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Der Divisionsstab mußte fort aus dem Hof in Flandern, denn am Abend zur gleichen Stunde schmetterten wieder Granaten, und nicht allein leichtere Kaliber, nein, auch ein paar 15er waren dabei. Schrapnells zerfetzten die Äste, verwüsteten die Büsche, sogar die Fernsprechleitung riß ab. Am nächsten Morgen ritt Generalleutnant Greger mit Major Rennhöfer fort, um La Grenouillère zu besehen. Die alten Ulmen waren derart zersplittert über den Weg gestürzt, daß sie ausbiegen mußten auf die Wiesenfläche im Park. Dort lag Trichter an Trichter, und nun schien es gewiß, daß der Gegner planmäßig nach der Karte die einzelnen Ortschaften und Höfe belegte, um Stäbe und Leute daraus zu vertreiben. Auf der Straße nach La Grenouillère nahmen die Granatspuren mehr und mehr ab. Dies Gelände weiter rückwärts kam mählich aus der Reichweite der Feldgeschütze. Der General befahl seinem Adjutanten, sämtliche Franzosen in Ralinghien auf das aufmerksam zu machen, was ihnen vielleicht bevorstünde und die nötigen Ausweise auszustellen, um den Hof zu verlassen. Wer etwa doch bliebe, täte es auf eigene Gefahr. Spionagemöglichkeit lag ja nicht vor und Platz war nun um so mehr, als jetzt in den geräumigen Kellern nur noch der Gefechtsstand der Division blieb.
Die ewigen schiefgewehten, vierfachen Ulmenalleen der Gegend führten zum Schloß, dessen Anlage weit großartiger schien, mit ausgedehnten Wiesenflächen, als der Hof des Barons de Battaignies. Kalksteinfiguren standen in den jetzt schwarzkahlen Laubnischen der Hecken. In einem Riesenwasserbecken, steingefaßt, spiegelte sich das Schloß, englischem Cottagestil genähert, mit seinen weiß gefugten roten Ziegeln. Rundum lief ein Wassergraben, von dem Kanäle ausstrahlten, um sich in der Ferne in Durchblicken zu verlieren. Zum Haupteingang führte über das dunkle Gewässer eine Brücke, mit allerlei bewegten Gestalten verziert, zu geometrischen Anlagen, Teppichbeeten, Laubgängen, Terrassen und Gartenspielereien. Und der General, der während des Bewegungskrieges in keinem Bett geschlafen, der unbeirrt durch schweres Feuer ging, aber doch Sinn auch für das Ausbreiten in großem Hause und die Annehmlichkeiten des Lebens hatte, sagte erfreut:
»Ah, das läßt sich sehen!«
Im Innern herrschte wilde Emporkömmlingspracht. Man hatte sich nicht genug tun können an Schmuck und Stuck, an Bildern in schweren Rahmen, wertvoller als die Leinwand, die sie umspannten. Neben guten Stücken, wie sie entweder der Zufall oder beratender Freundesgeschmack herbeigeführt, machte sich grausigster Kitsch breit, furchtbarste Dutzendware, Jahrmarktströdel. Eine Bronze von Rodin hatte für den Besitzer offenbar den gleichen Wert wie eine tausendmal abgegossene, verwaschene, süßliche Badende, deren Schwimmanzug den Anstand wahren sollte, während er in Wirklichkeit die Gestalt unterhalb der Kunst rückte. Ein paar Zimmer standen leer; die Möbel waren vielleicht in der Not des Krieges verschleppt, um leere Quartiere bewohnbar zu machen. Ein Bursche, eben beim Stiefelreinigen, nannte die Munitionskolonne, die hier lag. Auf den Stimmenlärm öffnete sich eine Tür, ein weißer Kopf sah heraus:
»Ah Verzeihung, Exzellenz!«
Der mit dem Grauhaar zog die Halsbinde zurecht und schloß die Knöpfe seines Waffenrockes. Der Kolonnenführer entpuppte sich als Oberhofcharge, die sich, seit langen Jahren außer Dienst, bei der Mobilmachung zur Verfügung gestellt hatte. Er schien wenig davon erbaut, fortzumüssen. Der alte Herr – im Zivilverhältnis auch Exzellenz – war ziemlich brummig, doch die vornehme Liebenswürdigkeit des Divisionskommandeurs gewann ihn:
»Wir können sehr dankbar sein, daß grade Sie hier waren Denn ich sehe, es ist alles gut gehalten.«
»Na, Exzellenz, das ist eigentlich selbstverständlich, wenn man, wie ich, eine Anzahl Schlösser zu verwalten hat. Hier ist übrigens ein fürchterlicher Geschmack. Da sind wir bei uns freilich andere Sachen gewöhnt. Gott, nicht wahr, Exzellenz, die alte Kultur eines Herrscherhauses! Diese Leute müßten erst mal ein paar Generationen Geld gehabt haben!«
Dann ging er herum, erläuterte die Stile und bewies, wie die Meister, die sich zufällig herverirrt hatten, sich schämen müßten in gewisser Gesellschaft. Im Speisesaal klopfte er an gewaltige Marmorsäulen. Sie klangen hohl:
»Gips, Stuck, Schwindel, wie fünf Sechstel in diesem verfluchten Lande! Und das will den ›Fortschritt durch die Welt tragen‹, den ›Geschmacksstempel den Völkern aufdrücken‹, an der ›Spitze der Zivilisation marschieren‹. Lachhaft!«
Der Divisionskommandeur verabschiedete sich:
»Es tut mir leid, aber das sind die Notwendigkeiten des Krieges. Wir sind ein großer Stab, müssen ruhig arbeiten können! Nicht wahr, Exzellenz?«
Der Oberzeremonienmeister nahm eine militärische Haltung an:
»Bitte Exzellenz, ich bin hier Rittmeister.«
»Na, Sie werden wohl bald die geflochtenen Achselstücke bekommen.«
Doch der alte Rittmeister z. D. antwortete:
»Darauf gehe ich nicht aus. Jeder muß seine Pflicht fürs Vaterland tun. Und für meine Munitionskolonne auch noch Major werden? Nee!«
Die Herren ritten davon. Dann wurden Drähte gespannt und das Château de la Grenouillère erwachte zu neuem Leben. Seine Exzellenz, der Herr Ritt- und Oberzeremonien-Meister, wanderte mit seinen braven Leuten aus. Die Ordonnanzen, die Burschen kehrten, fegten. Major Rennhöfer verteilte in seiner weiteren Eigenschaft neben dem Großindustriellen, als Hotelleiter, die Betten auf die Zimmer. Wie jeder Museumsdirektor, wenn er in seine Stellung kommt, alsbald ans Umhängen der Bilder geht, die seine Vorgänger umgehängt haben und seine Nachfolger wieder umhängen werden, so ließ er nur Falguière, Puvis de Chavannes oder Rochegrosse an ihrem Platz. Die geringeren Götter verbannte er wie in einem Museum in verschlossene Kellerräume.
