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Baron de Battaignies hatte öfters darum gebeten, einmal nach Ralinghien, dem Dorf, gehen zu dürfen. Er wendete sich dabei an den Divisionsadjutanten, denn der Generalstabsoffizier galt unter den Franzosen auf dem Hof allgemein als jener, der ihnen am meisten abgeneigt sei. Sie fanden ihn eben ganz deutsch, deutsch, deutsch! Madame de Beaucourt schwieg dazu, aber während sie gegen die anderen Herren sich liebenswürdig zeigte, antwortete sie einmal dem Major von Esserte, ihr nun ungeschminktes Gesicht von ihm abwendend, so kurz, daß der papa ihr Vorwürfe machte. Sogar Claire sagte, als sie unten aßen, in dem einzigen Raum, der ihnen noch geblieben war:
»Laetitia, jene, die das Herz auf der Zunge tragen, sind nicht immer die besten. Du solltest artiger mit ihm sein. Er ist doch die Hauptperson hier. Du weißt, wie der General von ihm spricht!«
Dann sagte sie etwas von »schönen Worten«, Falschheit und Niederträchtigkeit der Männer, und daraus klang nicht nur das Unglück des Krieges, sondern irgendeine Erfahrung ihres Lebens. Und Laetitia versprach, scheinbar widerwillig, sie würde versuchen, gegen Herrn von Esserte artig zu sein.
Aber nicht allein bei der Herrschaft begegnete der Major einer gewissen Abneigung. Er scherzte nicht mit den Mädchen und hatte der dicken Köchin noch nie ein anerkennendes Wort über ihr Essen gesagt. Dagegen fragte er Nicolette, die sich einmal nach Ralinghien, dem Dorf, hatte hinüberstehlen wollen, nach dem Ausweis und schickte sie kurzerhand zurück. Dabei wollte sie doch nicht zu Spioniererei oder Verrat sich hinüberpirschen, sondern weil ihr der Gefreite Immenstadt, der dort beim Regimentsstabe irgend etwas war, nahegelegt hatte, ihn einmal zu besuchen.
Als nun immer wieder in das Dorf hineingeschossen ward, kam der alte Patriot von neuem und erklärte, er müsse drüben nach Liegenschaften sehen, die er dort besäße. Doch der Adjutant meinte, ob da nun ein paar Granatlöcher mehr oder weniger drin wären, könne ihm ja gleichgültig sein. Im Gegenteil. Der alte Boden würde mal tüchtig gewendet. Da kam der Franzose damit, er hätte dort eine zweite » ferme«. Von der hatte er noch nie gesprochen. Rennhöfer ließ also durch Vizewachtmeister Fiedler nachforschen, ob die Dienstboten etwas davon wüßten. Und es zeigte sich, daß Baron de Battaignies noch außerdem zwei Pachthöfe besaß. Es blieb eben immer ein letztes bei den Franzosen verborgen. Offenbar wollte der alte Patriot seine Wohlhabenheit nicht zu sehr zeigen. Klang doch ewig Claires Klage, sie seien aller Mittel entblößt.
Der Major trug die Sache Exzellenz vor. Der meinte, es könne nur von Vorteil sein, wenn der alte Herr sähe, wie die Zerstörung, der das unglückliche Land durch die Engländer anheimfiel, ständig Fortschritte mache. Und daß dort die Brigade Flurschütz und am vorgeschobensten Punkt des Dorfes der Regimentsstab 1388, des Schwesterregiments der 1387er drüben in Opendaele, lag, das wußte der alte Patriot ganz bestimmt. So schärfte der Generalleutnant seinem Adjutanten nur ein, er solle eine Zeit wählen, wo das Dorf Ralinghien nicht gerade unter Feuer läge. Der Major wollte am nächsten Tage selber Baron de Battaignies begleiten. Die Damen baten, mitgehen zu dürfen. Claire behauptete, sie müßte Verbandzeug hinbringen, doch Major Rennhöfer antwortete lächelnd, die Deutschen besäßen soviel Verbandzeug, daß sie bisweilen in Verlegenheit gerieten, was damit anfangen. Nun erklärte sie, dringend mit der fermière Eudoxie Leblanc sprechen zu müssen, aber ein Anruf bei Hauptmann Hasenclever ergab, daß besagte Eudoxie Leblanc gestern nach Bobines abgeschoben worden sei, denn ihr Haus war vollkommen zerschossen. Eine Fahrt aber nach Lille, wo Claire Besorgungen machen zu müssen vorgab, wurde kurzerhand abgelehnt.
Da nun am nächsten Morgen im Ferngespräch mit den vorderen Linien festgestellt worden, daß bei den »Seeräubern« da drüben keine Schießlust herrschte, so schickte der Major Vizewachtmeister Fiedler zu Baron de Battaignies, er würde ihn in fünfzehn Minuten erwarten. Der Tag schien günstig, da über das flandrische Land wieder einmal ein nässender Schleier niedergesunken war, bei dem die Artillerietätigkeit zu ruhen pflegte. Als der Divisionsadjutant eben den Krückstock zur Hand genommen hatte, den er bei solchem Besuch der Ortschaften und Stellungen mitzunehmen pflegte, klingelte es. Die Division besaß allerlei: ein Stanzwerk, einen Steinbruch, eine elektrisch betriebene Schmiede, eine Gießerei, ein großes Leinenlager zu Sandsäcken gut, einen Zimmerplatz, eine Dachpappenfabrik, ein Schotterwerk, eine Brennerei, ein paar Kalköfen, lauter Betriebe, von denen im Tauschwege etwas abgestoßen werden konnte. Nun verbiß sich aber eine andere Stelle darauf, eine Säge zu beanspruchen, die Major Rennhöfers ganzer Stolz war und die auch unentbehrlich schien, um Bretter zur Fütterung der Gräben zu liefern. Da nun der schon lange glimmende Kampf um das Sägewerk plötzlich zu hellen Flammen aufschlug, galt es die Sache sofort zu ordnen. So bat der Divisionsadjutant den Oberleutnant von Gereck, an seiner Statt mit Baron de Battaignies zu gehen.
Major Rennhöfer aber bestellte den Kraftwagen, um nach Bobines zu fahren. Augenblicksstimmungen zugänglich, jäh von Entschlüssen, tat es ihm leid, daß er den Besuch in Lille abgeschlagen hatte. Gefahr war nicht dabei. Exzellenz hatte sich schon einverstanden erklärt. So klopfte er bei Claire. Sie spielte mit ihrer Schwester Domino. Er bot Laetitia an, Claire zu begleiten. Madame de Beaucourt war sofort dabei. Wie ein Kind sprang sie umher:.
» Dieu merci, mal was anderes!«
Claire aber konnte sich so schnell nicht entschließen; man hätte es gern früher gewußt, man mußte sich doch auch den Anzug überlegen. Der Major ärgerte sich, daß sein Entgegenkommen gleichsam als Gnade hingenommen wurde und auch das nur gewissermaßen unter Bedingungen. So sprang er von schwungvollen Redensarten über zu kurzer Entschlossenheit und zog die Uhr:
»Der Wagen kommt in fünf Minuten. Wenn die Damen da sind, gut. Sonst fahre ich unerbittlich ab!«
Sie waren da. Eine halbe Minute vorher, und mußten sogar – ihnen ein gelinder Triumph – auch noch zwei Minuten warten, denn es galt in der Eile die Ausweise auszustellen. Bei der Abfahrt erschienen allerlei Köpfe an den Fenstern, um das große Ereignis zu erleben, bei dem es nicht ohne Eifersucht abging: Ja natürlich, Madame durfte fortfahren und Jeanne hatte doch eine Freundin in Saint-André, Nicolette irgend eine dunkle Bekanntschaft in Wambrechies, Henriette Germallevoit aber ihre leibhaftige Schwägerin in Lambersart.
Major Rennhöfer setzte bei Bobines, an der Haltestelle der elektrischen Bahn, die Damen ab. Er scherzte:
»Wenn man Sie mit einem deutschen Offizier sieht, werden Sie am Ende als verdächtig ausgeschrieben, und wenn der Friede wieder über diesen regenreichen Fluren lacht, im Namen der Gerechtigkeit und Zivilisation erschossen. Aber nun wollen wir mal ernst reden: Ich bitte Sie – gestatten Sie, daß wir die Uhren regeln – heute nachmittag punkt fünf Uhr nach deutscher, also punkt vier Uhr nach französischer Zeit, hier zu sein. Aber punkt. Bei uns klappt's. Wir sind Soldaten. Wir sind – Boches!«
Mit diesem Worte, das nur er sagen durfte, ohne sich etwas zu vergeben, klang es doch in seinem Munde fast schlimm für jenes Volk, das den Gegner beschimpfte, statt ihn zu besiegen, war er lachend davon.
Er fuhr zum Sägewerk, um das er jetzt zu kämpfen hatte als Großindustrieller, wie er sich stolz nannte, der über Werte und Betriebe im Namen der Armee gebot, wie er, der wenig begüterte Artillerieoffizier, sie bis dahin nie in der Hand gehabt hatte. Denn dieses war einer der Gründe, weshalb er einst den Kunstgelehrten mit dem Soldaten vertauscht: Ihm hatten die Mittel gefehlt, jene Reisen ins Ausland zu unternehmen, die zum Studium der Kunst unentbehrlich schienen. Und er, der hier für den Staat sparte, alles mit eigener Arbeit herzustellen versuchte, jedes Drahtstück auflas, war, – vielleicht weil ihm die Welt immer voll Wunder und Rätsel schien – für sich nicht eben ein großer Rechner.
Im Vorbeifahren ließ er am Pionierpark, den die Division eingerichtet hatte, halten. Den überschlanken jungen Leutnant, der sich meldete, faßte der Major unter den Arm und ging, mit ihm allerlei Notwendiges in seiner liebenswürdigen Art eilig besprechend, auf und ab. Hier im Kriege gab es keinen Druck, keinen Kommiß, grade hier, wo niemand hinter einem saß, trieb nur eines: Die Pflicht, mit dem dumpfen, anspornenden Gedanken: Wenn unsere Sache geht, geht es dir selber gut. Alles arbeitete. Da flochten welche in endlose Drähte mit selbstgebauten Maschinen jene scharfen Stacheln ein, die dem Gegner jedes Anfassen draußen am Hindernisse verwehrten. Dort wurden spanische Reiter gezimmert, hundert Hände luden sie auf Wagen. In einem Bauernhaus, von flachsblonden flämischen Kindern umspielt, saßen Feldgraue, Handgranaten füllend. Behelfsmäßige Minenwerfer wurden gebaut. In der Scheune lagen ganze Stöße von Stahlschilden gestapelt, Öfen für die Gräben, Wasserpumpen, Fußangeln, die Spitzen grausam derart aufgebogen, daß, wie man sie auch warf, immer eine nach oben schaute, den Fuß bedrohend, der dort schritt.
