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2

Erst als die Nacht völlig hereingebrochen war, konnten die Gefallenen zurückgebracht, die Verwundeten geborgen werden. Sie lagen, wo die Kugel sie gerade ereilt, denn der Weg aus der Tiefe der Gräben über den Hang stand unter Einsicht und feindlichem Feuer. Nun bewegten sich lange Züge durch das Dunkel. Sanitätsmannschaften, denen das rote Kreuz auf weißem Grunde von Kragen und Armen leuchtete, trugen auf Bahren regungslose Gestalten, den Kopf verbunden, den Arm in der Schlinge, hochgelegt das Bein. Ohne Tritt gingen sie dahin, um Wiegen, Pendeln, Stöße zu vermeiden. Am Auslauf der Annäherungswege hatten sie ihre kostbare Last deutscher Krieger aufgenommen, die bis dahin durch die engen, tiefgeschachteten Gräben, in Zeltbahnen gebettet, getragen worden waren. In rotbraunen Zeltbahnen auch brachte man die lange Reihe jener, die den stolzesten Tod erlitten, den Tod fürs Vaterland. Schweigend ließen die Kameraden sie vorüber. Manch junger Bursche warf einen scheuen Blick auf die leblosen Körper, die tief hinunter gesackt in der bergenden Leinwand lasteten, mit durchblutetem Tuche den Kopf verhüllt, während die Beine schlaff niederhingen. Friedlich schienen andere zu schlafen, daß keiner hätte sagen können: Lebte das wohl, das die Feldgrauen da an schnell abgehauener Stange trugen? Erst ein Lauschen gab Gewißheit. Ein junger Offizier nahm Stellung jedesmal, wenn ein Toter vorübergebracht wurde und grüßte die abgeschiedene Seele. Leute traten hinzu, wenn die Kämpfer einen niedergesetzt hatten, dann sprachen sie leise und schlugen wohl das verhüllende Tuch einen Augenblick zurück.

Das ganze Waldstück, das mit seinen Dickichten und Lichtungen den Höhenrücken überzog, lebte in nächtlich geschäftiger Bewegung. Immer begegneten einander Abteilungen, die zurückgingen, die vorkamen, denn jetzt erst begann Betrieb und Leben, die tagsüber, unter dem Auge des Gegners, hatten schweigen müssen. Fast ohne Unterbrechung ging die Kette. Wasserholer trotteten vorüber, beladen mit allerlei Gefäßen: in diesem Kalklande, wo die Nässe im Boden versickerte, mußte jeder Tropfen mehr als eine Stunde weit von hinten vorgeholt werden. Essenholer brachten in ganzen Ladungen von Kochgeschirren köstliche Fleischsuppe aus den Feldküchen, »Gulaschkanonen« von den Soldaten geheißen. Sie standen irgendwo hinter der Höhe verteilt, am Waldrande, dampften, brodelten, rauchten und wurden entleert, oft noch im Fahren.

Dann kamen Schatten durch den Wald mit allerlei Lasten: Balken, Bretter, Schanzzeug, Haken, um dem schwer zu bearbeitenden Gestein die Gräben abzuringen, denn bis zum Licht des Tages mußte ausgebessert werden. Hier hatten feindliche Granaten die Brustwehr zum Einsturz gebracht, da die Rückenwehr abgekämmt, dort einen Unterstand verschüttet. Zwei schleppten einen spanischen Reiter, einer trug eine Rolle Stacheldraht mit schräg geneigtem Kopf auf starker Schulter. Munitionskisten wurden nach vorne geschafft.

Schweigend begegneten einander die Leute. Der Rückschlag nach der Anspannung des abgewiesenen Sturmes, auch entbehrter Schlaf und Dunkelheit, verschlossen ihnen den Mund. Endlich ließ der Befehl, leise zu reden und aufzutreten, sie stumm dahinschleichen. Nur bisweilen blieben welche stehen in dem heimlich lebenden Walde, die ihre Last abgesetzt, einen Verwundeten, einen guten Freund getroffen hatten. Die tauschten dann flüsternd Gedanken.