Als die Einrichtung von La Grenouillère beendet war, machte ein ausgiebiger Abendsegen auf den Hof in Flandern den Abschied leicht. In einer Feuerpause zog man um. Die Pferde, die Autos waren schon fort, der Kriegsgerichtsrat, der Generaloberarzt mit allem was ihnen anhing, hatten am Tage vorher das Feld geräumt. Der Generalleutnant stellte Baron de Battaignies noch einmal vor, es würde besser sein, sie gingen; doch der kleine Patriot verbeugte sich in seiner höflichen Weise:
»Exzellenz, angesichts des Unglücks meines Vaterlandes hänge ich nicht am Leben. Ich bin auf diesem Boden geboren, ich habe hier sterben wollen. Ob dies bei meinem Alter nun früher oder später geschieht, daran ist nichts verloren. Wenn Sie die Güte haben wollen, da Sie Herr sind durch das Gesetz des Krieges, mich hier zu lassen, so würde ich das mit Dankbarkeit anerkennen.«
»Aber die Damen?«
Madame de Beaucourt deutete auf ihre Schwester und sagte deutsch:
»Wo sollten wir hin? Unser Platz ist an der Seite unseres Vaters.«
Am anderen Morgen wurden die Mädchen abgeschoben. Jeanne sagte zu Madame de Beaucourt: Wenn sie derartiges geahnt hätte, würde sie schon in Paris gekündigt haben. Die junge Frau schwieg. Daß Henriette Germallevoit geborene Avoine zu ihrer Schwägerin zog, schien begreiflich. Gekocht hatte sie doch nicht mehr. Auch die drei Mägde wurden verabschiedet. Eine einzige blieb: Nicolette, das kleine Aas, übrigens ganz im stillen neuerdings Unteroffizier Rosenthal weiland Rayonchef zugetan, der als Telephonist hier blieb und so seine Sehnsucht nach Kampf und Feuer einigermaßen erfüllt sah. Das Küchenmädchen kam zu ungeahnten Ehren. Der Baron hielt ihr eine kleine Rede, und wenn sie auch nicht grade wieder die Marseillaise anstimmte, denn dies wäre jetzt zu gefährlich gewesen, so antwortete sie doch, sie würde ausharren mit ihrer Herrschaft und »wenn in den Lüften Granaten platzten« und wenn »schwere Schrapnells auch den letzten Stein vom alten Hofe schlügen«, bis die Boches vertrieben wären, diese Boches, die ihr Ekel einflößten, sie nur zu sehen. Als ihr aber Claire vorschlug, mit bei ihnen zu schlafen, wurde sie unruhig und erklärte, das schicke sich nicht für eine Dienerin, sie wolle drüben bleiben. Claire fand es bedenklich, daß sie dann mit den Deutschen ganz allein sei, aber da flammte die tapfere Kleine auf in schönem Patriotismus und hob die Hand: »Es solle nur mal einer kommen.« Und Claire, die jetzt immer einherging wie lauschend, ob nicht die Ihren endlich anrückten, drückte dem treuen Mädchen einen Weihekuß auf die Stirn.
Die Franzosen kamen nicht, die Engländer kamen nicht. Sie schickten nur ihre Grüße herüber, die den Park zerfetzten. Sie hatten nun auch den Neubau in Trümmer gelegt, die Scheune eingeebnet. Das Glashaus lag am Boden mit verbogenen Eisenteilen. Eine der herrlichen Ulmen nach der anderen ging dahin. Sie sanken übereinander wie Soldaten in schwerem Feuer. Baron de Battaignies und seine Töchter aber saßen unter dem Trümmerhaufen, denn anderes war der Hof in Flandern nicht mehr, der sie deckte, und begriffen nun, was Major Rennhöfer gesagt: Je mehr Schutt darüberläge, desto sicherer wäre es darunter.