Der Major scherzte mit den Leuten und ihm folgten lachende Augen. Einem blickte er ins Gesicht, der ganz besonders die Knochen zusammenriß:
»Wir kennen uns doch? Was? Richtig, Tümpelmann. Oller Schwede, was machen Sie denn hier? Sie sind's doch, der selige Tümpelmann von meiner Batterie?«
»Zu Befehl, Herr Hauptmann, ick bin's!«
Strahlend sah er seinen einstigen Batteriechef an. Da er nun aber nicht die gelben Knöpfe des Artilleristen trug, sondern weiße wie ein Pionier, fragte Major Rennhöfer:
»Wie kommen Sie denn zu den Knöppen?«
»Et jab keene anern, Herr Hauptmann. Den Rock hab ick mir selber jemacht. Ick bin ja Schneider von Profession.«
»Tümpelmann, sagen Sie ruhig Beruf.«
»Beruf, Herr Hauptmann.«
»Und dann können Sie ruhig Major sagen.«
Erst jetzt sah er die geflochtenen Achselstücke seines einstigen Hauptmanns:
»Zu Befehl, Herr Major!«
»Na, es freut mich doch, daß wir uns wieder gesehen haben, Kanonier Tümpelmann mit den Pionierknöppen.«
»Gefreiter, Herr Major!«
»Verflucht nochmal. Das hätte ich ja beinahe übersehen. Da sind ja die Gefreitenknöppe, aber die nu wieder gelb?«
Er wandte sich zum jungen Pionieroffizier und zuckte lächelnd die Achseln:
» C'est la guerre!«
Aber die Sprachsünde fiel ihm ein:
»Deutsch: »Das ist eben der Krieg!« Ich sagte Ihnen doch, Tümpelmann, wir wollen deutsch reden.«
»Zu Befehl, Herr Major.«
Während der Divisionsadjutant wieder in den Kraftwagen stieg, erklärte der einstige Kanonier seinen Nachbarn, der Herr Major wäre einst sein Batteriechef gewesen. Man vernahm deutlich:
»Und Nachtzeichen jab's bei der dritten Batterie, jawoll jleich 'n janzen Munitionskorb voll!«
Der Major wandte sich um:
»Aber wer seine Sache nicht machte, dem habe ich auch die Hammelbeene grade gereckt, was?«
Er faßte den einstigen Kanonier genauer ins Auge:
»Tümpelmann, Sie haben ja 'n Bart bekommen!«
Der strich unwillkürlich mit der Rechten den Schnurrbart, daß man den goldenen Trauring sah.
»Und verheiratet sind Sie ooch?«
»Zu Befehl, Herr Major. Die Mieze Eckert!«
»Mit der ›gingen‹ Sie ja damals schon. Haben Sie denn Kinder?«
Der Gefreite Tümpelmann strahlte wieder:
»Soll eens unterwegs sein.«
»Großartig! Darf aber nur 'n Junge sein. Wir brauchen Soldaten. Wenn Sie schreiben, grüßen Sie Ihre Frau. Schreiben Sie nur ooch, daß sie 's zu Hause wissen: Trübsal wird hier nicht geblasen!«
Der Gefreite Tümpelmann trat einen Schritt vor und schmiß die Absätze zusammen:
»Mir halten durch, Herr Major.«
Der Pionierleutnant hatte unruhig nach dem Himmel geblickt und gelauscht nach allen Seiten. Auch ein paar andere erhoben den Kopf. Einer rief: »Flieger!« Der junge Offizier befahl über den Platz:
»Alles decken, Flieger!«
In der offenen Scheune standen eine Reihe von Nähmaschinen, daran Leute Sandsäcke nähten. Dorthin fuhr der Kraftwagen. Alles was gehobelt, gedreht, gebunden, getragen, war jäh verschwunden. Unter einem Holzstapel lagen sie. Ins Haus waren sie gerannt. Der ganze Arbeitsplatz war verödet. In der unsichtigen Luft hörte man immer deutlicher das Surren eines Propellers. Die Offiziere hatten ihre Zeißgläser genommen und suchten den Himmel ab. »Engländer«, sagte Major Rennhöfer. Er zog landeinwärts, noch unbeschossen. Vielleicht war er aus sehr großen Höhen gekommen, vielleicht hatten ihn Wolken verdeckt. Da krachte irgendwo eine Abwehrkanone. Bald antwortete der Donner des krepierenden Schrapnells. Der Flieger zog unbeirrt weiter. Eine Weile folgten ihm die weißen Wölkchen, dann war er verschwunden.
Die Begegnung mit dem Gefreiten Tümpelmann weckte auf der Weiterfahrt dem Major die Erinnerung an jene glückliche und wieder unselige Zeit, als er eine Batterie geführt; war doch eben jene Mieze Eckert einst Stubenmädchen bei Gutsnachbarn seiner kleinen Garnison gewesen, deren Tochter Erich Rennhöfer lieb, sehr lieb gehabt. Eine schwermütige Geschichte! Heute hatte der Krieg, der Bringer aber Ebner auch von Menschenleid, der gewaltige Glätter aller Menschenschwächen, das längst verlöscht. Die kleine Gräfin stand wieder vor ihm, nun der Name Mieze Eckert gefallen war, jenes Mädchen, das einst dem Herrn Hauptmann immer mitgeteilt, wo er die Geliebte fände. Nicht mit der Mutter Willen, denn die hatte tausend Gründe gegen den Herrn Hauptmann Rennhöfer: Er war nicht recht gesund, war bürgerlich, sein Vater Katheder-Sozialist. Professor Rennhöfer, der Mann, allein mit unwissenschaftlichem Mitgefühl, das er in wissenschaftliche Form gebracht! Und dann war der Herr Hauptmann Rennhöfer arm. Da hatte eines Tages die kleine Gräfin, als sie sich mit Hilfe eben jener Mieze Eckert zum letztenmal mit dem Hauptmann getroffen, ihm erklärt, sie könne nicht an gegen den Willen ihrer Eltern. Und die beiden Menschenkinder, die einen Augenblick gedacht, die ganze Welt sei allein geschaffen für sie beide, hatten sich getrennt. Eine glückliche Geschichte! Denn wo wäre das Glück geblieben bei diesem Kampf zwischen Standesdünkel und Träumen über den Wolken? – Da hatte jener Prinz den Hauptmann Rennhöfer als Adjutanten sich erbeten. Ihm ging des Offiziers Schicksal, von dem er gehört, ans Herz. An jenes, das er einem einfachen Mädchen geschenkt. Eine selige Geschichte! Als dann die, für die Hauptmann Rennhöfer bereit gewesen wäre, des Königs Rock auszuziehen, um irgend etwas zu beginnen in einem fremden Lande, einen Gardekavalleristen geheiratet hatte, führte der kleine Prinz ganz still sein unmögliches Mägdlein heim. Eine erstaunliche Geschichte! Aber Fürst und Adjutant waren beide glückliche Leute geworden. Der eine, daß er abgetan, was dem heimlichen Bürger wie ein fremdes Gewand angehangen: Großkreuz und Krönlein – der andere, daß er nicht jene an sich gekettet, die es kaum ertragen hätte, Frau Rennhöfer zu heißen. Zwei vernünftige Geschichten! Und nun war jener Gardekavallerist – übrigens ein einfacher, prächtiger Mensch – als eines der ersten Opfer des großen Krieges in Lothringen gefallen. Abermals eine schwermütige Geschichte! Nun war die einstige kleine Gräfin wieder frei. Vielleicht hätte gar jetzt eines Tages Major Rennhöfer wiederkommen dürfen, er, der doch den Franzosen so stolz gesagt hatte, es mache keinen Unterschied im deutschen Heere, daß der Generalleutnant bürgerlich sei. Es machte keinen. In diesem Heere galt nur eines: Tüchtig sein für sein Vaterland. Dazu stand er hier draußen, dazu fuhr er, jetzt nicht mehr der arme Artilleriehauptmann, nein einer der Großindustriellen der Front, zu »seinem« Sägewerke. Und hier war er wieder bei der Wirklichkeit, als die Sägen durch die Stämme knirschten, um Bretter zu schneiden für die Unterstände, Balken für Decken, für Schrapnellbrücken. Es war ja auch nur ein Husch von Gedanken gewesen während kurzer Fahrt, die er dem Vaterlande nicht stahl. Erinnerungen, so nebenbei vom Kanonier – nein Gefreiten – Tümpelmann geweckt. – – – –
Als die Schwestern Battaignies den Kraftwagen hatten verschwinden sehen, schwärmten sie unter dem Eindruck der Vergünstigung, die ihnen zuteil wurde, von Major Rennhöfer. Claire verstieg sich sogar zu der Behauptung, er habe eigentlich etwas Französisches. Die gute Beherrschung der Sprache, der dunkle Schnurrbart, alles deutete etwa auf »Emigranten« oder »Réfugiés«. Madame de Beaucourt erklärte zwar den Namen für ganz deutsch, doch ihre Schwester blieb dabei, obwohl sie »Rennhöfer« gar nicht aussprechen konnte.
Da näherte sich, von Bobines her, die Elektrische, rauschte, rasselte, wuchs, und Claire winkte ängstlich mit dem Muff, aus dem eine zusammengefaltete netzartige Markttasche sah. Der Wagen hielt. Ein riesiger Landstürmer mit gewaltigem grauen Schnurrbart streckte Madame Vison de Beaucourt helfend die Hand entgegen. In der Elektrischen saß allerlei Volk: Einfache Frauen im bloßen Kopf, mit tief im Nacken geknotetem schwarzem oder blondem wirren Haar, nicht allein die Arbeitshände schmutzig, nein auch die modischen Blusen. Ein paar Mädchen, kleine runde, umgestülpte Topfhüte auf dem Kopf, einen Schleier vorgebunden, darunter das Gesicht voll lila Mehlhauch, hatten die Beine übergeschlagen, wippten mit den Lackschuhen und winkten, als eine Elektrische von der Stadt her vorbeihuschte, jemandem zu. In einer Ecke las ein glattwangiger Priester, wohlbeleibt, mit Schnallenschuhen und großem Hut, im Brevier, das er in dicken kurzen Fingern hielt. Zwei Herren, einen Schnurrbart mit Fliege trug der eine, der andere einen eckig geschnittenen »Fußsack«, führten eifrig, die Hände bewegend, ein Trauerspiel auf, mit Augenbrauen in die Höhziehen, Blick gen Himmel, Achselzucken, Kopfschütteln, mutlos die Hände sinken lassen. Dabei schielten sie immerfort zu einem Offizierstellvertreter, als wollten sie prüfen, ob er etwa verstünde. Ein Unteroffizier las den »Matin«. Seine feinen, klugen Züge blieben unbewegt bei all den Lügen, den Schimpfreden, daraus ohnmächtige Wut klang. Claire aber, neben ihm, verrenkte sich die Augen, um mitlesen zu können, und rutschte näher und näher heran. Seit Monaten das erste französische Blatt. Es war ihr, als müsse sie das Papier streicheln. Sie dachte, wenn er doch jetzt ausstiege und es liegen ließe. Richtig, er erhob sich, aber sorgsam faltete er das Blatt zusammen und versenkte es in der Tasche. Da huschte Claire auf den Sitz ihrer Schwester gegenüber, und während der Wagen immer sausend weiterglitt, flüsterte sie ihre Augenbeute Laetitia zu:
»Es geht den Boches schlecht. In Rußland sind sie überall geschlagen worden!«
Sie legte die Hände zusammen:
»Und warum nicht bei uns? Ah, wenn sie doch fort wären, wenn sie doch fort wären!«
Sie wollte von Laetitia eine Bestätigung haben. Doch die wich aus. Sie mußte auch schweigen, denn eben nahm ein Ulanenstabsoffizier ihnen gegenüber Platz. Die Damen blickten nicht hin und sahen doch alles. Der hagerer Reitersmann griff in die Tasche seines offenen Mantels. Auch er holte Zeitungen heraus. Aber deutsche. Nichts Neues für die Schwestern, durfte doch Laetitia in Ralinghien immer die deutschen Zeitungen lesen.
