwischen den Fenstern füllte die Hausecke ein Schränkchen mit allerlei Nichtsen, Porzellanen, Bronzen und Spielereien, wie sie der Neujahrstag gebracht. Auf dem Liegestuhl, der auseinandergeschoben Sessel und Schemel ergab, ruhte ein ganzes Nest von Kissen. Die Stickereien, die seidenen Überzüge, die vergoldeten Stühle zeigten den Stil des siebzehnten Ludwig, wie alles hier, so Bett als Schrank, und Tischchen, darauf allerlei weggelegt war: Ein gelber französischer Roman, das silberne Falzbein zwischen den Seiten, Döschen, so zierlich, daß sie nichts fassen konnten, Fläschchen und Gefäße von Gallé. Madame de Beaucourt ließ sich auf dem geteilten Liegestuhl nieder und stützte in lässiger und doch ein Bild gebender Haltung, angelernt, durch Beispiel gesichert, nun Natur geworden, den Kopf mit dem schönen Haar in die lange, schlanke Hand, daß der Ärmel zurückfiel. Sie machte eine Bewegung, Herr von Esserte möchte Platz nehmen. Langsam ließ er sich nieder vor dieser Frau, die vielleicht nichts Besonderes hatte und in weiberfüllten Friedenstagen ihm nicht aufgefallen wäre, aber hier ihren Liebreiz zeigte, ihre Weichheit bot, ein ungewohnt Gewordenes, ein leise Entbehrtes. Ihm war es etwas Neues zugleich, ihm, der den Franzosen abweisend gegenüberstand, nicht allein aus Gründen des Krieges. Von jeher war dem deutschen Offizier ihre ganze Art wesensfremd gewesen. Was er aus Paris gehört, schien ihm, dem Mann des Exerzierplatzes, der Arbeit, dem Glücklichen aus Südwest, immer oberflächlich, ja verderbt. Er nahm sie nicht ernst, diese französischen Männer: Klein, schlechtgekleidet, mit einem bei ihrer kurzen Gestalt doppelt lächerlichen Riesenvollbart, der sie männlich erscheinen lassen sollte. Diese Staatsmänner, die, statt ihre schwere Hand auf die Welt zu legen, an zierlichen Rokokotischchen posierten. Ihn, den Soldaten, hatte ein Kriegsminister im Sakkoanzug, den die Offiziere grüßten, empört. Drüben an der Wand, vor der Madame de Beaucourt in schöner Stellung halb lag, halb saß, blickten sie aus Lichtbildern in Rahmen, in Fächer gesteckt, regellos, dennoch geordnet.
Laetitia schien seine Gedanken zu erraten:
»Es sind meine Freunde!« sagte sie, und Herr von Esserte dachte: ›Freunde meines Mannes‹ hätte sie sagen sollen. Sie fuhr fort:
»Das ist nun alles beendet! Wer weiß, wie viele von ihnen noch leben!«
Als er all die Bilder erblickte, kam ihm unwillkürlich ein Gedanke:
»Darf ich mir eine Frage erlauben? Kann ich Ihren Herrn Gemahl nicht einmal sehen?«
»Ich abe kein Bild.«
Es klang ganz selbstverständlich; aber sie sagte, unten im » grand salon« hinge eines. Als sie es beschrieb, erinnerte er sich, gerade seinem Arbeitsplatz gegenüber, eines kleines Männchens, das Kinn, erhoben mit langem, eckigem, schwarzem Bart. »Wie Carnot« hatte Rennhöfer gesagt. Aus der Brusttasche hing lang das weiße Schnupftuch, im Knopfloch entdeckte man irgendein Bändchen; vielleicht die Ehrenlegion. Der Mann mußte wirklich klein sein, denn die Knöpfstiefel mit den hellen Gamaschen standen auf lächerlich hohem Absatz. Madame de Beaucourt sagte, als hätte sie seine Gedanken erraten:
»Mein Mann ist kleiner als ich.«
Und nun begann sie von ihrem Leben zu erzählen, in jenem leichten Plauderton der Franzosen, der unbekümmert von einem zum anderen springt, und gerade einem Manne schwerblütigen Ernstes vom Schlage des Herrn von Esserte ewig versagt blieb. Sie beschrieb ihre Wohnung in Paris und sprach von dem Verkehr, den sie dort gehabt; auch der Papa wäre öfters herübergekommen. Hier im Nord fahre man oft nach Paris, vor allem über Sonntag. Mit der Unbefangenheit der Französin erklärte sie warum: Um seine petite femme zu sehen. Übrigens sei man wohl auch in die Oper oder in die Comèdie gegangen. Man habe nicht einmal über Nacht zu bleiben brauchen, denn nach dem Theater hätte es einen Zug gegeben nach dem Département du Nord, nach Französisch-Flandern. Sie wären freilich nicht bis Lille gefahren, sondern schon in Douai ausgestiegen. Von dort hätte ihr Auto sie nach ihrem Schlosse gebracht.