Der Wunsch, Rache zu nehmen für die toten Kameraden, ließ Fäuste sich ballen, Augen leuchten. Sie lauerten auf jenen Befehl, der durch die Adern in stillem Harren das Blut treibt, junge Herzen stolz schlagen läßt, den Befehl: »Es wird angegriffen«. Bis jetzt war er nicht erfolgt. Ein Sergeant, der gern den Strategen spielte, stand unter einer dichten Kieferngruppe mit einem Gefreiten. Er führte eine Abteilung. Sie hatte schwere Lasten zu Boden gestellt. Der Schnauzbart erklärte, und dabei tippte er sich immer mit dem Mittelfinger der rechten Hand an die Stirn:

»Verrückt, verrückt müßten wir sein anzugreifen. Wat haben wir denn davon? Die Schufte sollen sich nur den Schädel einrennen. Habt ihr's jesehen, wieviel da vorn liegt? Soviel können die Hunde jar nicht neu aufbringen! Woher denn? Wo sollen sie's denn her kriegen? Sie können sich's doch nich aus den Rippen schneiden, wat? So wie die Eva jemacht ist. Einfach 'n Rippenstück! Als ob hier Rippenstücke nur so rum liefen! Und wat sollen wir denn mit der verfluchten Rippe machen, dem Arippe? Dem Lausenest? Dem Dreckhaufen? Haben wir wat davon? Sagt's euch mal selbst!«

Der Gefreite, der eine Stahlbrille trug und sehr langsam sprach, jedes Wort betonend, sagte:

»Ich glaube, es ist so: Unmittelbar hinter Aribes liegt der Wald. Der ist genau 3,8 Kilometer tief. Da müßten wir, nehmen wir Aribes, durchstoßen, denn unmittelbar vor dem Walde können wir nicht liegen bleiben!«

Aber der Sergeant schüttelte überlegen den Kopf:

»Wenn wir nur wollten, könnten wir überhaupt gleich durch bis Paris. Aufhalten, det is nu Blech. Nee, gleich weiter. Is ja nischt dabei. Wir nehmen einfach en paar dicke Berthas mit und denn is Paris in drei Tagen jewesen. Dagegen ist denn Arippe 's reine Offizierskasino. Die janze Jeschichte is nur: Det sint höhere Rücksichten. Wir wollen einfach nich. Laßt nur den Jeneralstab machen. Seid man janz ruhig, die verstehen die Jeschichte, die haben alles im Frieden längst studiert. Der janze Krieg lag schon fix und fertig da in Moltkes Schublade in der jroßen Bude in Berlin.«

Der Gefreite rückte mit dünnen schlanken Fingern an seiner Brille. Er schien nicht gerade einverstanden zu sein, wollte aber wohl nichts entgegnen, so sagte er nur gedämpft, indem er auf die Lichtung hinausblickte:

»Ja, der Generalstab!«

Plötzlich richtete er sich auf:

»Achtung. Ich glaube, da kommen gerade welche.«

Der Sergeant erhob den runden, kurz geschorenen Kopf auf dem breiten Stiernacken, daß der riesige Schnauzbart über den langen blonden Stoppeln seiner Wangen in die Luft stach. Er äugte mißvergnügt hinüber, den Arm in die Hüfte gestemmt, als wollte er sagen: ›Ach wat!‹ Doch als er noch einmal hinsah, nahm er plötzlich die Absätze zusammen:

»Wahrhaftigen Gott! Wenn man den Deubel an die Wand …«

Zwei Offiziere, breite verschiedenfarbige Streifen an den Beinkleidern, standen vor ihm: Major von Esserte, und ein schlanker Mann, der ihn um einen Kopf überragte. Sie trugen beide Feldmützen, das Stirnband grau überzogen und am Ledergurt den Armeerevolver. Der Divisionskommandeur Generalleutnant Greger blieb vor der Gruppe der Leute stehen. Gerade aufgerichtet in seiner ungewöhnlichen und schmalen Größe begann er mit ihnen zu sprechen, indem er sich dabei mit dem Reitstock spielend an die braunen Ledergamaschen klopfte. Er fragte nach dem Kampf des Tages, und in welchem Teil der Stellung jeder gewesen sei. Genaue Auskunft verlangte er über dienstliche Verwendung, wer Posten gestanden, oder wer etwa – durch einen Volltreffer waren die Fernsprechdrähte heute nachmittag eine Zeitlang abgerissen gewesen – Meldung zurückgebracht hatte. Er wollte wissen, ob die Grenadiere während des Trommelfeuers in einem Unterstand verborgen gesteckt oder, der Verschüttung und erhöhten Splitterwirkung ausweichend, etwa einfach auf der Grabensohle gehockt hätten. Jeden einzelnen fragte er nach Eindrücken und Wohlergehen, und seine Art war ungemein freundlich, dabei derb, wie es den Leuten gefiel, teilnehmend menschlich zugleich. Dem Sergeant drückte er seine Bewunderung über den Riesenbart aus, so daß der vor geschmeicheltem Stolz die Augen rollte, noch einmal die Absätze zusammenschlug und das Kinn hoch herausriß.