Darüber gingen die Tage hin. Und nun kam der Frühling wirklich in das französisch-flandrische Land. In den kahlen Gräben begann es zu sprossen, vom Lehm verschüttete Pflänzlein streckten ängstlich den Kopf heraus. Auf den Gräbern verloren Buchs und Lebensbäume mählich ihre häßlich tote Winterfarbe. Frühlingsstürme brausten über das schweigende Feld, Hagel peitschte nieder. Dann wurde es am Tage so warm, daß die Feldgrauen in den Gräben ihre Wolljacken auszogen, und man bald keinen Mantel mehr sah. Nur beim Regen schritten welche hin in den durchsichtigen gelben, grünlichen Regenhäuten, unter denen sich wie unter gläserner Glocke der Körper abzeichnete. Abteilungen, die hinausmarschierten, Ablösungen, Reserven, wurden bisweilen vom Wolkenbruch überrascht, dann klappten sie die grauen Rockkragen hoch, wer eine Zeltbahn hatte, hing sie um. In den Gräben stieg das Wasser. Die Pumpen arbeiteten, und in Ableitungskanälen, die der eiserne Fleiß deutscher Soldaten den Winter über ausgeworfen, strömten die Wasser ab. Ja, Arbeit gab es überall. Auf den Straßen wurden die Granattrichter ausgefüllt. Die Fernsprechleitungen sicherte man in der Erde. Vorn lagen die in den Gräben auf der Wacht. In den Reservestellungen schlief man am Tage zu nächtlichem Leben, denn dann gingen die Essenholer vor, die Wasserbringer, die Munitionsschlepper. Drahthindernisse wurden vorgetragen, zerschossene Stellungen neu ausgebaut. Hinten in den Ruhestellungen benutzte man die karge Zeit der Rast, um Bataillonsschule zu üben, zerrissene Uniformen zu flicken, Knöpfe anzunähen, die Stiefel zu besohlen. In Bobines und wie die Ortschaften hießen hinter dem eisernen Gürtel der Front, vor Feldgeschützen sicher, den schweren Kalibern halb entzogen, sammelten sie nachts neue Kräfte. Im Bett genossen sie das längst entwöhnte Glück, sich einmal der Kleider zu entladen, von den Stiefeln entlastet zu sein. Und immer jetzt schien der Durchbruchsversuch dunkel zu drohen. Das Artilleriefeuer ging unerbittlich weiter reihum. Man wußte beinahe, wann man daran kam. Ganze Tage gab es jetzt, wo der alte Hof in Flandern Schonzeit genoß, dann aber, wenn die Stunde gekommen schien, spritzten wieder die Schrapnelle, rasselten, krachten, schmetterten, donnerten von neuem die Granaten. Über den Kellern hatten sich immer höhere Schutthaufen getürmt. Kaum mehr menschlicher Wohnung glich die Ferme, allein noch die Brandmauer stand und Christus schritt noch auf den Fluten. Täglich ward das Wunder neu: Nur der Rahmen bekam ein paar Splitter, die Gestalt des Heilandes aber blieb unverletzt. Der Raum zwischen Sandsackmauern und Kellerluken war jetzt mit Schutt gefüllt, so daß kein Licht mehr einfallen konnte. Kerzen, Lampen mußten brennen, von den Deutschen gestellt. Von ihnen auch bekam die Familie, die jetzt dort unten als Höhlenmenschen hauste, Vorräte. Mit dem Geringsten begnügten sich diese Leute, die gewiß einst guten französischen Tisch geführt. In Claires fleischlosem Antlitz, daraus die Nase jetzt scharf hervortrat, standen große Augen, in einem Feuer leuchtend, jenseits dieser Welt. Der alte Patriot hatte sich den Bart wachsen lassen, daß die Fliege mit den struppigen weißen Borsten zusammenging. Der Pelz, den er trotz wärmerer Tage nicht mehr ließ, hatte sich in bleibenden Flecken dem Rot der zerschmetterten Ziegel, dem Grau des Kalkstaubes, der umherflog, angepaßt, wie die Feldgrauen der Landschaft. Baron de Battaignies duldete, fast in beginnender Verwirrung, nicht, daß er gebürstet wurde, obwohl Major Rennhöfer ihm einen der Leute zugeteilt hatte, der das Essen brachte und den Keller reinigen sollte. Der Mann tat es gern, bekam er doch so reichlich bezahlt, daß auch die anderen sich dazu drängten.
Wenn der Hof nicht unter Feuer lag, ging der Baron mit seinen Töchtern im Park spazieren. Oft saßen sie stundenlang in dem Aussichtstempel, brüteten über ihr Schicksal, sprachen kaum ein Wort. Sie blickten nach Westen. Claire inbrünstig in dem Gedanken, die Erlöser würden kommen. Der alte Patriot hatte solche Träume längst begraben. Einmal sagte er zu Major Rennhöfer, er habe keine Hoffnung mehr, die Deutschen wären zu stark, zu gewaltig an Zahl. Als dann der Major ihm auseinandersetzte, die Entente hätte ja gerade auf ihre Übermacht gepocht, auf Rußlands unendliche Menschenzahl, Englands unerschöpfliche Hilfsmittel, und Frankreich sich deswegen doch mit ihnen vereinigt, so schüttelte er den Kopf: Gewiß, aber es fehle das System. Die Regierung sei schuld. Bei einem Volke, das Gott abgesetzt, könne der Sieg nicht sein. Dabei schlug er das Kreuz:
» In hoc signo vinces!«
Doch die Stimmungen wechselten. War es stiller an der Front, so glühten matter Claires Augen, wurde der engere Abschnitt stärker belegt, dann schien ihre Hoffnung zu steigen: Ihnen war das Krachen über ihren Köpfen nichts als die Musik der kommenden Erlösung. Baron de Battaignies störten die Granaten nicht: Wenn des Gegners Streufeuer wieder einmal den alten Hof streifte, so schritt er wie ein Engel durchs Gefild. Rennhöfer erzählte es eines Tages Major von Esserte, als er ihm die Mitteilung auf den Gefechtsstand gebracht, der Generalleutnant würde gleich kommen:
»Weißt du, Esserte, was ich glaube? Ich glaube wirklich, der alte Patriot ist nicht mehr ganz heil. Ich habe ihn gewarnt, im Granatfeuer so harmlos spazieren zu gehen. Da behauptete er: Granaten könnten ihm nichts anhaben, sie rasierten nur seine alten Bäume. Da müßten ihn denn doch Schrapnells ebensowenig berühren. Aber nein, sobald sich nur ein paar Wölkchen zeigen, blickt er mißtrauisch zum Himmel. Und wenn sie so hoch sind, daß sie nichts tun können, geht er trotzdem in den Keller. Er sagt: ›Schrapnells mag ich nicht‹.«
Major von Esserte ließ es sich ruhig erzählen. Er wußte es genau, sprach er doch täglich mit Laetitia. Manchmal begrüßten sie sich nur von weitem, wenn sie mit Vater und Schwester ging. Bisweilen aber trafen sie sich im Gang des Kellers, wechselten aber auch dort nur ein paar Worte. –
Herr von Esserte hatte über alledem Oberleutnant von Bißwang nicht besuchen können. Der Kürassier war noch immer im Lazarett. Der Chefarzt hatte ihn nicht zurückgeschickt, da seine Heilung in der Tat erstaunliche Fortschritte machte. Die Wunde war vernarbt, nur blieb eine so starke Behinderung in der Bewegungsfähigkeit des Armes, daß er allein keinen Rock anziehen konnte, ja nicht einmal mit der rechten Hand zu schreiben vermochte. Bisher hatte es der Kürassier nicht glauben wollen, daß er jetzt doch zurück müßte, und es war komisch gewesen zusehen, welche verzweifelte Mühe er sich gab, mit dem Arm, der nicht gehorchen wollte, Übungen anzustellen. Zur blonden Schwester sagte er: »Durch das verfluchte Sperrfeuer haben sie offenbar die Leitung im Annäherungsgraben durchschossen. Nun kommen die Befehle nicht vor. Der Kommandierende strengt sich an, den Fingern mitzuteilen, daß sie sich krümmen sollen. Aber die stecken vom in ihrem Unterstand und hören nichts. Nun habe ich den verfluchten Krempel satt. Ich seh' es ein, ich bin ein eigensinniger Hornochse, ich hätte längst nach Haus gemußt. Denken Sie, Schwester, daß ich jetzt eine wahnsinnige Sehnsucht habe, heimzukommen? Wenn man nichts nützen kann? Und hier bei euch im Lazarett ist eben nischt los. Hier sollte mal wenigstens 'ne Fliegerbombe reinbumsen.«
Sie legte die kleinen Arbeitsfinger, verdorben von all dem Waschen, Putzen und Pflegen an die rosa Öhrchen:
»Aber Herr von Bißwang, sagen Sie doch nicht solche Sachen.«
Da war denn, gerade an dem frühen Morgen, als nun endlich Major von Esserte kam, die Abreise festgesetzt, und er traf General von Flurschütz, der es sich nicht hatte nehmen lassen, seinen lieben Bißwang selbst nach Lille zum Bahnhof zu fahren. Der Generalstabsoffizier konnte, während der Brigadekommandeur in eigener Person darüber wachte, daß Bißwangs Sachen auf den Kraftwagen geladen wurden, den Kürassier noch einen Augenblick sprechen, und er, der in seines Herzens Verschlossenheit nie getan hatte, als wüßte er von seiner Schwester Beziehungen zu Harry Bißwang, sagte, als sei das ganz selbstverständlich:
»Und grüßen Sie Stine. Sagen Sie ihr, nach dem Kriege solle sie sich ja nicht ihr Glück verkümmern lassen. Sie wissen, mein Vater ist alt. Er sitzt allein in Esserte und will Stine nicht hergeben. Aber zu jedem kommt das Glück nur einmal, und wenn sie jetzt etwa wartet, dann sind ihre besten Jahre vertan. Halten Sie zusammen, Sie beide. Eines lehrt einen dieser Krieg, in dem alles ganz anders geworden ist, daß man weichliche Rücksichten nicht mehr kennt. Das wollte ich Ihnen nur schnell noch sagen, Bißwang. Und dann,« er sah ihn lächelnd an: »geben Sie meiner Schwester einen Kuß von mir. Auch ich hätte manches erlebt, das einem einen Stoß gibt. Jetzt wollen wir runtergehen, der General wartet!«
Die beiden drückten sich fest die Hand, dann gingen sie hinab, der Kürassier den Arm in der Binde. Unten flüsterte die Schwester ihm zu, ehe er einstieg:
»Ich lasse sie herzlich grüßen.«
Denn er hatte nicht mehr heimlich geschrieben, sondern die blonde Schwester hatte ihm die Briefe besorgt. Bißwang winkte noch mit der gesunden Hand. Major von Esserte grüßte mit der Dienstlichkeit, die immer in ihm war, die golddurchflochtenen Achselstücke des Generals. Sie fuhren langsam wegen der Stöße des Wagens den gleichen Weg, den einst die Schwestern Battaignies nach Lille zurückgelegt hatten. General von Flurschütz erzählte von draußen, und dem Kürassier wurde trotz allem das Herz schwer. Er ließ Hauptmann Hasenclever grüßen. Der General vertraute ihm an, mit seinem Nachfolger, einem Ulan, könne er keine rechte Fühlung gewinnen:
»Er sagt zu allem zu Befehl, zu Befehl, zu Befehl! Den Deubel ooch, wenn er nur einmal was rauskolkte, das ans Kriegsgericht streift, wie das bei einem Ordonnanzoffizier war, den ich mal in diesem Kriege gehabt habe. Mal! Mal! Na, ich wollte, es ginge nun mal wieder los!«
»Man sprach im Lazarett davon, Herr General!« antwortete Bißwang.