»Eigentlich ein schreckliches Land. Wir atten auch nicht viel Verkehr. Aber immer Besuch. Meine Freunde aus Paris. Dann bin ich auch oft mit meine Schwager gewesen in die Bergwerk. Obgleich es ist ein wenig schmutzig für eine Frau.«
Dabei machte sie eine Bewegung, als wische sie sich den Kohlenstaub von ihrem schönen Arm. Plötzlich kam die Frage, die ständig wiederkehrte, gleich einer Zwangsvorstellung: Ob der Krieg noch ewig dauern würde? Dabei beklagte sie sich, daß sie nicht nach dem » château« könne, nach Beaucourt. Hier in Ralinghien sei ihr, als sie ihren Vater über Nacht besucht habe, von den Deutschen der Rückweg abgeschnitten worden. So habe sie nichts zum Anziehen! Ob es denn nicht möglich sei, einmal dorthin zu fahren, nur auf eine Stunde, auf eine halbe, auf eine viertel sogar, um ein paar Sachen zusammenzusuchen. Der Major meinte streng, er könne nichts dazu tun: In der Gegend von Lens sei ein anderes Korps. Sie legte die Hände lang gegeneinander wie gotische Beterinnen:
»Ich abe nicht einmal Wäsche. Nur diese Kleid und eine andere. Und in Beaucourt meine deutsche Bücher. Lassen Sie mich fahren nach Beaucourt!«
Er antwortete weich, denn ihr Flehen bedrückte ihn, wie bei den Deutschen alles nach Grundsatz ginge und heilsamer Vorschrift, und daß er nichts tun könne für sie. Als er sie niedergeschlagen sah, fragte er allerhand, ob die Vison de Beaucourt eine alte Familie aus dem Artois wären, da doch das Schloß ihren Namen trüge. Sie antwortete mit leichtem Spott, wie sie immer von ihrem Mann zu sprechen schien:
»Die Vison de Beaucourt sind Industrielle aus dem Nord. Eigentlich eiße ich Madame Vison. Aber das Schloß eiß Beaucourt und in die républic de la liberté, égalité et fraternité at man Adelstitel gern. Wenn man sie nicht at, man macht sie. Es ist wie mit die légion d'honneur. Jeder bourgeois muß aben ein Band. Je mehr es ähnlich sieht der légion, desto besser. Darum ist es, daß die Leute lieben rot am meisten!«
Er dachte an das Bild ihres Mannes über seinem Arbeitsplatz:
»Aber Ihr Herr Gemahl hat doch wirklich die Ehrenlegion?«
Sie lachte, als fiele jenes Bedürfnis der Menschen, sich und die Seinen als etwas Besonderes darzustellen, wie eine Maske ab:
»Mein Mann trägt vielleicht ein Band von ein cercle, wo sie écarté spielen, ich weiß nicht, aber die légion d'honneur? Ah, ah, er hat ja nie etwas gemacht. Obgleich wir viele aben, die auch nichts aben gemacht. Aber dann aben sie wenigstens Verwandte, ein Onkel, der député ist, ein Vetter in ein ministère. Aber sehen Sie, mein Mann at nur sein Bruder, und der würde nicht tun so etwas. Ah, Sie sollten meinen Schwager kennen. Vor dem kann man doch … estime … also ich meine Achtung aben. Ich achte keinen Mann, der nichts tut. Alle Franzosen sollten sein wie mein Schwager. Können Sie nicht einmal hin, ihn sehen?«
Sie legte wieder bittend die Hände zusammen:
»Nehmen Sie mich mit! Einmal. Ich möchte wiedersehen Beaucourt und meine Sachen!«