Der Gefreite mit der Stahlbrille war bescheiden ein wenig zurückgetreten. Exzellenz Greger rief ihn näher heran. Dabei fiel ein heller Lichtschein auf das Gesicht des Generals. Man erblickte feine Züge, mit blauem Venengeflecht an den Schläfen, einen nervösen, hageren, vornehmen Kopf mit Adlernase und Adlerblick. Der General fragte nach dem Zivilberuf des Mannes. Einen kurzen Blick warf der Gefreite, nach oben schielend, zum Stern auf den Achselstücken, dann sagte er:

»Privatdozent für neuere Sprachen an der Universität Greifswald, Euer Exzellenz!«

»Dann sprechen Sie doch gewiß gut französisch?«

»Ich habe einige Arbeiten auf dem Gebiet veröffentlicht und mehrere Jahre auf der Nationalbibliothek in Paris gearbeitet, Euer Exzellenz.«

»So. Als was werden Sie denn jetzt verwendet? Etwa Kompagnieschreiber?«

Der Gefreite reckte sich auf aus seiner sonst ein wenig gebeugten Haltung und antwortete stolz:

»Kriegsfreiwilliger, Exzellenz. Ich bin in der Front.«

»Haben Sie schon mal 'nen Angriff mitgemacht?«

»Zweimal, Exzellenz!«

Der Generalleutnant grüßte stumm, aber seinen Generalstabsoffizier bat er, »die Liebenswürdigkeit zu haben«, den Mann sich zu merken; etwa zur Dolmetscherverwendung. Während nun Major von Esserte zurückblieb, sich den Namen aufzuschreiben, ging der Divisionskommandeur weiter. Jetzt erst sah man, daß der ungewöhnlich große, gut gewachsene Mann das eine Bein nachzog. In den ersten Feldzugstagen leicht am Knie verwundet, hatte er das Kommando dennoch nicht abgegeben, so war von einer Verwundung, die glatt hätte heilen müssen, eine leichte Lahmheit zurückgeblieben.

Auf dem Wege zu den Gräben hinab trafen sie mehrfach Offiziere. Der Divisionär ließ sich von jedem einzelnen über den heutigen französischen Angriff berichten. Für jeden Verwundeten, der ihnen begegnete, hatte er, wenn sein Zustand erlaubte, mit ihm zu reden, ein ermunterndes, ein anerkennendes Wort. Und überall folgten der hohen Gestalt des Vorgesetzten freundliche Blicke. Alles saß so knapp und gut an dem Mann, alles war so tadellos gehalten, daß man nicht hätte glauben mögen, er befände sich im Kriege. Wenn man ihn so sah, verstand man, daß bei der Division auf jene äußeren Dinge Wert gelegt wurde, die der kleine General von Flurschütz zu verachten schien. Aber, daß bei Exzellenz Greger gearbeitet wurde, wußte jeder, sonst hätte ein Mann der Pflicht, ein reiner Soldat wie Major von Esserte, nicht immer mit solcher Wärme von ihm gesprochen. Jeder wußte auch, daß der General »oben« gut angeschrieben stand, war er doch einst Stabschef eines Grenzarmeekorps gewesen.

Mit seinem Generalstabsoffizier stieg er jetzt in den Annäherungsgraben ein. Zuerst nur Wegesenkung, als sei eine Erdwelle durchstochen, fiel er mehr und mehr, bis er so tief hinlief, daß er einen Mann mittlerer Größe, wie Major von Esserte, völlig deckte, während der Divisions-Kommandeur bei seiner Länge sich hätte bücken müssen. Er tat es freilich nicht. So schmal war der Graben, daß die Schultern den trotz der Dunkelheit sich heller abzeichnenden Kalkstein fast streiften. Die Füße schurrten über den steinigten Boden hin, bei wechselnder Tiefe öfters anstoßend oder ins Leere tretend. Neben ihnen huschten Gestalten durch den Wald. Da nun bisweilen Kugeln mit hellem Pfeifen durch die Stämme flitzten, rief der Generalleutnant den Leuten zu:

»Kinder, nicht so da draußen rumlaufen, deckt euch! Das Vaterland braucht jeden!«

Die Gestalten verschwanden gleich Schatten. Der Weg ging in Windungen, damit nicht ein Volltreffer die ganze Grabensohle hätte rasieren können. Wohl zweigten Gräben ab, wohl kamen sie an Unterständen, an Höhlen, an Löchern vorüber, aber in der Nacht war nichts zu erkennen, bis der Graben sich teilte. Waren sie bisher nur einzelnen begegnet, die sich eng an die Wand drückten, sie vorbei zu lassen, so tauchten nun dunkle Umrisse auf, die tief gebeugt hackten, gruben, schaufelten, um bis zur Morgenhelle die zerschossenen Stellen wieder instand zu setzen.

Während der Divisions-Kommandeur mit ihnen redete, gedämpft, denn in der Stille der Nacht wurde jeder Laut weitgetragen, meldete sich der Kompagnieführer, jener Leutnant, der an Stelle des gefallenen Oberleutnants Ehrlich die auf der Waldhöhe rastende Kompagnie übernommen hatte. Exzellenz gab ihm die Hand und ließ sich, am Boden des Grabens niedergeduckt, beim Schein der Taschenlaterne, auf der Sonderkarte jenen Punkt zeigen, wo sie standen, war doch eben hier jene einzige Stelle des Divisionsabschnittes, wo die Franzosen bis in die deutschen Gräben eingedrungen waren. Der Generalleutnant deutete auf die Karte:

»Hier ist ein Maschinengewehr eingezeichnet. Wie ist es da möglich, daß der französische Angriff genau hier bis in den Graben kam?«

Der Leutnant nahm gewohnheitsgemäß, wie am Tage, um weniger Ziel zu bieten, die Mütze ab, stieg auf den Infanterie-Auftritt, eine Stufe höher als die Grabensohle, und blickte hinaus: »Exzellenz können sehen: hier ist ein Granattrichter neben dem andern. Das Drahthindernis ist nicht mehr. Hier steht ein breites Tor offen. Nun liegt unglücklicherweise gerade hier vorn ein trockener, dicht bewachsener Graben, den unsere Patrouillen immer benutzen, um vorzukommen.«

Als das scharfe Pfeifen nahe vorbeifegender Infanterie-Geschosse klang, nahm der Divisionskommandeur den jungen Offizier freundschaftlich beim Arm:

»Lieber Freund, steigen Sie erst mal runter! Sie können mir das genau so gut hier unten erzählen.«

Der Leutnant sprang in die Kniebeuge auf die Grabensohle hinab und setzte sich mit beiden Händen die Feldmütze wieder auf. Da nun in diesem Augenblick pß – pß – pß – ein ganzer Schwarm von Kugeln über die Gräben hinzischte, sagte der junge Kompagnieführer:

»Das gilt den Schanzern, Euer Exzellenz! Und wir sind doch so leise und vorsichtig gewesen!«

»Müßt ihr auch sein! Aber sagen Sie, sprach denn das Maschinengewehr nicht?«

»Verschüttet, Exzellenz! Wir haben es erst jetzt ausgraben können. Darf ich es Euer Exzellenz vielleicht mal zeigen?«

Doch Generalleutnant Greger wollte erst die Lücke draußen im Drahthindernis sehen. Inzwischen hatten die Schüsse von drüben plötzlich aufgehört, und kein anderer Laut störte die feierliche Stille der Nacht, als das leise Scharren im Graben nebenan. Der General hob den Fuß zum Infanterieauftritt. Als der Leutnant ihm behilflich sein wollte, wies er es lächelnd ab:

»Halten Sie mich für son alten Trottel? Wenn ich nicht bei Karten, Meldungen und Fernsprecher sein müßte, wäre ich heilig und sicher hier vorn unter euch. Als ich so alt war wie Sie, habe ich mir immer gewünscht, vorm Feinde zu bleiben. Das war so ein jugendlicher Traum!«

Er stieg vollends hinauf in seiner ganzen Größe und beugte sich über die zerschossene Brustwehr hinaus in das tiefe Dunkel der Nacht, wo die grausigen Schatten der gefallenen Franzosen in den Resten der Drähte hingen, die Granattrichter füllten und als kleine Haufen rund umher schwarz den Boden wölbten. Weit stand die Himmelsglocke über der blutgetränkten Erde. Irgendwo dämmerte Aribes, aber kein Glockenschlag klang vom Kirchturm drüben, den braven Artillerie-Hauptmann Wessels zu ärgern: der Turm war gefällt.