Der Schaffner kam, breitbeinig wie ein Matrose bei bewegter See, durch den Mittelgang des Wagens geschwankt, aber an dem Offizier vorüber: Die Deutschen fuhren frei. Der dicke, blonde Kerl, unrasiert, kragenlos, mit schmutziggrauem Halstuch, die Mütze im Nacken, blieb bei einem Mädchen stehen. Sie hatte die Finger voll billiger Ringe und an der seidenen Bluse fehlte ein Knopf, so daß man bei jedem Atemzuge den unsauberen Busen sah.
Als ein Hauptmann einstieg, machte der Schaffner kaum Platz. Der eben Gekommene, dem Stabsoffizier bekannt, sagte, während er sich setzte:
»Daß der Lümmel sich rührte!«
»Treten Sie ihm doch auf die Hühneroogen.«
Der Hauptmann mit zartem, durchsichtigem Gesicht, aber luftgebräunt unter dem Reservekreuz der Mütze, lächelte mitleidig:
»Herr Oberstleutnant, er weiß es wahrscheinlich nicht anders. Das ganze Volk ist ja unerzogen.«
Dann gab er dem Stabsoffizier allerlei zum Besten, welche Unordnung, ja Schweinerei er in allen Quartieren vorgefunden habe. Er sprach über minderwertige Einrichtungen der Franzosen, die Rückständigkeit dieser sogenannten Träger der Zivilisation, fehlende Wasserspülung bei ihren Abtritten, Mangel des Badezimmers auch in guten Häusern, schlechte Bauausführung, plemprige Beschläge, und Schmutz, Schmutz, Schmutz. Der Oberstleutnant streifte sorgfältig den ausgezogenen Handschuh wieder über die Hand:
»Wir sind im Kriege!«
Der andere schüttelte den Kopf:
»Herr Oberstleutnant, im Frieden ist's genau so. Ich war durch meinen Beruf jahrelang in Frankreich. Die Franzosen sind in Hygiene, Volkswohlfahrt, Arbeiterschutz, in der Industrie, in ihren Maschinen, Einrichtungen, kurz in fast allem um Jahrzehnte hinter uns zurück. Sie waschen sich nicht, putzen sich nicht die Nägel. Es ist ein Volk, bei dem man den Einzelnen lieben könnte, aber als Nation sind sie minderwertig. Sie lernen auch nichts Neues mehr. Sie sind verbraucht. Und diese Einbildung dabei! Die an der Spitze der Zivilisation marschieren? Lachhaft! Dinge, die vorwärtsstrebende Völker seit Jahren überwunden haben, gelten bei ihnen noch unumschränkt. Dies Volk war einmal. Es hat keine Zukunft mehr. Nach ewigen Gesetzen der Menschheitsentwicklung gehört es nicht mehr in die erste Reihe. Es ist müde, erledigt. Es wird nach dem Kriege eine Macht zweiten Ranges, die es kulturell schon vor dem Kriege war.«
Laetitia sah scheinbar gleichgültig zum Fenster hinaus. Wenn sie auch nicht jedes Wort verstand, denn der Offizier sprach halblaut, so ahnte sie doch den Sinn. Und ein dumpfer Ärger stieg in ihr empor, daß sie im Muff nervös die Finger bewegte.
Der Schaffner schien sich um seine Fahrgäste nicht mehr zu kümmern, sondern schwatzte noch immer mit dem Mädchen. Es riß die Augen auf und blickte ihn mit den schwarzen Pupillen groß an. Endlich trollte er sich, indem er sich während des ganzen Weges durch den Wagen nach ihr umblickte und verdächtig ein Auge zukniff. Der Oberstleutnant hatte es bemerkt. Er fragte schmunzelnd den Hauptmann, was da vorgehe zwischen diesen beiden. Der gab zurück:
»Wieder mal echt. Sie braucht nicht zu zahlen. Ich sage es ja, es ist eine Schweinerei in diesem Lande.«
Jetzt kamen Befestigungswerke, Wall und Graben, in dessen Tiefe friedliche Gartenanlagen träumten. Sie glitten dunkel durch ein altes Tor unter dem Watt hindurch, und die engen Straßen Lilles taten sich auf, daran nichts war von Herrlichkeiten mittelalterlicher Städtebilder, nichts aber auch von neuer Baukunst, einer Entwicklung, die diesem, wie der Hauptmann gemeint, »stehengebliebenen« Volke nicht mehr beschieden sein mochte. Waren draußen die Häuser zerstört gewesen, die Bäume umgelegt, die Felder in der Feuerzone unbestellt, zeigten die Straßen Spuren der Granaten, standen am Horizont alte Wahrzeichen der Gegend zertrümmert oder gänzlich vom Erdboden getilgt, so schien hier nichts vom Kriege berührt. Ja, die Stadt war auf den ersten Blick kaum verändert. Und doch: Die Deutschen lehnten auf der Elektrischen, Kraftwagen wurden von ihnen geführt, Kolonnen ratterten vorüber: Wagen, graugestrichen, auf den Sitzen deutsche Soldaten. Eine Schwadron klapperte vorbei, eng aufgeschlossen, die gefürchteten Lanzen am Arm. Die Elektrische mußte halten: Infanteriekolonnen querten den Weg. Deutsche Soldaten, Grau an Grau, Mann an Mann, Helm an Helm. Darüber das glitzernd wogende Meer der Gewehre. Hinter jeder Kompagnie kam die Feldküche, Gepäckwagen schwer beladen und mit dem Hauptmann hoch zu Roß, die neue Kompagnie: Und immer sangen sie! Die Feldgrauen waren aus der Elektrischen gestiegen. Sie standen nun auf der Straße und sahen dem Vorbeiziehen ihrer Kameraden zu. Die Franzosen im Wagen drängten nach vorn, starrten und staunten. Die Herren, die mit so lebhaften Gebärden gesprochen, flüsterten jetzt. Immer s neue Truppen zogen vorüber. Wo die nur alle herkamen? Ein stämmiger junger Kerl sagte: haha, die Deutschen müßten zurück, und mit dem unvorsichtig lauten Worte lebte in allen wieder einmal die Hoffnung auf: Der Durchbruch kam, der große Durchbruch. Man blickte sich um: Kein Feldgrauer war mehr da. Und doch sahen die Franzosen sich mißtrauisch an: Ein Deutscher konnte unter ihnen sein, ein Händler, ein Kriegsberichterstatter irgendeiner, den die Boches an die Front gebracht. Hier wimmelte so allerlei. Und man prüfte die Gesichter, wie Tiere, zusammengepfercht, einander beschnuppern. Der stämmige junge Mensch sagte in seiner Mundart der Liller Gegend:
»Sie gehen alle in den Tod und quieken dazu, die Boches, wie Schweine, ehe sie geschlachtet werden.«
Aber der eine alte Franzose, der gleichsam traurig, bewegt und heimlich vorhin gesprochen, sah den jungen Kerl von der Seite an, als wollte er fragen: ›Was machst du denn hier mit deinen gesunden Knochen?‹ Dann sagte er ernst und scharf:
»Diese Soldaten da sind höchst ehrenwert, denn sie tun ihre Pflicht gegen ihr Vaterland. Aber es gibt hier auch junge, gesunde Franzosen, die in die Gräben gehören, in die Gräben, in die Gräben!«
Der Kerl drehte finsterer Miene an seinem kleinen Schnurrbärtchen:
»Ich bin herzkrank, mein Herr!« Damit stieg er plötzlich aus. Herzkrank schien auch der Schaffner zu sein, denn er geleitete eben das Mädchen, dessen Fahrgeld er seiner Gesellschaft unterschlagen hatte, zur Tür. Dort kniff er sie freundschaftlich in ihre Fülle, daß sie einen kleinen Schrei ausstieß. Aber die vorn hörten es nicht, ihre Aufmerksamkeit war auf die deutschen Truppen gerichtet, die noch immer singend vorüberzogen. Sie waren bestaubt. Man sah ihnen die Spuren langen Marsches an. Alle trugen sie schweres Gepäck: Dachs, Patronentaschen, Gewehr, Seitengewehr, Kochgeschirr, Spaten und über den Mantel geschnallt eine Decke. Die blonden großen Krieger schienen fremd hier zu sein, denn sie blickten an den Häusern empor, während ihre Lieder klangen. Aber der einzelne war bald vorüber, er verschwand im grauen Heerwurm, der sich endlos hinwälzte, kein Mensch, sondern eine Masse, von einem einzigen Willen getrieben: dem zu siegen.
Ein paar der Leute im Wagen schimpften über das lange Warten: wieder ein Eingriff in Rechte und Freiheit. Das hätte mal zu französischen Zeiten geschehen sollen! Inzwischen hatten sich die Elektrischen gestaut, aber sie mußten warten, bis der letzte Mann vorüber war. Dann erst fuhr man weiter.