Aber es gab keine Möglichkeit dazu, denn eben dieses war ja das Erstaunliche des Krieges: Im Grunde kannte der Major ja nur den kleinen Abschnitt einer Division. Das grade peinigte sie: Hier liegen zu bleiben, die Wacht zu halten, statt vorwärtszugehen. Aber hatte sich nicht alles verändert? Galt noch der schöne, draufgängerische Mut von einst? Bestand nicht der Mut dieses Krieges im Ausharren in schwerer Lage, im Ruhigliegen, scheinbar untätig, und sich beschießen lassen?
Madame de Beaucourt fragte enttäuscht, ja ein wenig verletzt:
»Sie sprechen nicht?«
Er kehrte aus seiner Kriegsgedankenwelt zurück zur kleinen Wirklichkeit dieser Frau. Die Papiere in seiner Hand mahnten ihn an die Pflicht. Wohl hatte er nichts versäumt, aber ihm war es immer, als sei es nicht recht, Zeit zu verlieren bei diesen Franzosen. »Du sollst keine anderen Götter haben neben mir«, hieß es in der heiligen Schrift. Und nur eines gab es für ihn: Die Pflicht, den Krieg.
Er stand plötzlich auf. Als er gegangen war, blieb die junge Frau mit schlaffen Armen stehen. Sie dachte: Und er ist doch wie sie alle, die boches: Sie achten nicht die Frau. Da waren französische Offiziere anders. Bei denen konnte eine Dame erreichen, was sie wollte. Sie blickte empor zur Wand, wo die Lichtbilder hingen: Ein Dragoneroffizier, wie er auf dem Concours hippique ein Hindernis nahm, ein anderer, der mit keckem Lächeln dastand, den Reitstock in der Hand, den Kopf erhoben mit dem kleinen, schwarzen Bärtchen und den brennenden Kohlenaugen. Und ihr kam bei der Abweisung durch den Deutschen eine glühende Sehnsucht nach Frankreich. Und doch empfand sie Achtung, Bewunderung vor ihm. Ihr Gatte hätte nie in seinem Leben etwas geleistet. An solchem Manne konnte man sich nicht aufrichten. Wenn er wenigstens Abgeordneter gewesen wäre, daß man seine Reden hätte lesen, daß er Einfluß hätte gewinnen können auf sein Land. Aber er war eine Null mit einem schönen Barte, und manchmal begriff sie nicht, wie sie ihn nur hatte heiraten können. Ihr Vater, der sich an Reichtum mit seinen Nachbarn, obwohl er ihre » châteaux« verachtete, nicht messen konnte, mit denen er, der gute Katholik und Royalist, auch nicht zusammenpaßte, waren sie doch meist liberale Gottlose, hatte eines Tages zu seiner Tochter gesagt, Monsieur Alfred Vison de Beaucourt sei der passende Mann für sie. Und das dumme kleine Mädchen hatte es geglaubt. Was kannte sie denn von der französischen Welt, sie, eben aus einem deutschen Kloster entlassen, in das sie einer deutschen Schwester gefolgt war, die in Arras im Sacré coeur ihre einzige Freundin gewesen war. Nach Lille wurde sie selten, nach Paris nie mitgenommen; denn dort ging der Papa eigene Wege. Monsieur Vison de Beaucourt hatte einen Namen der klang, war reich, und das junge Paar würde sofort das schöne Schloß des verstorbenen Vaters beziehen und den Winter in Paris wohnen. Paris! Der Traum jedes kleinen Provinzmädchens. Und Alfred redete