Major von Esserte fragte leise den Leutnant nach Verlusten an dieser Stelle, denn die Meldung darüber war noch nicht bei der Division gewesen. Dann schwiegen sie, bis endlich der General herabstieg. Man kauerte wieder auf der Grabensohle, die Karte wurde entfaltet, des Leutnants Taschenlaterne beleuchtete das weiße Blatt, Finger deuteten, glitten hin und her, Stimmen sprachen gedämpft. Das Lichtlein erlosch, und sie schritten weiter den Graben entlang in der tiefen Dunkelheit, über sich allein des friedlichen Himmels unschuldige Sterne. An Posten kamen sie vorüber, die, weit vorgebeugt, das Gewehr im Arm, an den Schießscharten lehnten. Einer trug den Kopf verbunden. Generalleutnant Greger legte ihm freundschaftlich die Hand auf die Achsel, erkundigte sich, wie und wo er die Verwundung erhalten, lobte, machte einen Scherz über den Gegner und fragte dann so nebenbei nach dem Namen der Orte da drüben: Aribes, Forges-en-Bray, La Neuveville-sur-Galaine. Die Antwort fiel befriedigend aus. Das erhöhte des Vorgesetzten gute Stimmung und er sagte zu Major von Esserte etwas von »mit unseren Kerls können wir die Welt einschmeißen!«

In einem Unterstande war Licht, es schimmerte durch die Maschen der Tischdecke, die vor die Tür genagelt hing. Da sie jetzt an einen neuen Abschnitt kamen, verabschiedete sich der junge Kompagnieführer. Dafür kroch der andere, ein Hauptmann, aus seinem Erdloch. Die Exzellenz wollte ihn wieder schlafen schicken, aber er meldete, eben habe die Brigade angefragt, in welchem Grabenteil Exzellenz sich befände: Generalmajor von Flurschütz sei nämlich auch vorn.

Da traf es sich denn, daß man einander begegnete, ja in der tiefen Finsternis wären die Generäle fast aufeinander geprallt. Der Brigade-Kommandeur schien widerborstig. Die Hand am Mützenschirm sagte er etwas wie: »Wenn ich eine Ahnung gehabt hätte …« Aber der Generalleutnant meinte in artiger Ruhe:

»Herr von Flurschütz, ich wollte Sie nicht stören!«

Das war etwas für den kleinen General, der sofort erwiderte, o das sei auch gar nicht möglich, befände man sich doch im Kriege immer im Dienst.

Dabei blickte er dem Divisionskommandeur forschend ins Gesicht und schien auf die Entgegnung zu warten. Doch Generalleutnant Greger tat ihm den Gefallen nicht. Gegen den Sternenhimmel sah man sein scharfes Adlerprofil unbewegt, wie es zustimmend zurückgab, da habe er recht, vollkommen recht. Dabei schien der Große den Kleinen anzulächeln, der verdutzt schwieg, seines Lebensglückes beraubt: Der »Erörterung des Ahnen Joachim«.

Während nun die beiden Generäle voranschritten, gab Major von Esserte dem Oberleutnant von Bißwang, der seinen Kommandeur begleitete, die Hand mit jenem steifen, fast befangenen, gesellschafts- und pflichtgemäßen Druck, ihm nun einmal eigen. Erst nach einer Weile sagte er unvermittelt, man wußte nicht, war es der Schluß einer Gedankenkette oder nur der innerlich umkämpfte Anfang:

»Meine Schwester ist jetzt in Hannover. Sie ist bei der freiwilligen Krankenpflege.«

Fast hätte der Kürassier geantwortet, sie habe es ihm längst geschrieben, da er jedoch keine Veranlassung fand, es zu verraten, aber auch nie heuchelte, so gab er keine Antwort. Nun sagte auch der Generalstäbler nichts mehr, und so blieb es im Grunde ein Maskenspiel zwischen den beiden, indem die seltsame unvermittelte Erwähnung Stine Essertes doch auf ein stilles Band deuten mußte, dem Bruder offenbar nicht unbekannt.