Die Schwestern ließen ihre, Leben und städtischem Treiben entwöhnten Augen eindruckshungrig wandern, über die Läden, vor denen wie im tiefsten Frieden Damen standen und Kinder, oder an der Auslage deutsche Soldaten, die sich mit der Verkäuferin zu verständigen suchten. Halbwüchsige Mädel und Bengel boten Streichhölzer an oder riefen die »Gazette des Ardennes« aus. An der neuen Oper, die mit ihrer wirren Giebelplastik nur äußerlich vollendet dastand, denn vor der Eröffnung war der Krieg ausgebrochen, tat sich jetzt die rue Faidherbe auf. Die Battaignies hatten von all der furchtbaren Zerstörung durch die Beschießung gehört, wie sie sich herumsprach im Lande. Nun fühlten sie sich fast enttäuscht, nicht viel anderes zu gewahren als jenes Bild, das der Krieg rund um Ralinghien allmählich hervorgezaubert hatte: Eine Ruinenstraße zog zum Bahnhof hinauf, abenteuerliche Giebel ragten, Eisenträger, wie Draht gekrümmt, starrten zum Himmel oder lagen verstreut gleich hingeschütteten Streichhölzern. Man sah in Farben der Tapeten, von Deckenlinien umrissen, die Stockwerke abgezeichnet, sah Herdstellen geschwärzt und Wandstücke frischer erhalten, wo Möbel gestanden hatten: Alle Heimlichkeiten eines Hauses waren plötzlich fremden Augen aufgetan. An der Schauseite eines Cafés stand noch die Säulenreihe. Schilder mit Inschriften schwebten, Balkone bogen sich ohne Treppe oder Hinterland unerreichbar in die Luft hinaus. Ganze Straßenblocks lagen niedergelegt nun übersichtlich dem Auge da, das frei wandern konnte und mit einemmal Grundriß und Zusammenhang der Gassen, sozusagen den Stadtplan erriet.
Die Schwestern waren ausgestiegen und starrten wie Mädchen vom Lande auf Bild und Treiben. Damen trippelten vorüber in ihren fußengen Röcken, eine Tasche in der Hand, Mädchen schleppten irgend etwas. Dazwischen gingen ältere Herren, den Battaignies vom Sehen bekannt, ein verschämtes schmales Ordensbändchen im Knopfloch. Man beguckte sich. Bekannte grüßten. Die Sergeants de ville standen in ihren kurzen Mäntelchen an den Ecken, als sei gar kein Krieg. Claire, die vor der Zeit gealterte, die nichts Modisches hatte, um so weniger, als aus ihrem Muff das Netz für Einkäufe lugte, griff hastig nach ihrer Schwester Arm:
»Sieh nur die schöne französische Uniform. Ah, es ist doch gleich was ganz anderes!«
Und es war anders, denn zwischen all den Franzosen schritten Offiziere aller Regimenter und Waffen, ohne Säbel, den Gurt mit Revolver oder Seitengewehr umgeschnallt. Grau waren sie, unscheinbar, doch ihre großen Gestalten überragten alle die französische Polizei, die sie grüßte, die Handfläche nach vorn gekehrt. Dazwischen war ein Gewimmel von Leuten in abgebrauchten Kriegsröcken, bisweilen von englischen Granaten gelb gefärbt, manche mit schwerer Männerhand geflickt, wo etwa ein Dreieck herausgefetzt worden, vielleicht vom feindlichen Stacheldraht. Sie gingen schnell allein auf einem Dienstwege, oder lässig zu zweit, zu dritt. Man sah ihnen den Schützengraben an, aus dem sie heute einmal beurlaubt gestiegen waren, die Front, wo kein anderes Auge sie erblickte als das der Vorgesetzten und ihres Schöpfers, der hoch vom Himmel hereinschaute in die tiefeingeschnittenen Gräben und Maulwurflöcher, mit denen der Krieg das französisch-flandrische Land übersponnen hatte wie mit einem Netz. Die Leute starrten, der Stadt entwöhnt, erstaunt die geputzten welschen Weiber an, gleich fremden Wesen. Nicht viel anders als die Schwestern Battaignies, die nun an der alten schwarzgrauen Barockbörse mit ihrer bewegten Architektur vorüber, auf einen rechteckigen weiten Platz traten, Lilles grande place. So waren sie des Verkehrs entfremdet in ihrer Einsamkeit da draußen im Feuerbereich, daß Claire, sich umblickend nach all den lieben alten Gebäuden, ein dickes Weib anrannte. Die Alte übergoß sie sofort mit einer Flut von Worten, die zu verstehen man im Lande hier geboren sein mußte. Ein Herr in schneeweißem Bart, nach Heinrich des Vierten Stil, blieb bedächtig stehen und erklärte mit bekümmertem Gesicht, jetzt sei wohl nicht die Zeit, daß Franzosen untereinander sich bekriegten.
Claire und Laetitia wanderten umher. Sie lasen Firmenschilder. Da war das Café Bellevue. Stand da wie immer. Und was hatte doch die alte Vandamme für grausige Geschichten erzählt, ganz Lille läge in Trümmern! Die alte Catherine Vandamme, die damals jenen Brief im Unterrock versteckt gebracht, jenen Brief, über die Neutralen gekommen oder durch einen Flieger abgeworfen, wer sollte es wissen – man gab fünf Francs und fragte nicht darnach –. Er war von Jules, Laetitias Stiefbruder, und enthielt nur Hoffnung, ja Gewißheit des Sieges. Von Alfred stand kein Wort darin, wußte er doch selbst nichts, als was in seinem eigenen Abschnitte geschah. Und eine Art Sicherheit, weil das Altbekannte noch unversehrt stand, kam über die Schwestern, als ob einer nach einem Erdbeben wenigstens sein Haus unerschüttert wiederfindet. Nur einmal noch blieben sie gebannt, als sie das Wahrzeichen Lilles, die bewegte Bronzegestalt der Göttin auf ihrer Säule einsam ragen sahen.
» La Déesse!« sagten sie in einem Atem vor sich hin. Wie sie hinaufblickten, hörten sie Musik. Nun erst wurden sie gewahr, daß der weite Platz auf der einen Seite durch deutsche Posten abgesperrt war, während rechts und links von der Göttin ganze Reihen von Pferde- und Kraftwagen warteten. Feldgraue begannen sich zu sammeln. Mädel, Burschen, allerlei einfaches Volk blieb stehen. Deutscher Landsturm kam, mit den schwarzen Wachstuchmützen, darauf das eiserne Kreuz. Sie traten fest auf, die reifen Krieger, sie marschierten bei Pfeifen- und Trommelklang tadellos gerichtet, wie sie es in ihrer Jugend gelernt. Als sie nun einschwenkten auf den freien Teil des Platzes und die Musik von neuem einsetzte, traten die Schwestern vor und ließen die Deutschen an sich vorbeimarschieren, »Tritt gefaßt«, daß das Pflaster dröhnte. Als eben ein Hauptmann in langem weißen Bart die blonden nordischen Riesen mit weithin schallender Stimme präsentieren ließ, legte sich eine Hand auf Claires Arm. Eine stattliche Frau in tiefer Trauer küßte die Schwestern bewegt auf beide Wangen. Sie zog die beiden fort: es sei traurig genug, daß die Boches hier an der » grande garde«, wo einst französische Soldaten marschiert, auf Wache zögen, da sei es nicht Stil unter besseren Leuten, sie auch noch zu bewundern. Claire, ihr im Alter näher, faßte sie unter den Arm, während auf der anderen Seite Laetitia ging, und sie bogen um den Platz herum, in die breiteste Straße ein, die im rechten Winkel herabführte: Die rue nationale. Sie schwatzten, steckten die Köpfe zusammen, und bei Laetitia war für den Augenblick alle deutsche Sehnsucht versunken. Madame Dallarmes fürchtete schon, Ralinghien sei zerstört und die Battaignies deshalb hier, denn vor sieben Wochen hatte man sich die letzte Botschaft geschickt. Vor einer Anlage, wo der Liller Chansonnier Desrousseaux mit starrem Marmorangesicht über die veränderte geliebte alte Stadt blickte, blieb ein Herr stehen und lüftete feierlich den runden Hut. Er war ein schlanker Mann mit feinem Gesicht und schwarzen, immer wandernden Augen. Der kleine kurzgeschnittene Schnurrbart schien gefärbt in seiner stumpfen Schwärze. Eine Perle trug der Herr im Schlips, er, ein Mann, während man bei all den Damen keinen Schmuck sah. Es paßte nicht in die Zeit. Man dachte vielleicht auch an Unsicherheit, obwohl deutsche Zucht sie längst eines anderen hätte belehren können.
Herr Dallarmes hatte seine Frau ebenso feierlich begrüßt wie die Battaignies, mit denen er entfernt verwandt sich nannte. Als er neben Madame de Beaucourt hinter den beiden anderen herschritt, war sie jäh gewandelt. Sie wiegte sich in den Hüften, sie zeigte lächelnd die Zähne, und dabei übersah sie nicht all das Neue dieser kriegsveränderten Stadt. Bisweilen mußte man grüßen oder blieb stehen, immer mit der gleichen Anrede: »Was, Ihr hier? Wie geht es denn da draußen? Ist denn Ralinghien nicht ganz hin? Wie könnt Ihr nur dort leben? Ist es nicht furchtbar?« Dann staunten sie, wenn sie vernahmen, an der Ferme fehle nicht ein Ziegel.
Als Laetitia, diesmal unter Claires Zustimmung, erklärte, die Deutschen bei ihnen benähmen sich tadellos, bewegte Herr Dallarmes ungläubig den feinen hübschen Kopf: Nun es gäbe ja Ausnahmen. Der Gruppe Franzosen, die jetzt an der Ecke des boulevard de la liberté zusammenstand, war alles erklärt, als Laetitia sagte, ein General läge bei ihnen. Herr Dallarmes zuckte die Achseln:
»Nun ja, ein General, ein General.«
Aber seine Frau erzählte Claire, sie hätten einen Stabsarzt bei sich einquartiert, der nicht nur gut französisch und englisch spräche, sondern auch jede Woche ins Museum ginge. Herr Dallarmes zuckte wieder die Achseln:
»Nun ja, ein Arzt, ein Arzt.«
Die Dallarmes wohnten auf dem boulevard de la liberté und die Schwestern nahmen ihre Einladung zum Frühstück gern an. Die Töchter Dallarmes, die der Mutter entgegengekommen waren, zwei nette Dinger mit offenem langem Haar, um so länger, je kürzer die Röcke waren, wurden vorausgeschickt, denn in diesen knappen Zeiten mußte die Köchin vorher unterrichtet sein. Während der Verhandlung über das Essen schielte Herr Dallarmes in die Spiegelscheibe einer Bäckerei, wo ein ungewöhnlich hübsches Mädchen verkaufte. Es war nichts als Gewohnheit, doch Gewohnheit auch, daß er, als hätte er die Scheibe nur als Spiegel benutzt, am Schlips rückte.