von Paris, daß man einen Mann anstaunen mußte, der all das kannte. Denn bewundern wollte sie immer, wie sie ihre Freundin bewundert und angebetet hatte. Nur der zukünftige Schwager gefiel ihr nicht, dieser kleine, schwarze Stier. Anders sah er aus, mit der spießbürgerlichen Frau und den lächerlich vielen Kindern. Dieser Mann, der nie zu haben war, weil er immer im Bergwerk saß. Wenn er aber je einmal aus seiner » fosse« herauskam, fuhr er nicht nach Paris zum Rennen, sondern in Geschäften nach England, Belgien, ja nach Deutschland sogar. Da nun auch Claire zu der Ehe riet, Claire, so alt, so grausig alt, daß sie ihre Mutter hätte sein können, wurde Laetitia eines Tages die Braut des Herrn Alfred Vison de Beaucourt. So also war Mademoiselle de Battaignies nach Lens gekommen, in das gräßliche schwarze Land, wo Beaucourt, das Schloß lag. Dort in dem tatenlosen Leben hatte bald ein einziger ihr doch Achtung abgenötigt: Ihr Schwager, Josèphe Vison; anders nannte er sich nie, denn er arbeitete. Arbeitete wie dieser deutsche Offizier, der mitten in der Unterhaltung mit einer reizenden Frau davonlief, nur um zu arbeiten. Vom ersten Tage ab hatte sie ihm ihre Aufmerksamkeit zugewendet. Es mochte zuerst wohl bei der Einsamkeit, in der sie leben mußten, Neugierde gewesen sein, daß sie ihm nachspürte und Jeanne ausfragte nach allem, was er tat. Das Mädchen verlachte im stillen die verliebte Frau, denn anders malte es sich in deren Geiste nicht, die selbst dem Vizewachtmeister den Mund bot, aber Jeanne trug ihrer Herrin mit scheinheiliger Miene alles zu, um freilich hinterdrein der dicken Köchin von schmutzigen Stiefeln und heimlichen Abenteuern zu erzählen.
Laetitia starrte zum Fenster hinaus in Bangen, Langeweile, Erbitterung und doch wieder Spannung und Seligkeit ihrer unbeschäftigten verletzten Frauenseele. Sie sah mit körperlichem Auge alles, was auf dem Hofe vorging. Zwei Offiziere im Helm traten ein, verweilten sich, verschwanden. Eine Ordonnanz ging mit einer Mappe davon. Ein Unteroffizier erschien mit ein paar Soldaten. Der Gärtner Blaise und der alte Knecht mußten eine große Leiter herbeischleppen, aber sie brachten das Ungetüm nicht hoch. Da schoben die Deutschen sie beiseite, junge derbe Fäuste griffen zu, die Leiter stieg. Bald arbeiteten sie am Giebel des Wirtschaftsgebäudes, darüber Drähte gelegt waren, während der Unteroffizier von unten Anweisungen gab. Am Küchenfenster sah man Henriettes Schnurrbart und Jeannes Kastanienhaar. Vizewachtmeister Fiedler unterhielt sich mit dem Unteroffizier und äugelte dabei mit den beiden. Dann kam der Küchenwagen, den Laetitia kannte, hatte er doch dem alten Vandamme in Ralinghien, dem Dorf, gehört. Fleisch wurde abgeladen. Die dicke Köchin kam mit dem Koch, der sich eine weiße Mütze gemacht hatte. Er drückte den Daumen ein und rief:
»Nicht aufgeblasen wie bei euch. Kein Schwindel bei uns. Nicht permi! Ach so, Alte, verstehst nich? Keene Pommes soufflées«.