General von Flurschütz lehnte sich an das Ohr des Kürassiers und erzählte ihm seine Gedanken, leise, denn die beiden vorn: Fahrer und Ordonnanz brauchten es nicht zu hören, war es doch nicht gerade das, was sie beim Korps, noch jenes, was sie bei der Division dachten. Als nun der Oberleutnant, der nichts wußte als Lazarett- und Etappengerüchte, lebhaft widersprach, leuchteten die Flurschütz-Augen, und bald redeten die beiden so scharf und so laut, daß die Leute vorn doch jedes Wort verstehen konnten. Aber als in der Aufregung bei einer Kurve der kleine General dem Kürassier auf die verletzte Schulter fiel und der trotz allen Verbeißens das wildentstellte Gesicht verzog, war die Freundschaft wieder hergestellt. Der General winkte vom Bahnsteig noch lange dem Davonfahrenden nach.
Dem Kürassier war es, als verließe er seine Heimat: Die Armee, das Feld. Trotz der Freude des Wiedersehens mit jener, die seine Frau werden sollte, fühlte er sich bitter gestimmt, daß er verwundet sein mußte und nicht draußen sein konnte, wo die deutschen Männer vor dem Feinde standen. Als die hohe Glashalle des Liller Nordbahnhofes, in die es hineinregnete durch das von Bombenwurf und Splittern zerstörte Glasdach, hinter ihm verschwand, machte er wütende Versuche, die Rechte grüßend in die Höh' zu bringen. Es mußte doch gehen! War nicht der Wille alles auf dieser Welt? Er war immer mit dem Kopf durch die Wand gegangen, er, ein Kerl, einer, dem die Nervenbündel, die Ästheten der Friedenszeit, die intellektuellen Jammerkripse ein Greuel gewesen waren. Und er wollte den Arm mit dem Willen zwingen: es ging nicht. So warf er sich auf das Polster des belgischen Wagens, und die rückschnellenden Federn hoben ihn zur Seite, daß er anstieß mit dem Arm, diesem hilflosen, verfluchten Arm. Er saß in der Ecke und allmählich wandelte sich, wie bei Laternenbildern, die Gestalt seines kleinen Generals. Die harten Züge verschwammen. Stine Esserte stand vor seinen Sinnen. Er malte sich aus, wie sie ihn empfangen würde in Köln auf dem Bahnsteig, denn dorthin hatte er sie bestellt. Im Lazarett hatte er hundertmal die Züge überlegt und nun bangte er, sie könnte etwa durch irgend einen ungleichen Zufall seinen Brief nicht erhalten haben. Sie kam herüber von Hannover – ihnen ganz selbstverständlich, während ihr Vater, hätte er es gewußt, noch viel weniger seinen Segen dazu gegeben haben würde als jetzt, wo ihn der wortkarge, gefühllose Selbstsüchtler nur zurückhielt, weil er die Tochter zur Gesellschaft brauchte. Als Stine als Schwester nach Hannover gegangen war, hatte er das als eine Fahnenflucht angesehen. Auch daß in diesen schweren Kriegszeiten jeder dem Vaterlande dienen müsse, verfing bei ihm nicht, denn ihn, eingesponnen seit zwanzig Jahren in Esserte, interessierte die Armee, und gar die preußische, längst nicht mehr.
Herr von Bißwang schloß die Augen. Er wollte erst wieder hinausblicken, wenn das ganze Operations- und Etappengebiet vorbei wäre. Und doch, allein noch auf den Krieg eingestellt, blinzelte er bei jedem Landsturmmann, der an einer Brücke stand. Als sie durch Bahnhöfe fuhren mit deutschen Beamten, deutschen Aufschriften, lehnte seine Stirn am Fenster. Als lachende Dörfer, friedliche Städte vorüberzogen, störte ihn förmlich all die Beschaulichkeit, und er freute sich über einen verlassenen Schützengraben oder doch einmal irgendwo einen Giebel, in den eine Granate ein Fenster gebrochen hatte. Es war ihm zu still, denn auch im Lazarett hörte man doch wenigstens fernes Rollen oder das Krachen der Abwehrkanonen, das Platzen der Schrapnelle droben am Himmel. Hier klang nur das Rattern der Räder auf den Schienenstößen. Die gleichmäßige Musik schläferte ihn ein. Als er aufwachte, weil der verfluchte Arm ihm wieder wehgetan, wußte er im ersten Augenblick nicht, wo er sich befand. Er stieß an irgend jemand. Einer bat um Entschuldigung. Das ganze Abteil war voll. Ihm gegenüber saß ein Oberleutnant mit dem Eisernen Kreuz I. Klasse. In seinem grauen Gesicht, verwittert und verwettert, wuchs ein schütterer wilder Bart. Der Waffenrock war abgetragen, die Vorstöße abgeschabt, in der Hose ein geflicktes Loch, die Gamaschen zerknickt, die breiten, dicken, ursprünglich gelben Stiefel schwarzbraun vom Lederfett. Er trug ein Seitengewehr mit dem Offiziersportepée und blickte immer zum Fenster hinaus. Als sie beim Beinwechseln sich noch einmal anstießen, blickte er den Kürassier mit seinen hellen Augen an:
»Pardon, ach so, das darf man ja nicht mehr sagen. Also entschuldigen Sie.«
Dann begann er ein Gespräch:
»Man verbauert ganz da draußen. Sehen Sie nur mal, die schönen Häuser da. Und die Bäume? Fängt ja wahrhaftig an, grün zu werden. Da die Büsche, man weiß gar nicht mehr, was es ist. Flieder, nee, oder Holunder? Wie einem die Farben wohltun. Sie sind verwundet? Gehts denn besser?«
»Danke sehr, nur der Arm ist noch nicht ganz in Ordnung!«
»Ich liege nun seit fünf Monaten im Graben. Nichts gesehen als Grau, Dreck, Wasser, Regen, Nebel. Nein dies Grün, wie einem das wohltut! Da die Damen, sind die angezogen! Das schöne Haar. Wenn man immer bloß die geschorenen Köppe sieht. Und mal was Weibliches!«
Er begeisterte sich, der Menschheit gleichsam entwöhnt, für eine etwas runde Dame in weißem Haar. Im nächsten Augenblick freute ihn der brennend rote Schlips eines übeln belgischen Bengels. So menschen- und farbenverdurstet war er geworden in seinem Graben, daß ihm die einfachsten Dinge auffielen, wie ein Kind, das noch nie gereist ist. Auch ein paar der anderen Herren nahmen an der Unterhaltung teil. Ein alter Hauptmann der Landwehr, mehr Professor als Soldat. Ein Leutnant, der wie Bißwang aus einem Lazarett in die Heimat entlassen war; nicht verwundet, aber von einem Nervenschock niedergeworfen. Er hatte bei Trommelfeuer in mehrfach verschüttetem Unterstand gelegen; sein Zug war durch eine Mine bis auf wenige Mann in die Luft geflogen; er hatte mehrmals mit angegriffen; er war erschöpft. Ein Stabsarzt, der, wie nun allmählich herauskam, auf den östlichen Kriegsschauplatz ging, erzählte es den anderen. Der Zug war gedrängt voll, und als man in Brüssel den Wagen wechseln mußte, war im neuen Abteil wieder jeder Platz besetzt. Ein Kapitänleutnant saß Oberleutnant von Bißwang gegenüber, glattrasiert, groß, blond, tadellos in seiner dunklen Uniform, mit Fliegerabzeichen und allerlei bunten Bändern – Zeppelinführer, wie man aus der Unterhaltung entnahm, die er mit einem Oberleutnant führte, einem uralten Herrn irgendwo von der Etappe oder der Verwaltung Belgiens. Wer sollte es wissen? Denn in diesem Zuge war alles vereint. Da saßen im Speisewagen: Gardeoffiziere an einem Tisch für sich, ein General mit seinem Stabe, der, wie man munkelte, irgendwo einen Gouveneurposten antrat; ein Kriegsberichterstatter, der einzige Zivilist unter all den Soldaten. Ein Johanniter- und ein Maltheser-Ritter in treuer Kameradschaft geleiteten ein paar Schwestern. Junge Offiziere aller Waffen, den Kopf geschoren, meist glattrasiert, groß, schlank, die weiche Feldmütze hinten heruntergezogen schräg auf dem Ohr, ein gleicher Typ, als habe ihn der Krieg geboren, aßen, tranken, machten sich bekannt, redeten vom Kriege, vom Kriege, vom Kriege. Zeitungen lasen einzelne, welche studierten die Karte beim Kaffee und der Zigarre. Sie zeigten den Kameraden ihre Stellungen oder, nach dem Osten bestimmt, ließen sie sich Ratschläge geben, von anderen, die schon einmal drüben gewesen waren.
Die Dämmerung sank herein, Lichter flammten aus. In Herbesthal an der deutschen Grenze wurde umgestiegen. Dort auf den Bahnsteigen warteten Feldgraue in vollem Gepäck, auf dem Wege zur Front: Jungmannschaft, daheim ausgebildet, die nun fertig gemacht werden sollte in den Ruhestellungen hinter der Front, sich anpassend an den Boden, auf dem sie kämpfen würden; erfahrene Kriegsleute, Männer, die den Tod gesehen, die vom Osten auf den anderen Kriegsschauplatz gingen. Sie alle drängten sich an Tischen, wo Mädchen und Frauen in Schürzen und hellen Hauben ihnen Getränke darboten und Speisen. Ein ganzes Volk, so Mann als Frau, im Dienste dieses Krieges.
Im Kölner Zuge hatte nun Oberleutnant von Bißwang die Kameraden abermals gewechselt. Jeder Offizier, der eintrat, grüßte, legte seine Sachen hin, setzte sich stumm in eine Ecke. Aber bald begann die Unterhaltung. Solche, die nun seit bald dreiviertel Jahren des Friedens entwöhnt waren, wunderten sich über Dinge, ihnen gänzlich fremd geworden. Man tauschte seine Meinung darüber aus, wie Engländer kämpften oder Franzosen; eine militärwissenschaftliche Beobachtung ohne Leidenschaft. Alle schienen in der Selbstverständlichkeit einig: wußte man auch nicht, wie lange dieser Krieg noch dauern würde, nur mit dem Siege konnte er enden. Das gab ihnen selbstsichere Ruhe, ein Gemeinsames, ob sie nun Reserve waren oder aktiv, ob Land-, ob Seeheer, ob Reiter, Fußtruppe oder schwarzer Kragen.