Das Haus der Dallarmes war eines der schönsten des Boulevards, mit dem steingehauenen Namen des Pariser Erbauers gleichsam wie mit einer Künstlermarke versehen. Durch die hohen Scheiben der großen Einfahrt ahnte man im Frieden eines stilisierten Hofgartens Garage oder Stall. Eine Halle tat sich auf, in deren Mitte eine unbekleidete Bronzedame, der irgendeine völlig wertlose Tätigkeit den Vorwand bot, ihren etwas mageren Akt zu zeigen. Die kleinen Mädchen führten, während ihre Mutter ablegte, die Verwandten in den Salon, Herr Dallarmes rief den Pförtner, um ihn bei allerlei Bekannten herumzusenden mit der Botschaft, »die aus Ralinghien« wären da. Möbel, Spiegel, Bilder sah man verhängt, die Dienerschaft hatte eingeschränkt werden müssen während des Krieges, und die Familie lebte nun im Eßzimmer und in den Schlafzimmern oben.
Die jungen Mädchen, still in Anwesenheit der Eltern, fragten jetzt, mit den Tanten allein, nach tausend Dingen und erzählten von ihrem Leben im Keller während der Beschießung. Sie müßten nachher einmal hinaufgehen, um das Loch zu sehen, das die Granate in den Dachboden gerissen hatte. »Die Granate«. Von »der« Granate sprachen sie immerfort. Sie war ihrem kindlichen Sinn der Eindruck des Krieges. Von den Deutschen erzählten sie mit einem Kindergemüt, noch nicht vergiftet vom Haß der Völker, ja, sie fingen an, mit Laetitia deutsch zu sprechen. Ihr geliebtes »Fräulein«, deren Vater städtischer Beamter in Hannover war, hatte bei der Kriegserklärung fortgemußt. Ihr geliebtes Fräulein Lüders: das einzige Wesen, das sich um die Mädchen gekümmert. Papa hatte seine Fabriken in Halluin und Papa hatte überhaupt immer zu tun. Mama besaß aber zu viel Bekannte und Verwandte. Auch die Schneiderin und der Zahnarzt kosteten Zeit. Als sie nun unbefangen, ja glücklich deutsch redeten, erklärte Claire, das schicke sich nicht in dieser Zeit. Schon fing die Jüngste, deren empfindliche Seele keine Zurückweisung vertrug, an zu weinen, als die Eltern kamen. Es ging zu Tisch. Madame entschuldigte das »einfache und mißlungene« Essen. Es war jedoch reich und ausgezeichnet.
Die Dallarmes fragten, wie es draußen stünde, und die Battaignies mußten alle Ortschaften nennen, die zerschossen waren. Daß Opendaele so gelitten hatte, beschäftigte Herrn Dallarmes sehr, waren die Besitzer doch gute Freunde von ihm gewesen. Als nun Laetitia erzählte, man wisse nicht, wo die Opendaeler sich jetzt befänden, ereiferte sich Herr Dallarmes: »Ihr« General in Ralinghien müsse das doch wissen. Wenn er nicht darüber spräche, so würde wohl etwas zu verstecken sein. Doch Laetitia erklärte: als der Divisionsstab gekommen sei, hätten von Opendaele längst nur noch die Mauern gestanden. Sie wurde ganz warm, die Deutschen verteidigend, und man sah sie erstaunt an. Das gab Anlaß, das Schicksal aller Verwandten und Bekannten durchzusprechen: Die einen hatte der Krieg im Seebad überrascht, in Etretat, in Boulogne sur mer – oder in Trouville, die anderen waren gerade in England gewesen oder auf Landsitzen bei Freunden in der Normandie, Bretagne, Touraine. Viele Familien hatte der Krieg getrennt: die Eltern befanden sich in Lille, während die Kinder, die nicht mehr durchgekonnt, jenseits der Gräben in Frankreich weilten. Madame Chenouillard hatte ihren Mann verloren, zwei Brüder und ihren Schwager. Monsieur Crécy war wegen Versteckens von verbotenen Waffen zum Tode verurteilt, doch zu einer riesigen Geldstrafe begnadigt worden. Dann flüsterte man, sah sich um, ob man auch allein sei, denn nicht einmal in Gegenwart des Stubenmädchens wurde es gesagt: Der junge Huyghes war hier. Er hatte die Uniform abgelegt, und die dummen Boches merkten es nicht. Im gleichen Atem aber behauptete jene der beiden Töchter mit der empfindlichen Seele: Aber Madame Leroy hätte doch neulich erzählt, sie hätten in Haubourdin sechs junge Leute festgenommen, Soldaten. Also könnten sie doch nicht so dumm sein. Doch der liebenswürdige Papa, der mit seinen Töchtern wie mit Damen verkehrte, meinte wieder: »Nun ja, ein Ausnahmefall!«
Als man beim schwarzen Kaffee war, tat sich die Tür auf: eine Anzahl Damen war gekommen, den Besuch von Ralinghien zu begrüßen. Und die Gesellschaft ging in die Bibliothek hinauf im ersten Stock. Oben fühlte man sich sicherer. – Immer mehr Menschen erschienen, die der Pförtner benachrichtigt hatte. Man küßte sich auf beide Wangen, besah, betastete sich, ob man auch noch ganz sei, dann saß man im Kreise dicht beisammen, ließ sich erzählen, teilte Meinungen aus. Von Schlössern wußten welche zu berichten, die als Lazarett eingerichtet wären oder als Erholungsheim, andere wieder schienen verschont zu sein. Bis tief nach Belgien hinein und bis Arras, Péronne, Soissons war man unterrichtet. Während die älteren von der Zukunft Frankreichs redeten, den Sicherheiten der Entente, der Gewißheit endlichen Sieges, von nahe bevorstehendem Durchbruch und daß die lateinische Schwesternation doch nun endlich einsehen müsse, auf welcher Seite ihr Vorteil läge, sprachen die Jüngeren mehr von Menschen. Laetitia fragte mitleidig eine junge Frau, der ihre tiefe Trauer bei dem Blondhaar gut stand, ihr Henri sei doch nicht etwa gefallen? Sie antwortete mit wundervollem Augenniederschlag und Neigen ihres schönen Kopfes: » Ah, mais non, mais c'est très chic.«
Man sprach mehr von Geldschwierigkeiten, Ärger, Bedrückungen, Langeweile, sagte aber nichts allzu Böses über die Deutschen, ja einzelne lobten sogar ihr tadelloses Verhalten. Als nun aber Laetitia einstimmte, warf man ihr wieder erstaunte Blicke zu und Herr Dallarmes nannte die Barbaren mit einem gemeinen Schimpfwort, so daß sie geärgert schwieg. Die Verstimmung über ihre Landsleute ließ das Bild des ruhigen deutschen Generalstabsoffiziers vor ihrer Seele erstehen, und er kam ihr neben der Gehässigkeit ihres Vetters so vornehm vor, so stolz zugleich, daß bei dem Gedanken an die Unanständigkeit jener Worte empörte Scham ihr das Blut ins Gesicht trieb. Sie mochte Monsieur Dallarmes nicht, und alle Damen ihres Kreises schwärmten doch von diesem hübschen, liebenswürdigen Manne. Immer klang ihr das Urteil ihres Schwagers Josèphe in den Ohren: »Dallarmes sollte lieber gegen seine Frau zuvorkommend sein, statt gegen gewisse Damen!«
So fing Madame de Beaucourt an, mit auftrumpfender Absichtlichkeit von Generalleutnant Greger zu erzählen, von Major Rennhöfer fast zu schwärmen; der Name Esserte kam nicht über ihre Lippen. Die Verwandten sahen sie betroffen an, und der Vetter Dallarmes, der doch gegen Damen immer schwach und nett war, sagte, verletzt in seinem französischen Gefühl:
»Die Boches haben wohl schon abgefärbt, Laetitia? Wollen Sie nicht lieber deutsch sprechen? Freilich verstünden wir uns dann nicht. Ich glaube aber fast, wir verstehen uns schon jetzt nicht mehr!«
Alle mochten die junge Frau gern, so lachten sie nur harmlos. Laetitia aber traten die Tränen in die Augen und sie rief mit zuckenden Mundwinkeln:
»Nun, diese Boches in Ralinghien würden nie so mit einer Dame sprechen. Aber es sind eben Barbaren! Sie haben allerlei Ansichten, die offenbar aus einer niederen Kulturstufe stammen. Sie halten zum Beispiel ihre Ehe rein!«
Claire richtete sich plötzlich auf und klatschte in dem peinlichen Schweigen, das diesem Ausbruche gefolgt, wütend in die Hände: »Bravo, bravo, bravo!« Dann sank sie auf ihren Stuhl zurück und starrte Monsieur Dallarmes mit so haßerfüllten Augen an, daß die eine kleine Nichte die Tante ganz erschrocken ansah.
Die Stunde des Abschiedes nahte. Claire, schon gut gezogen von den Deutschen, hatte mehrmals nach der Uhr gesehen – nur noch zehn Minuten blieben ihnen. Man redete wieder über den Krieg, den Krieg, der ihnen allen wie Gift im Blute saß. General Joffre, den keiner kannte, von dem auch eigentlich niemand Genaues wußte, wurde für jenen Feldherrn erklärt, der als Organisator wie als Heerführer unerreichbar sei für die Deutschen. Merkwürdig nur, daß sie hier standen und nicht er bei ihnen. Von der unvergleichlichen französischen Armee wurde erzählt, von den Siegen, zu denen sie sich rüstete. Welche schwärmten, wie die Gefangenen, die von den Deutschen täglich fast auf die Zitadelle gebracht wurden, stolz, unerschüttert ausgesehen hätten. Die liebe, liebe, schöne, schöne, französische, französische Uniform! Ein paar der alten Herren traten Tränen in die Augen, und mit ihrem gallischen Temperament erhitzten sie sich an Dingen, von denen keiner etwas wußte. Die unbegründetsten Behauptungen fanden Ohr und Beifall. Sie rückten die Stühle zusammen gleich Verschworenen, und sprachen mit gedämpfter Stimme von dem Durchbruch, dem großen Durchbruch, der alles wenden werde. Bei Lille müsse er erfolgen. Wenn dann der letzte Deutsche hinausgeworfen sei, kämen sie wieder in den alten lieben Uniformen, und den treuen rassigen Gesichtern, die Ehrenlegion auf der Brust, kämen wieder mit flatternden Fahnen, daß alles auf der Straße niederknien müßte vor den Befreiern des unterjochten Artois und Flandern, nicht anders, als zöge die Gottheit selber ein. Sie flüsterten mit roten Wangen. Sie drückten einander dankend die Hand für jedes besonders herrliche, patriotische Wort, das einer gefunden hatte. Und wie sie dasaßen in ihrer armen, bedrückten, nicht immer sehr hochgemuten Franzosenseele, und sich die Köpfe erhitzten, meinten sie schon die Clairons draußen zu vernehmen, die Marseilleise, das » Vive la France«.
So groß war die Verzauberung, daß einer das Fenster aufriß. Wirklich, man hörte Marschtritte. Man sah etwas blitzen, Helme, Seitengewehre, und um einen Haufen, der langsam vorwärtsschlenderte, waffenlos, einer im Mantel, ein anderer nicht, barhaupt einzelne, die übrigen in flachen, grüngrauen englischen Tellermützen, in roten französischen Käppis. Dazwischen leuchteten hell die Turbane großer, hagerer, brauner, ernster Inder.