Er machte eine Bewegung wie mit dem Blasebalge, den die Franzosen anwandten, um das Fleisch schöner und voller vorzugaukeln. Laetitia ärgerte sich. Sie sah es täglich, die Deutschen waren ihnen überlegen an Ehrlichkeit, Sauberkeit, Tüchtigkeit, aber sie sagten es auch selbst: Ihnen fehlte die schöne Geste. Es kam alles so grob heraus. Sie konnte darüber nicht hinweg, die doch durch ihre Erziehung solche Art gewohnt worden. Es ging ihr wie dem Major: Er liebte die Franzosen nicht, sie nicht die Deutschen. Nur ihn, diesen Mann, der ungezogen war gegen sie.
Sie ließ sich am Schreibtisch nieder, stützte die Arme auf und verbarg ihr Gesicht. Es war so zwecklos, so aussichtslos alles! Seele und Sinne schlugen diesem starren preußischen Offizier entgegen, dem Feinde ihres Vaterlandes, dem Gegner ihrer Rasse, dem Manne, ihr wesensfremd und doch, doch … Sie ließ den Kopf sinken, daß ihre Stirn auf die Tischplatte schlug, sprang plötzlich auf, lief ins Badezimmer hinüber, kühlte mit dem Schwamm das Gesicht und blieb wieder brütend sitzen. Wenn nun ihr Herr Gemahl wiederkehrte nach dem Kriege? Ihr kam der Gedanke ganz ruhig, ganz selbstverständlich: wo so viele Tausende, soviel Hunderttausende fielen: Wenn nun er nicht wiederkäme? Was verlor sie damit? Im ersten Jahre ihrer Ehe schon hatte sie ihn verloren. Sie hatte ihn mit der Jungfer erwischt. Er hatte in Roubaix ein Mädchen. Man sagte auch in Lille. In Paris bestimmt. Sie kannte ja die Person, war sie ihr doch immer auf der Straße begegnet. Man wohnte ja nur drei Häuser von einander. Sie hätte sich rächen können. Sie hatte es nicht getan. Seit drei Jahren nicht getan. Warum? Waren ihre »Freunde«, die da oben an der Wand hingen, anders? Hatten die nicht auch eine petite femme in Roubaix oder Tourcoing, in Lille oder Paris? Und da sollte sie eine Nummer sein unter all den vielen? Nein: Das alte stolze Normannenblut ihrer Familie regte sich, denn aus der Normandie stammte sie, genau wie die geborene Avoine. Ein Vetter ihres Vaters, der Graf Battaignies, saß noch dort auf seinem alten » manoir«, wie die normannischen Edelsitze hießen. Mancher ihrer Freundinnen ging es nicht anders, aber die rächten sich, wenn sie nicht grade wie ihre Schwägerin waren mit ihren zehn Kindern. Ja, wenn sie Kinder gehabt hätte! Sie dachte an die Worte ihres Schwagers, die Franzosen würden einst aus der Reihe der Großmächte gestrichen werden, einfach weil sie bei ihrer stillstehenden Volkszahl bald nicht mehr aufkommen könnten gegen die Deutschen. Wenn aber je eine Anfechtung der jungen Frau sich genaht, so hatte die Freundin geholfen, der sie alles schrieb bis zu diesem Kriege – bis, denn sie hier, elender als Gefangene, durften ja nicht einmal einen Brief abschicken. Das war ihre Welt: von diesem einen Zimmer in das andere laufen, Claires Klagen anhören oder wie der Papa schimpfte über den alten Blaise und die Dienstboten, die dem Feinde anhingen. Das war ihre Welt, ihre armselige Welt während dieses furchtbaren Krieges. Und immer peinigte sie die Angst: Der Divisionsstab möchte verlegt werden. Dann war sie ganz allein. Sie hatte Major Rennhöfer danach gefragt, den sie fünfmal traf, ehe sie dem Herrn von Esserte ein einziges mal begegnete. Der Adjutant hatte mit Augenaufschlag geantwortet, daß man nicht wußte, war es Scherz oder Ernst: »Wir bleiben in diesem Hof in Flandern bis an der Welt Ende. Amen.«