Friedlich lachte das deutsche Land. Wo waren die zerschossenen Häuser hin, wo die zerstörten Dörfer? Die Frühlingssonne strahlte hell über bestellten Feldern. Bißwang war es, als müsse er jetzt alle Frauen grüßen, waren sie doch Deutsche. Immer meinte er, Stine zu sehen, und jede Rote-Kreuz-Schwester blickte er an, ja in Aachen kam ihm der Gedanke, so unmöglich es schien: Sie könne ihm entgegengefahren sein. Längst vor Köln schon machte er sich bereit zum Aussteigen. Da er den Mantel nicht anziehen konnte bei seinem Verband, nahm er ihn auf den Arm. Endlich kamen die ersten Festungswerke: In den alten blauen Friedensuniformen standen da Soldaten. Sie machten Wendungen, Freiübungen, sie übten langsamen Schritt, genau wie einst. Hoher Stolz ließ das Herz des Verwundeten klopfen: Deutschland, Deutschland nahm kein Ende mit Macht und Menschen. Als der Zug langsam in die Halle einlief, sah er ein Gewimmel Suchender, Wartender. Welche winkten, andere rannten ein Stück dem gleitenden Zuge voraus. Der Kürassier wartete, bis das Abteil sich geleert hatte. Aber nirgends war Stine zu sehen, die große, die doch alle überragte. Hatte sie den Brief nicht erhalten? Ihm wurde ganz heiß. Da er den Burschen nicht mitgenommen hatte, trug er selbst auf dem linken Arm Mantel und Kartentasche. Handgepäck besaß er ja nicht. Langsam schritt er durch die schwirrende, wirrende, brodelnde Menge dem Ausgang zu. Da stand eine große blonde Schwester vor ihm, nicht viel kleiner als er selbst, und küßte sein verstümmeltes Gesicht. Sie prüfte die Binde, betastete, untersuchte. Aber sie sprach kein Wort. Er war wie voll süßen Weines, zu glücklich, um zu sprechen. Sie führte ihn, und unter dem Mantel, der über ihren Händen lag, preßte er ihr alle zwei Schritte die Finger. Endlich sagte er, unten in dem matterleuchteten Gang unter den Gleisen: »Ich hatte solche Angst, du könntest nicht da sein!«
Sie zeigte feste, blanke Zähne in dem nordisch-hellen nicht schönen Antlitz:
»Ich bin schon seit gestern da. Ich konnt's nicht aushalten.«
Er blickte ihr in das offene Gesicht, aus dessen klaren Augen es sprach, daß sie wußte, warum sie auf dieser Erde war, und sagte beglückt:
»Du siehst doch verflucht anders aus als die französischen Weiber!«
Sie lachte:
»Also hast du sie dir doch angesehen, Harry.«
»Natürlich! Ist nich vieldahinter. Rumschwenzeln, kleene Krabben. Nee, Stine, irre geworden bin ich nicht, kannst ganz ruhig sein. Das Kroppzeug hat ja ooch keene Seele. Gott Stine, was bist du groß und schön!«
Sie zeigte wieder ihre blanken Zähne. Als sie dann vor dem Dom standen, der vor ihnen wie ein Wunder in die Luft wuchs, fragte sie ihn, wie die Verwundung geschehen wäre.
»Das habe ich dir doch geschrieben!«
»Ja, aber genau will ich's wissen, genau.«
Er war einen Augenblick zerstreut. Zu dem Riesenwerk der Türme emporblickend, die in gedrungener Verkürzung in den Himmel strebten, meinte er:
»Komisch, der ist ja gar nicht kaputt.«
Als sie ihn fragend ansah, erklärte er:
»Ja, Kathedralen, Kirchtürme sind bei uns draußen grundsätzlich kaputt.«
Sie fing an zu lachen:
»Du bist doch noch genau wie früher. Und alle sagen, der Krieg ändert die Menschen.«
An der Stirnseite des Domes blickte er über den Platz, darauf Kraft- und Pferdewagen hielten, die Straßenbahn hin und her ging, buntgekleidete Menschen ein- und ausstiegen und zu den großen Toren des Gotteshauses langsam die Stufen hinaufschritten. Da sagte er:
»Es ist so still.«
Da nun Menschenstimmen surrten und in das Rasseln der Straßenbahnen fernes Rauschen klang drüben vom Bahnhof, meinte sie:
»Aber Harry, es ist doch Lärm genug?«
Er schüttelte den Kopf, mußte aber bald selber lachen:
»Stine, sie schießen nicht. Aber ich mache ja nur Scherz. Nein, mir kommt es nur so merkwürdig hier vor. Weißt du, ganz unwirklich. So kann's doch gar nicht sein.«
Sie fühlte eine Änderung in dem geliebten Menschen, aber wenn sie ihn im ersten Augenblick auch noch nicht verstand, so besaß sie doch jene Gabe, eine köstliche, die ihr sein Herz geneigt machte: Sie konnte schweigen. Stumm schritten sie zum Domhotel hinüber am Platz. Sie hatte ihm ein Zimmer bestellt mit der Selbstverständlichkeit ihres sicheren Wesens, das da sprach: ›Was ich tue, ist recht.‹ Während sie seine Sachen auspackte, trat er auf den kleinen Balkon hinaus, blickte sich um und rief ganz erregt:
»Stine, der Rhein! Da ist ja der Rhein!«
Sein Wasserspiegel lugte drüben über die Eisenbahn. Und er starrte hinaus, als hätte er Deutschland wieder entdeckt. Er umschlang sie mit dem linken gesunden Arm, und indem sie seinen Kopf von sich entfernt hielt, sah sie ihm in die Augen:
»Ich bin so glücklich, daß ich dich wiederhabe.«
Er hielt ihrem Blicke fast wie ein wenig verlegen stand:
»Auch ohne Nase?«
Ganz ehrlich erstaunt gab sie zurück: .