Langsam schlossen sich die Fenster. Keiner sprach mehr ein Wort.
Vorm Abschied legte Madame Dallarmes ihren Arm um Claires Nacken und flüsterte ihr zu:
»Claire, laß einmal Ruhe in deine Seele kommen. Glaubst du, was er dir angetan hat, hätte er mir nicht viel schwerer angetan, mir, seiner Frau? Und du mir auch? Claire, ich habe dir doch längst verziehen. Er ist nicht schlecht. Er ist nur so schwach, so entsetzlich schwach!«
Claire de Battaignies neigte den Kopf, dann umarmte sie stürmisch die beiden kleinen Mädchen und eilte mit Laetitia davon. Immer sahen sie beide nach der Uhr, die Zeit nicht zu versäumen.
Als sie vor Bobines ausstiegen, wartete schon der Kraftwagen. Hatte nun auch die Begegnung mit den Verwandten ihre französische bedrängte Seele erfrischt, so wirkte doch die Gewohnheit bereits derart, daß auch Claire freundlich lächelte, als sie den breiten, schweren Klostermann in seiner schwarzen Lederuniform vor sich stehen sah, der militärisch Madame de Beaucourt meldete:
»Der Herr Major läßt sich entschuldigen, er hat dringend zu tun. Aber der Herr Kriegsgerichtsrat wird die Damen geleiten.« Dabei erzählte er, wichtig tuend, im Kriege müsse man eben jede Gelegenheit wahrnehmen, nicht unnütz zu fahren. So sei denn der Herr Kriegsgerichtsrat mitgekommen, der in Bobine seine Vernehmung habe. Es könne aber eine Weile dauern, bis er wiederkäme. Inzwischen möchten doch die Damen Platz nehmen. Er öffnete den Wagenschlag und wickelte die Schwestern vorsorglich in Decken ein. Jedesmal nun, wenn Elektrische vorüberfuhren, renkten sich die Franzosen den Hals aus, irgend etwas witternd, sei es, hier geschehe eine Unregelmäßigkeit, oder es wären wieder einmal Landsleute von den Deutschen festgenommen worden. Doch auch ein Hauptmann wurde aufmerksam, der, vom Burschen auf einem zweiten Pferde gefolgt, vorbeiritt. Er rief Klostermann heran und fragte, was das hier zu bedeuten habe. Der seit kurzem zum Gefreiten Ernannte erklärte, wer die Damen wären. Der Hauptmann ritt um den Wagen hemm, las die Bezeichnung 347. I. D. auf dem Kühler, grüßte kurz und setzte seinen Weg fort.
Die Sonne, die sich gegen Mittag durch die Dünste gekämpft, war in blutigen Nebelschleiern wieder versunken, dort drüben, wo zwei Gegner miteinander rangen, Tag um Tag und Nacht um Nacht. Da es zu dunkeln begann, zündete Klostermann die Scheinwerfer an. Die Schwestern verkrochen sich fröstelnd unter den Decken und sprachen leise von dem Besuch in Lille, ihnen wie ein Traum. Was wußten die Liller vom Kriege? Während der Beschießung hatten sie in den Kellern gesteckt. Und jetzt, wo es so friedlich war in der Stadt, daß man nur ab und zu von Ferne den Kanonendonner hörte, jammerten sie auch noch. Da hätten sie einmal draußen in der Feuerzone, in Ralinghien sein sollen. Und die Schwestern fühlten sich den Verwandten überlegen, gleichsam bessere Franzosen, die mehr litten für ihr Vaterland. Sie erinnerten sich des reichbestellten Tisches. Ja, so konnten sie nicht essen. Wenn nicht Major Rennhöfer dafür gesorgt hätte, daß ihnen der Vizewachtmeister mal etwas mitbringen durfte, wie hätten sie denn leben sollen? So beherrschte eine gewisse Dankbarkeit auch Claire de Battaignies. Als nun der Kriegsgerichtsrat endlich aus Abenddunkel und Nebel auftauchte, abenteuerlich anzusehen im Lichtspiele der Scheinwerfer, kam sie ihm liebenswürdig entgegen. Er verstand Französisch, nur das Sprechen war ihm nicht geläufig. Vorn neben dem Fahrer sitzend, drehte er sich herum und erzählte den Damen. Er hatte Balzac gelesen, Mérimé, Flaubert, Hugo. Er schwärmte für Alfred de Musset. Und bald erfuhren die Damen Dinge über Erd- und Gesteinskunde, Geschichte und Rechtswissenschaft ihres Landes, die ihnen nie ein Franzose gesagt hatte.
Da klang wieder das Grollen, Rollen, Donnern, Krachen, Schmettern der Artillerie. Als ob die beiden, nur auf Stunden dem ernsten Gesang der Front entzogen, seiner schon ein wenig entwöhnt wären, zuckten sie zusammen, und Laetitia griff unter der Decke nach ihrer Schwester Hand. Der letzte Einschlag konnte gar nicht weit gewesen sein, aber der Kriegsgerichtsrat erzählte ruhig fort, mit immer größerem Mute französisch sprechend. Vergessene Wendungen stiegen ihm herauf, aus Antworten entnahm er einen Redeteil, den er zurückgab, und die Artigkeit der Französinnen, mit der sie seine Fehler überhörten, nie ein Lächeln auf den Lippen, steigerte sein Selbstvertrauen.
Nun bogen sie von der Ypernstraße ab, auf den Feldweg, nicht schlechter gehalten als in Friedenszeiten, denn Baron de Battaignies hatte kein Geld hergegeben, ihn zu verbessern und der Maire, mit dem er ständig in Fehde lag, wollte nichts tun. Als nun der Hof sich auftat, man die erleuchteten Fenster sah, sie wieder in der alten ferme de Ralinghien waren, fühlten die Schwestern sich sicherer als in Lille, voll jener Heimatsliebe, die den Älpler auf seinem Eigen hält, auch wenn die Lawine es bedroht, und den Halligenbewohner auf seinem armseligen Eiland, leckte auch die Sturmflut daran.
Auf Claires Zimmer packten die Schwestern, nachdem sie vorsichtig zugeriegelt, das Netz aus, in dem allerlei sich befand, das Madame Dallarmes für sie hatte besorgen lassen: Konserven, Schokolade, Toilettengegenstände, Rasierseife für den Papa, ein paar Bücher, und, heimlich dazwischengesteckt, eine Anzahl französischer Zeitungen. Alten Datums waren sie. Aber die beiden stürzten sich darüber und nun saß jede stumm in einem Stuhl und las mit hungrigen Augen, was drüben in ihrem Vaterlande geschah. Claire schüttelte den Kopf und reichte ihr Blatt der Schwester:
»Sieh nur. Wer das ist doch …«
Sie deutete auf eine Stelle, wo gesperrt gedruckt stand: »Neuer großer Erfolg. An der französisch-belgischen Grenze haben unsere unvergleichlichen Truppen bei einem Vorstoß einige Gräben genommen und einen Stützpunkt dazu, der die besten Hoffnungen gibt, daß die Boches bald aus dem von ihnen unter schmählichem Bruch garantierter Neutralität besetzten unglücklichen Belgien hinausgeworfen sein werden. Der festeste Punkt der dortigen Gegend, das Schloß Opendaele, ist von uns mit stürmender Hand genommen worden. Unsere Linien sind weit vorgeschoben. Wie weit dürfen wir aus leicht begreiflichen Gründen nicht sagen. Aber der Wert dieses Vorstoßes mag daraus ersehen werden, daß die Boches sich bereits in Bobines nicht mehr sicher fühlen, denn, wie Flieger melden, hat dort schon der Abtransport von Vorräten und Kriegsmaterial begonnen. Bald wird dort überall die Trikolore wieder wehen.«
Laetitia sah ihre Schwester stumm an. Endlich sagte sie: »Aber sie sind ja immer in Opendaele gewesen und sind noch da!« Die Stirn in Falten, die Augen gesenkt, fügte Claire hinzu: »Und wir sind ja gar nicht hier, drüben sind ja Engländer.«
Abermals blickten die Schwestern sich an. Und sie legten stumm die Zeitungen beiseite, über die sie doch so glücklich gewesen waren.
Claire entriegelte die Tür und ging an ihres Vaters Zimmer. Sie kam sofort wieder: Er sei noch nicht zurückgekehrt. Das machte sie ein wenig ängstlich, denn draußen klang ohne Ende der Kanonendonner. Nun war die ganze gehobene Stimmung dahin. Die Schwestern saßen in karger Beleuchtung; auch Licht mußte gespart werden. Drüben glomm das Feuer im Kamin. Laetitia nahm die Zeitungen und stand auf:
»Es ist nicht schön, das Volk so zu belügen. Das arme französische Volk. Ich habe es Dir immer vorgelesen in dem deutschen Blatt. Was soll man nun noch glauben?«
Claire meinte dumpf:
»In der Monarchie wäre so etwas nicht möglich. Wer Gott leugnet und die heilige Jungfrau verhöhnt, wer das Vermögen ihrer Diener einzieht, um es zu verprassen, von dem kann man auch nicht erwarten, daß er die Wahrheit spricht.«
Laetitia stand mit den Zeitungen am Kamin, lässig auf den Marmorsims gelehnt, wie immer in schönen Linien, wie die Natur sie ihrem schlanken Körper geschenkt und die Erziehung sie gelehrt hatte, sie nicht zu verbergen. Sie beugte sich nieder:
»Ich will es verbrennen.«
Aber Claire fiel ihr in den Arm:
»Laß doch, laß! Wir wollen wenigstens das andere lesen.«
Da nun aber der Kanonendonner immer zunahm, so ging Laetitia hinunter, um nach ihrem Vater zu fragen. Sie hätte es dem Vizewachtmeister, den sie im Gange traf, sagen können, doch in ihr lebte die Sehnsucht, Herrn von Esserte zu sehen. Sie meinte, seit Tagen habe sie ihn nicht erblickt. Der Vizewachtmeister erklärte: Der Herr Major von Esserte habe wahrscheinlich zu arbeiten, aber er wolle Major Rennhöfer rufen. Doch Laetitia blieb dabei, Herrn von Esserte zu sprechen. Verstört trat er ihr entgegen wie einer, der ganz in seiner Arbeit vergraben ist und sich nun ärgert, herausgerufen zu sein. Als er Laetitia sah, wurde sein ernstes Gesicht freundlicher. Immer ein wenig steif, verbeugte er sich und beruhigte sie über ihren Vater, während die Scheiben leise klirrten. Seit heute mittag läge schweres Feuer auf Ralinghien, dem Dorf. Oberleutnant von Gereck hätte telephoniert, Baron de Battaignies säße im Unterstand. So habe Exzellenz, da das Feuer besonders die Ausgänge des Ortes beherrschte, befohlen, sie sollten den alten Herrn dort behalten, bis die Engländer sich etwas beruhigt hätten. Laetitia fragte ängstlich, ob ihr Vater in Gefahr sei. Der Generalstabsoffizier sagte kurz: »Nein, ganz gewiß nicht.« Damit verbeugte er sich und kehrte zu seiner Arbeit zurück. Die junge Frau hatte das Gefühl, als sei sie zu ungelegener Zeit gekommen. Sie hätte ihm erzählen mögen,, daß sie die Deutschen verteidigt habe bei den Verwandten in Lille. Heute trug sie das Herz auf der Zunge. Mit beiden Händen hätte sie es ihm dargebracht. Und nun fühlte sie eine grausame Ernüchterung, wie jeder, dessen Seele erfüllt ist und dem der andere, dem er sich mitteilen möchte, kalt begegnet.