Endlich riß Madame de Beaucourt sich aus ihren trüben Gedanken und begann sich anzuziehen. Wie sie den Morgenrock ablegte, enthüllte sich eine schlanke, anmutige, ungewöhnlich ebenmäßige Gestalt. Sie setzte sich an den Frisiertisch, wo in Fächern verteilt all jene Dinge lagen, die sich allmählich gehäuft, weil ein Coiffeur sie aufgeschwatzt, eine Manikure sie für unentbehrlich erklärt, eine Freundin sie empfohlen, Langeweile sie angeschafft hatte: Dosen, Schachteln, Flaschen, Fläschchen. Und sie nahm Watte und Pinsel und übte das, was sie in ihrem Lande von Jugend auf gesehen, was schon die Mutter getan, die Mädchen und Frauen einander gelehrt, ein unausrottbares Gift: durch Einreibung und Anstrich zu verderben, was die Natur ihr frisch und schön verliehen. Sie arbeitete vorsichtig: Wimper um Wimper, Haar um Haar, Pore um Pore. Dann stand sie vor dem dreigeteilten großen Spiegel, prüfte mit dem silbernen Handspiegel ihr Werk und ging angekleidet hinüber an den Schreibtisch. Ihre Blicke fielen auf das Chrysanthemum, das sie in der Nacht, wie im Scherz, dem Major entrissen. Ob er es wohl hatte liegen sehen? Nein, der Rahmen von Beaucourt, dem Schloß, deckte es zu. Bei dem Gedanken überkam sie solche Unruhe, daß sie auf den Gang trat und nun wieder jenes nur scheinbar zweckvolle Umherirren begann, das sie seit langem übte. Durch den Park eilend kam sie so, wie von ungefähr, an den Fenstern vorüber, hinter denen die Herren arbeiteten, und eilte die altbekannten Wege hin. Aber niemand war zu sehen. Da stand sie lange draußen am Parkrand, wo vorn über dem kahlen Feld, keinen Kilometer entfernt, Ralinghien, das Dorf, lag, das der Zerstörung durch täglich streuende Granaten langsam anheimfiel.
Man konnte weit hinausblicken ins Land, das sie kannte von Jugend auf: Die Baumgruppe dort drüben am Ende der Allee, wo die kleine Kapelle stand. Die Höhe links davon, auf der einst die Windmühlenflügel sich immer gedreht. Heute lag nur noch ein großer Trümmerhaufen dort, Steine und die Flügel, ausgebreitet wie ein riesiges Insekt. Rechts, ganz weit rechts, ahnte man den Teich, an dem das Schloß Opendaele sich einst stolz erhoben. Schon in Belgien drüben. Alles hatte es besessen: einen Park, zehnmal so groß wie der von Ralinghien, Wirtschaftsgebäude, deren Einrichtung zu besichtigen einst Landwirte weit her gekommen waren, und ein Reithaus. Sein Dach stand in besseren Zeiten langgestreckt gegen den Himmel, wie eine Halle für jene Zeppeline, die England bedrohten, Bomben abwarfen in Paris, jene erschreckende Erfindung der Deutschen, die Madame de Beaucourt meinte täglich über den Himmel rauschen zu sehen. Heute zeigte das Schloß wildgezackte Ruinen. Durch das Sparrenwerk der Wirtschaftsgebäude schaute Flanderns graue, wassergeschwängerte Luft. Die junge Frau wäre nur erstaunt gewesen, hätte es unbeschädigt wieder dagestanden.