»Herrgott, ich wußte's ja, und ich habe nicht dran gedacht.«
Da verzerrte sich im Glück sein ängstliches, grausig entstelltes Gesicht. Sie strich ihm über die Narbe und betrachtete ihn nun genau:
»Es fehlt bloß ein Stück.«
Sie wollte ihm einen Kuß auf die narbig zusammengezogene Haut drücken, aber das litt er nicht. Und nun standen sie vor dem Spiegelschrank, verglichen, prüften, sie strich zurecht, und er fragte scherzend:
»Stine, nimmst du mich auch ohne Nase?«
Sie sah ihn an mit ihren klaren, lachenden, blauen Augen: »Harry, erstens ist noch zwei Drittel da, und zweitens habe ich dich nicht wegen deiner Nase gewählt.«
Sie setzten sich, und sie erzählte, wie sie sich schon alles hatte zeigen lassen, um seinen Arm behandeln zu können, nur wo? Denn sie habe sich auf Monate als Schwester verpflichtet und müsse nach Hannover zurückkehren. Darüber sprachen sie wie zwei Menschen, denen das Urteil der Welt zwar gleichgültig ist, die aber doch vernünftig sein wollen, es nicht herauszufordern. Sie sagte auch ruhig, indem sie ihn betastete, gleichsam, ob auch alles noch ganz wäre an ihm, seine Sprache habe sich etwas verändert. Und er mußte ihr vorsprechen. Sie meinte, das Schnarren brächten sie schon noch fort, sie würden Übungen zusammen machen. Es war wie einer, der das geliebte Wesen möglichst tadellos haben will, da doch für ein ganzes Leben von nun ab sein Fehler ihr Fehler war, und ihr Gebrechen sein Gebrechen. Darüber war Zeit verronnen und plötzlich sprang er auf:
»Stine, jetzt gehn wir essen. Ich habe blödsinnigen Hunger.«
Sie strich ihm über das Haar:
»Du, ich will mir bloß noch die Hände waschen. Dann treffen wir uns unten.«
Und ehe er sich's versehen, hatte sie ihn doch geküßt auf die Narbe, wo einst ein stolzer Nasenflügel gesessen. Dann trat das junge Mädchen aus dem Leutnantszimmer so selbstverständlich, als sei sie seine Frau, die sie im Herzen längst war, denn alles andere war ja nur ein Gleichnis vor den Menschen.
Er hatte im Speisesaal einen Tisch belegt. Nun wartete er im Flur des Hotels. Allerlei dunkle Zivilisten wimmelten umher, saßen hier, sprachen dort, tatenlos, als lauerten sie auf eine günstige Gelegenheit. Ein Herr vom Freiwilligen Automobilkorps grüßte, als ob sie sich kennten. Im ersten Augenblick wußte der Kürassier ihn nicht unterzubringen, dann fiel ihm ein: Der hatte ihn mal irgendwo gefahren. Da nun der andere zu zögern schien, sagte er:
»Wir kennen uns wohl? von Bißwang.«
Der Freiwillige Fahrer nannte seinen Namen und brachte den Tag in Erinnerung, wo man sich gesehen. Nach ein paar Worten fragte Oberleutnant von Bißwang, da es eigentlich keine rechten Berührungspunkte gab:
»Sagen Sie mal, wer sind eigentlich diese kleinen herumschleichenden Gesellen hier?«
Bei seinen ein Meter 94 war der Herr von Bißwang mit dem Worte ›klein‹ leicht bei der Hand. Der Andere, der schon zu verstehen gegeben, er sei nur wegen eines lahmen Fußes nicht aktiv im Feld, meinte verächtlich:
»Zwischenhändler. Bevölkern alle Hotels. Leben vom Kriege. Sollen Millionen verdienen. Die Hyänen des Schlachtfeldes, die Aasgeier des Völkerkrieges.«
Und der Kürassier, der nach all dem Glück und Jubel des Wiedersehens, nach all dem Harten, aber erhebend Großen des Feldes, noch nicht eingestellt schien auf die zu Haus, meinte:
»Ekelhaft! Wir lassen uns totschießen draußen und die Schweinebande macht Geschäftchen.«
Er hatte nicht eben leise gesprochen und einer der Kerle, der grade vorbeistrich, duckte sich förmlich. Mit einemmal war der Flur leer. Stine kam die Treppe herab, die große, blonde, der das kleine Volk nicht bis zur Brosche mit dem Roten Kreuz reichte. Herr von Bißwang ging ihr entgegen. Sie blieben miteinander stehen, wo die Theaterzettel angeschlagen waren, und er las voll Staunen, wie man sich vergnügte überall. Er machte ein finsteres Gesicht. Gewohnt Stine alles zu sagen, was ihn bedrängte, fing er davon an. Sie beruhigte ihn. Sie sprach von den Pflichten, aber auch von dem Schweren jener, die daheimgeblieben waren. Schauspieler, Musiker, Theaterarbeiter, alle müßten doch leben. Durch gute Stimmung solle auch Schwächeren daheim das Durchhalten erleichtert, die Geldkampfkraft gesichert bleiben. Sie redete warm, meinte aber gleich bescheiden, es sei nicht ganz ihre Weisheit: Die Ärzte im Lazarett hätten es gesagt. Seine Mißstimmung schien verflogen, und er blickte ihr ganz nahe ins Gesicht:
»Mein Stinchen weiß alles. Weißt du, was ich jetzt möchte?«
»Nun?« lächelte sie, und ihre Augen waren ihm so nahe, daß sie fast schielen mußte. Er sagte ernst und feierlich:
»Gnädiges Fräulein, jetzt möchte ich Euer Hochwohlgeboren vor allen Menschen hier einen Kuß geben.«
Sie lachte nur und zog ihn fort. Denn nun mußten sie doch endlich essen. Aber da wurde grade der Kriegsbericht der Obersten Heeresleitung angeschlagen. Sie traten heran, zwanglos Arm in Arm, und fingen an zu lesen. Plötzlich wandte er sich zu ihr:
»Was? Westlich von Bobines große Artilleriekämpfe?«
Und er sagte ganz träumerisch:
»Das ist bei uns. Und ich bin nicht dabei!«
Sie war nicht gekränkt:
»Wir werden dich gesund machen und dann kommst du wieder hinaus. Wenn ich ein Mann wäre, möchte ich auch nicht hier sein.«