Drin, knapp vor der Befehlsausgabe, saßen die Herren über die Papiere gebeugt, schrieben, blätterten in Akten und Befehlen. Hauptmann Giese zeichnete auf der Karte etwas ein. Major Rennhöfer stand an der Tür und sprach mit Unteroffizier Rosenthal.
Major von Esserte fragte einen der jüngeren Herren:
»Hat Gereck telephoniert? Ist Ralinghien noch so stark belegt?«
Der wollte aufstehen, doch der Major drückte ihn auf seinen Stuhl zurück.
In dem Augenblick klingelte es, und der Leutnant sagte:
»Brigade Flurschütz. Gereck ist eben fortgegangen.«
Der Generalstabsoffizier nahm den Hörer. Oberleutnant von Bißwang sprach, in der Meinung, daß noch der Leutnant da sei, in der Weise, wie er immer zu reden pflegte:
»Die Engländer haben den alten Patrioten fast zur Strecke gebracht. Da haben wir ihn bei uns behalten. Im Unterstand. Daß ihm nur ja nichts passiert. Sonst heißt's doch, die Boches hätten ihn umgebracht. Wir haben dem alten Rhinozeros Lebkuchen gegeben, pommersche Gänsebrust, Kaffee, Hasenpain, Quittenkompott, Sardinen, Gorgonzola, Tee, Leberwurscht, Baumkuchen, Schnaps, Appetitsilts. Wenn der sich nu den Magen verdorben hat, dann waren's die Barbaren wirklich. Hat kolossal gefressen. Man denke sich ooch, ganz allein. Der General wollte ihn nich sehen. Hasenclever hatte zu tun. Ich bin mit Gereck währenddessen zu Kreuzmacher gegangen, dem Hauptmann, nicht dem Leutnant. Bißchen Gesellschaft leisten. Hatte gestern Streifschuß bekommen. Linker Oberschenkel. Wir haben dem alten Marquis oder was er sonst ist, sogar noch 'ne französische Zeitung gegeben. Das Staunen! Die Freude! Aber » L'homme enchainé«. Die Hälfte zensurweiß. Die andere Hälfte …. Na, der alte Patriot wird sich aber gewundert haben, was da seiner Regierung gesagt wird. Das Blatt kann er ruhig lesen. Na und nun, wo's ruhiger geworden ist, ist also Gereck mit ihm abgeschrammt!«
Major von Esserte fragte:
»Wielange kann das her sein, lieber Bißwang? Ja – Esserte. Jawohl, ich bin da – Esserte«.
»Ach so, Herr Major. Nun, keine halbe Minute.«
»Ist denn kein Feuer mehr?«
»Augenblicklich ganz still. Was man hört, muß vor uns sein. Vielleicht in Belvoorde. Übrigens waren's hauptsächlich Schrapnelle. Noch gar nicht dagewesen. Soviel Stunden lang. Wer weiß, was die Flieger denen da drüben aufgebunden haben. Jetzt sind sie offenbar zum Dinner gegangen. Gute Nacht, Herr Major.«
Der Generalstabsoffizier legte den Hörer weg, trat an seinen Tisch und blieb eine Weile stehen. Er fühlte sich herausgerissen aus seiner Arbeit, die er übrigens unterbrechen konnte, da sie nichts Dringendes betraf. Die Karte der Champagne lag aufgeschlagen, daneben Gefechtsberichte und Tagebuch. Er, dem Arbeit Lebensnotwendigkeit bedeutete, benutzte die zeitweise Ruhe dieser langen Wochen des Stellungskrieges zu einer Darstellung dessen, was die Division während des ganzen Feldzuges getan. Dann packte er zusammen und sagte zum Adjutanten:
»Auf Wiedersehen bei Tisch, lieber Rennhöfer. Wenn nicht etwa was Besonderes kommen sollte. Ist Exzellenz oben?«
»Er sagte mir, er schriebe an seine Frau.«
»Hat er Nachricht von seinem Schwiegersohn?«
»Ja. Es scheint ihm ganz leidlich zu gehen. Aber er hat eine neue Nachricht bekommen. Fragen Sie ihn nur danach, Esserte. Es tut ihm wohl. Sein ältester Sohn ist gefangen.«
»Im Osten?«
»Jawohl. Er lag verwundet in einem Lazarett. Ich weiß im Augenblick nicht, wie der Ort heißt. Wir haben ihn gegen zehnfache Übermacht räumen müssen. Mußten aber die Verwundeten liegen lassen. Als wir'n dann am Abend wiedergewonnen haben, hatten die Russen unsere Verwundeten weggeschleppt. Und dann fragen liebenswürdige Leute zu Haus, die in Sicherheit hinterm Ofen sitzen: ›Ja, wie kann sich einer nur überhaupt gefangen nehmen lassen!‹«
Major Rennhöfer ging mit bis zur Tür und sagte leise:
»Esserte, nehmen Sie es mir nicht übel, wenn ich Sie mal auf was aufmerksam mache?«
Der blickte ihm ehrlich und warm in die Augen:
»Ich bin ja von Herzen dankbar!«
»Zeigen Sie doch mal Exzellenz, daß Sie ein Herz haben. Bitte, nicht böse sein. Wir arbeiten nun solange zusammen. Ich weiß es. Aber es wissen nicht alle.«
Major von Esserte schien doch gekränkt:
»Wer sagt das?«
Rennhöfer zog den Generalstabsoffizier in das Billardzimmer nebenan. Da nun dort kein Licht brannte, gingen sie weiter, bis ins Eßzimmer, wo bereits gedeckt wurde. Der Major gab den Ordonnanzen einen Wink, sie allein zu lassen, und als die Tür sich geschlossen hatte, fuhr er fort:
»Nicht wahr, Sie wissen, daß ich's gut meine. Und wenn Sie an mir etwas auszusetzen haben, so würde ich dankbar sein, wenn Sie damit nicht hinterm Berge hielten. Ich glaube, Exzellenz würde sich sehr freuen, wenn Sie ihm ein Wort über seine Kinder sagen wollten!«
Major von Esserte blickte den Kameraden scharf durch die Kneifergläser an:
»Wie hätte ich ihm denn etwas sagen sollen, wo er's selbst eben erst erfahren hat.«
Aber Rennhöfer behielt seine lächelnde Liebenswürdigkeit:
»Ja, der Sohn. Aber der Schwiegersohn ist doch schon seit acht Tagen verwundet«.
»Ich habe Exzellenz gefragt!«
»Aber nur einmal.«
»Man kann doch nicht immer davon reden. Und wieviele werden nicht verwundet. Sowas verarbeitet man mit sich selbst.«
Major Rennhöfer legte ruhig dem Kameraden die Hand auf den Arm:
»Die Menschen sind verschieden. Nicht jeder kann das wie Sie. Als Sie damals Ihre Frau verloren hatten und Ihren lieben Jungen, haben Sie durch Ihre Fassung allgemeine Bewunderung erregt!«
Herr von Esserte blickte auf das Tischtuch und machte eine Gebärde wie: Gott, was ist dabei. Rennhöfer hakte ihn unter und ging mit ihm langsam zum Kamin:
»Wirklich, das hat mir mehr als einer gesagt. Sie sind eine Natur, die sich nicht anzulehnen, sich nicht mitzuteilen braucht. Der geborene Generalstäbler. Nee, das ist gar keine Schmeichelei, das sagt ja grade Exzellenz von Ihnen. Er selbst ist eben anders. Wie vornehm ist dieser Mann, wie gut und wie gerecht, wie streng gegen sich. Und diese Erscheinung. Dieses Auge. Die kurze, scharfe Sprache. Und innerlich ist er doch so weich. Ich glaube, es würde ihm gut tun, wenn Sie ihm irgendein Wort sagten.«
Major von Esserte hielt den Blick gesenkt:
»Hat er sich beschwert?«
»Nein, das würde er ja nie. Aber ich habe es gefühlt. Ich habe verflucht gute Nase. Bei meinem Prinzen habe ich alles nur immer gerochen. Der sagte ja nie ein Wort. Und als er dann das Mädel heiraten wollte, nahm er es als selbstverständlich an, daß ich alles wissen müßte.«
Sie waren die Stufen in den Erker hinaufgetreten und standen nun in halber Dunkelheit, denn weder das knisternde Feuer im Kamin, noch die auf der Anrichte stehenden Kerzen erleuchteten genügend den Raum. Unvermittelt fragte Major von Esserte:
»Rennhöfer, glauben Sie eigentlich, daß Exzellenz mit mir einverstanden ist?«
Der Adjutant antwortete leise und eindringlich:
»Mir hat Exzellenz mal gesagt, Sie wären einer der tüchtigsten Generalstabsoffiziere, mit denen er je zu tun gehabt hätte. Das hat er auch beim Korps wiederholt. Dem Stabschef.«
Major von Esserte hatte wie beschämt den Kopf sinken lassen. Nun war es, als ob seine Seele sich öffne, und er sagte gleich einem Geständnis:
»Rennhöfer, ich denke immer, es ist ja doch alles Schwindel, Wer etwas fühlt, sagt es nicht. Meine arme Frau und ich wären beinahe nicht zueinander gekommen, denn ich konnte es ihr nicht sagen. Ich kann's, ich kann's nun mal nicht. Da sagte sie: Wenn du nicht kommst, muß ich kommen. Ich fand das ganz natürlich. Ich denke immer, ich will mich nicht aufdrängen. Nur das nicht. Lieber zehnmal zu wenig, als einmal zu viel. Aber ich will mir Mühe geben. Ich werde also Exzellenz ein Wort sagen. Ich danke Ihnen, Rennhöfer.«
Er schüttelte ihm dreimal mit festem Druck die Hand. Dann trat er die Stufen hinab, ging zur Tür, machte aber kehrt, kam zurück und sagte, als sollte es der erste Beweis der Wandlung sein:
»Rennhöfer, ich habe es Ihnen längst mal sagen wollen, fand nur nicht den Mut. Wir arbeiten hier so lange zusammen, und Kriegsjahre zählen doppelt, ja sollten zehnmal zählen. So anders wird man. Wollen wir Brüderschaft machen?«
Sie gaben sich stumm die Hand. Dann eilte Herr von Esserte hinaus, und in seiner immer gepreßten Seele schwebte leicht ein Glück. Er wollte auf sein Zimmer gehen, um zum Abendessen die Litewka anzuziehen, aber als er auf dem Treppenabsatz stand, fiel ihm ein, wie er Madame de Beaucourt vorhin kurz abgefertigt, die vielleicht in Sorge um ihren Vater war, genau wie der Generalleutnant um seinen Sohn. So bog er links ab und klopfte.