Wie sie nun abwesend hinausblickte in das weite Land, klang ein Krachen, und aus Ralinghien stieg eine dunkle Rauchsäule auf. Sie dachte mit jener Ruhe, ja Stumpfheit fast, die ihnen allen der Krieg gebracht: ›Nun schießen sie wieder mal ins Dorf!‹ Abends schmetterte ein Donner, und eine Staubsäule aus einem Ziegelbau blähte ihre rote Fahne in die Luft. Sie meinte: ›Diesmal war's ein Haus!‹ Und während es draußen immer weiter krachte und qualmte, sagte sie sich zur eigenen Beruhigung: ›Es hört ja doch bald wieder auf!‹ Aber leise lebte der Gedanke in ihrer geängstigten Frauenseele: ›Gott sei Dank, wenn's da drüben ist, dann ist's wenigstens nicht hier.‹ Es wurde wirklich still in Ralinghien, dem Dorf. Sie hatte es ja gewußt. Nun krachte es drüben in Opendaele. Aber es spritzte nur hoch auf. Sie hatten wieder einmal den Teich getroffen. Nun gab es, so natürlich war das schon, morgen Fische. Denn das kostete immer ein paar hundert Karpfen das Leben. Sie sah dann jedesmal den Wagen des alten Vandamme kommen.
Da die Essenszeit nahte – sie speisten nach den Deutschen – kehrte Madame de Beaucourt in den Hof zurück. Auf der Treppe begegnete sie ihm, den sie hundertmal heimlich hier erwartet und der doch immer zu einer anderen Zeit sein Zimmer aufsuchte: Herrn von Esserte. Um einen Gegenstand des Gespräches zu haben, legte sie beide Hände an die Wangen, als wollte sie sich die Ohren zuhalten:
»Sie schießen eute wieder so fürchterlich!«
Er antwortete ruhig:
»Es wird nicht mehr lange dauern, denn es ist längst Zeit zum Lunch.«
Sie fragte:
»Glauben Sie, daß es einmal kommt ierer?«
Er lächelte:
»Das kann man nie wissen! Ebensowenig wie das, was Sie immer fragen: Ob der Krieg nicht bald zu Ende geht.«
»Für mich kann es so bleiben.«
Er lachte:
»Seit wann denn?«
Doch sie eilte den Gang hinab:
»Ich werde zu spät sein zum Essen.«
Er blickte ihr erstaunt nach, bis sie in ihrem Zimmer verschwunden war. In diesem Augenblick kam Major Rennhöfer die Treppe herauf. Wie immer nach Tisch wollte er sich eine halbe Stunde niederlegen. Er gähnte und streckte die Arme rechts und links, als ob er Freiübungen mache:
»War das nicht eben Madame de Beaucourt? Es ist doch großartig, wie die französischen Weiber es verstehen, sich herauszubringen. Sie sieht immer besonders aus, und hat doch immer das gleiche Kleid an. Die Arme besitzt ja nichts anderes, wie sie mir erzählt hat.«
Herr von Esserte dachte: Sie hat es ihm auch erzählt? Als nun Rennhöfer von ihr zu schwärmen begann, meinte der Major, der immer das gleiche unbewegte Gesicht behielt hinter den Kneifergläsern:
»Wenn sie sich nur nicht so anstreichen wollte!«
Rennhöfer lachte, während sie zu ihren Zimmern gingen:
»Das können sie nun mal nicht lassen. Nationallaster wie Absinth, Nationalfest, Revanche, Unordnung, Schweinerei …«
Mehr konnte Laetitia an ihrem offenen Türspalt nicht hören. Sie trat ans Fenster und während ihre Finger vor Wut wie auf einem unsichtbaren Klavier spielten, blickte sie mit zuckenden Lippen hinaus. Dann rannte sie ins Toilettenzimmer hinüber und begann wütend das Werk von Watte und Pinsel abzuwaschen; nur die Brauen ließ sie stehen, denn die waren ein wenig dünn. Aber dann liefen ihr die Tränen über die Wangen und sie biß sich die Gelenke in Nervenzusammenbruch, Herzeleid und Öde dieser furchtbaren, ewig gleichen Kriegslage.