» Entrez!«
Es war dunkel im Zimmer. Nur der Kamin warf einen hellen Lichtkreis auf den Boden. Neben seinem Feuerschein saß Laetitia. Er zog die Tür hinter sich zu und fragte erstaunt über die halbe Finsternis:
»Gnädige Frau, ich störe wohl?«
»Warum?«
»Sie wollten wohl ein bißchen ruhen?«
Sie lehnte den Kopf in den Schatten zurück:
»Ah nein, dann würde ich nicht können schlafen abends und die Nächte sind ier ja so lang!«
»Ja, ich begreife. Nun, ich wollte Ihnen nur eine Nachricht bringen. Mir ist eingefallen, Sie könnten sich vielleicht ängstigen um Ihren Herrn Vater. Seien Sie ganz beruhigt. Die Herren draußen hatten ihn zurückbehalten, damit ihm nichts geschehe. Er muß jeden Augenblick kommen.«
Sie antwortete nicht, sondern versteckte ihr Gesicht vor dem Licht. Er suchte die Dunkelheit zu durchdringen. Sie aber senkte noch mehr den Kopf, schlug unter seinem forschenden Blick die Hände vors Gesicht und begann zu schluchzen.
»Madame?« fragte er nur, plötzlich französisch. Sie tupfte sich mit dem winzigen, zusammengeballten Taschentüchelchen die Augen:
» Ce ne sont que les nerfs.«
Er nahm ihre Hand und streichelte die langen schlanken Finger: »Aber, aber, was ist denn? Haben wir Ihnen etwas getan? Habe ich Ihnen etwas getan?«
Während er ihre Hand in den seinen behielt, wischte sie sich wieder die Augen:
» Non. Verstehen Sie nicht eine Frau? Wir sind allein. Wir aben niemand. Sie schießen. Papa ist draußen. Ich abe wiedergesehen meine Verwandten, ich abe wiedergesehen unsere Freunde. Verstehen Sie?«
»Sie haben wohl sehr Böses von uns gesagt?«
Sie griff nun auch mit ihrer anderen Hand nach der seinen. Er fühlte, wie naß ihr kleines Tüchlein war.
»Sie dürfen das nicht glauben.«
»Ja, wir sind doch der Feind!«
»Ah, wenn Sie ätten gehört, was ich abe gesagt Gutes von Sie. Und dann sagen die anderen, man ist keine gute Französin. Und ich liebe meine patrie. Aber ich darf doch gerecht sein. Was aben wir ier? Die vielen, vielen Wochen, ja Monate, die Sie nun schon: sind ier. Nichts als Sie. Und Sie sind gut. Sie tun Böses niemand. Man möchte Sie danken und verehren. Und Sie sind der Feind. Verstehen Sie nicht, was da passiert in ein französischer Erz. Es at mir weh getan, daß man mir nicht at geglaubt, daß Sie nicht sind schlecht. Und ich bin wiedergekommen, wie in meine Eimat ier. Nicht wahr, es ist meine Eimat? Ich bin geboren ier. Ich war nicht glücklich in Beaucourt. Ich war nicht glücklich in Paris. Ich bin nicht femme du monde, wie Sie denken. Und wenn ich auch noble bin, ich bin nichts als eine petite bourgeoise und viel glücklicher still ier, als draußen in der Welt, wenn ich muß sehen, daß mein Mann alle liebt und nicht mich. Für mich kann der Krieg dauern das ganze Leben. Und er ist doch schrecklich für uns. Aber ich abe immer Angst, Sie gehen fort.«
Sie hielten einander noch die Hände. Er sagte nachdenklich:
»Aber für Sie wäre es doch besser, wir wären nicht hier.«
»Ja, wenn Sie schlecht mit mich sind!«
»Bin ich das gewesen?«
Sie sprachen kein Wort mehr. Er fühlte ihre kalten Hände, und tief in Gedanken streichelte er sie. Nach einer Weile sagte sie:
»Ich bin ganz allein.«
Und er:
»Ich auch.«
Seine Hände glitten die kühlen Arme hinauf in die weiten Ärmel ihres Schlafrockes, und den weibentwöhnten, frauenfremd gewordenen Soldaten dieses Krieges durchrieselte ein jähes Erwachen des Mannes. Er legte, indem sein Kinn auf ihrer Schulter ruhte, die Wange an die ihre. Da schlang sie ihm beide Arme um den Hals.
In dem Augenblick klopfte es kurz, zugleich öffnete sich die Tür. Die beiden Menschen ließen von einander. Madame de Beaucourt versank wieder in den Schatten neben dem Kamin. Baron de Battaignies blendete das helle Feuer, daß er die Hand vor die Augen hielt. Er fragte, ob Laetitia da sei, dann überschüttete er seine Tochter mit einem Redeschwall: Man wäre sehr artig gegen ihn gewesen, man hätte ihn beschützt wie ein kleines Kind, diese Herren wären alle aus guter Familie, sie hätten ihm zu essen gegeben – na, die litten nicht Hunger – und eine französische Zeitung hätte er sogar zu lesen bekommen. Erst als seine Augen sich an das halbe Licht gewöhnt hatten, sah er den Major. Laetitia erzählte, Herr von Esserte sei so liebenswürdig gewesen, ihr eben zu melden, die Herren hätten Ralinghien, das Dorf, verlassen. Der Major nahm all sein Französisch zusammen, den Baron zu fragen, wie sein Tag. verlaufen sei. Mit von der Luft gerötetem Gesicht warf der einen Schwall von Worten aus, gleich einem Menschen, der aus dumpfer Eintönigkeit das erstemal wieder ein Erlebnis hat, und nun jede Kleinigkeit mitteilen möchte, die ihm widerfahren ist. Aber der Generalstabsoffizier küßte Madame de Beaucourt die Fingerspitzen. Der alte Patriot schien zu vergessen, daß er sonst immer nur feierlich den Hut lüftete und schüttelte dem deutschen Offizier freundschaftlich die Hand.
Dann ließ er sich am Feuer neben seiner Tochter nieder und sprach flüsternd davon, was er im » homme enchainé« gelesen. Claire, die des Vaters Kommen gehört hatte, trat ein. Sie brachte ihm die durchgeschmuggelten Zeitungen mit. Aber der alte Patriot erklärte, noch ganz im Banne der Artigkeiten, die man ihm erwiesen, es sei nicht recht, das Entgegenkommen der Herren so zu mißbrauchen. Damit wollte er die Blätter ins Kaminfeuer werfen. Doch wie Claire überwand ihn Menschliches, und er hielt inne mitten im Schwung, denn das mit Opendaele müsse er doch selbst lesen. Damit hatte es jedoch Zeit, denn immer wieder kehrten seine Erzählungen zu dem Feuer zurück, das aus dem Dorfe gelegen. Er sprach davon und wie man sich schütze dagegen. Die Herren hätten ihn im Unterstand behalten, daß ihm nur ja nichts geschehe. Auch der Brigadekommandeur sei sehr artig gewesen, wiewohl das in Wirklichkeit dem General von Flurschütz nicht ähnlich sah. Offenbar hatte ihm sein gallisches Temperament einen Streich gespielt, das immer geneigt war, für Huldigung zu nehmen, was im Grunde nichts als Zuvorkommenheit war. Der Papa hatte den alten Vandamme besucht, dessen Haus kaum gelitten habe. Die mère Coelestine sei unversehrt und bester Laune. Henri Verbeke, der Fleischer, habe natürlich sehr über seine Notlage geklagt, aber wie sollte man jetzt verdienen? Den Staes, den Dubruc, dem père Groche ginge es nach Möglichkeit. Sie lebten zwar zum Teil in den Kellern, schliefen aber nur dort. Mit den Deutschen kämen sie sehr gut aus. Mère Coelestine bekäme sogar ihr Essen von den Barbaren. Dann nannte er ein paar Einwohner, die im Laufe der Monate durch englische Geschosse getötet worden waren. Aber das hatten sie ebenso schon gehört, wie jenes: Daß der Stabsarzt die junge Frau Delassus umsonst entbunden habe und zwei verwundete Frauen täglich verbände. Man habe drüben im Dorf nur eine Angst, sie könnten evacués werden, und der Maire, sein Widersacher, habe ihn gebeten, bei Exzellenz ein gutes Wort dagegen einzulegen. Keiner wollte sein Heim verlassen. Wo sollten sie denn auch hin? Zum Schluß begann Baron de Battaignies die Häuser aufzuzählen, die gelitten hatten, und was an ihnen zerstört sei. Auch die Kirche hatte er besucht. Dabei verweilte er am längsten. Als er berichtete, die Deutschen hätten den Turm gesprengt, nannte das Claire einen Vandalismus. Doch ihr Vater schien damit einverstanden, denn nun sähen die Engländer kein sicheres Ziel, indem ihnen der Turmhelm fehle, der bisher über die Bodenwelle hinausgeschaut, die Ralinghien von Belvoorde trennte. Der eigentliche Grund seines Einverständnisses kam damit zum Vorschein: Eben dadurch waren wahrscheinlich die Ferme und die beiden Höfe, die ihm gehörten, bisher unversehrt geblieben. Atemlos hatten sie gelauscht, nun richteten sie sich aus der gebückten Haltung auf, denn die drei hatten die Köpfe zusammengesteckt, daß man draußen nichts höre. Jetzt erst dachte man daran, Licht zu machen. Es war auch Essenszeit, aber der Papa erklärte, er könne nicht einen Bissen annehmen, und erzählte nun Mordsgeschichten, was ihm der Offizier alles vorgesetzt hatte. Er übertrieb bald in gallischer Heiterkeit, und wie erst das Licht auf dem Kamin brannte, sah man seine Augen leuchten, diese Augen, die endlich einmal nach so langem Entbehren etwas anderes gesehen hatten, als den Hof in Flandern. Noch in der erhöhten Stimmung nahm er seine jüngste Tochter bei den Armen, und da ihre gesteigerte Frische ihm auffiel, setzte er Claire sein Staunen auseinander, wie gut Laetitia aussehe, indem er beglückt rief:
» Elle a bonne mine, hein!«