Beim nächsten Annäherungsgraben, der nach rückwärts führte, trennten sich die beiden Stäbe. General von Flurschütz hatte die Absicht, noch zu bleiben, der Divisionär dagegen sah so Interesse als Pflicht erfüllt. Zwar fragte der kleine Brigade-Kommandeur, ob Exzellenz noch Befehle habe, doch im Grunde klang es fast, als würde er imstande sein, sich zu verabschieden, auch wenn Seine Exzellenz wider Erwarten ja gesagt hätte. So reichte man sich die Hand, nicht ohne Förmlichkeit auf allen Seiten, und bald erleichterten die schon weit auseinanderstrebenden Gruppen ihr Herz.

Generalmajor von Flurschütz sagte zu seinem zweiten Ich, dem Ordonnanzoffizier, indem er den Divisionskommandeur meinte, aber von übergeordneter Stelle sprach:

»Bei der Division ist gewiß großes Siegesfest gewesen mit Tusch und Klimbim.«

Oberleutnant von Bißwang gab zurück:

»Herr General, das kann aber jedenfalls nicht lange gedauert haben, denn Exzellenz war doch schon vor uns im Graben!«

»Das ist Esserte! Esserte ist ein vorzüglicher Offizier!«

Als der Kürassier keine Antwort gab, drehte sich der kleine General um:

»Oder meinen Sie etwa nicht?«

»Herr General, ich erlaube mir kein Urteil!«

Der General blieb stehen:

»Was haben Sie eigentlich gegen Major von Esserte?«

»Ich bin nur Reserveoffizier, Herr General, da darf ich mir über den Generalstab kein Urteil erlauben!«

»Ach wat, in diesem Kriege ist die Reserve Trumpf. Reserve, U-Boote, Pioniere, schwere Artillerie, Flieger! Tun Sie man nicht so, Bißwang.«

Der Kürassier erklärte lächelnd, er als Diplomat sei eben doch auf anderem Felde gewachsen, dann aber, als habe ihm die feierliche Stille der Nacht die Lippen geöffnet, vielleicht auch angeregt durch des Majors unvermittelte Erwähnung seiner Schwester, begann er von Stine Esserte zu erzählen:

»Ich bin ja leidlich rumgekommen in der Welt, Herr General, und habe allerlei Weibsvolk kennen gelernt, aber mit son rechten deutschen Mädel kann sich da draußen doch keine messen. Ich bin kein Tugendspiegel, Herr General, und habe überall rumgemiezt. Ich kenne die Damen in Washington und Newport, für die sich der Mann zu Tode schinden soll, damit sie recht viel Geld haben. Ich kenne die Italienerin, die mit dreißig schon ne alte Tante ist, die Pariserin, mit ihrer Geschlechtsauffassung, etwa so notwendig und natürlich wie Essen und Trinken. Herr General, wirklich, sie können nicht ran an unsere!«

Der kleine General von Flurschütz war ganz in die Tiefe des Grabens hinabgerutscht, die Schultern an die Brustwehrwand gelehnt, die Füße über der Sohle gegen die Rückenwehr gestemmt, die Hände auf den Knotenstock gestützt, den er bei seinen Grabenwanderungen mitzunehmen pflegte. Der Mond schien durch ein Wolkengitterwerk und zeigte deutlich das nachdenkliche Gesicht, wie der General seinem heimlichen Liebling, dem Oberleutnant mit dem wilden, zerfetzten Gesicht, lauschte, als er von Stine Esserte sprach:

»Herr General sollten sie nur mal sehen. Norddeutsche Rasse. So groß wie ich. Blond. Milch und Blut. Gesund. Reitet. Schwimmt. Aber nicht unweiblich, nee! Und wie die mit Kindern spielt! Stundenlang könnte ich zusehen. Und die Kranken besucht sie im Dorf. Papa Esserte ist, wenn er seine Niederlagen hat, an Gicht, Gliederreißen und so was, kein leichter Herr. Alter Rittmeister aus der Zeit, wo man was drin suchte, beim Reitenlassen möglichst gemein zu schimpfen. Wie er mir immer erzählt hat, meinte sein Kommandeur, wer beim Liebesmahl nicht einen so sitzen hätte, daß er in der Saalecke sämtliche Vorgesetzten stellt, sei überhaupt kein ehrlicher Reitersmann. Heute trinkt man Sauerbrunnen im Kasino, aber reiten kann man genau so. Und die Stine ist von heute. Mir hat sie nicht erst was vorgemacht mit Zieren und Schnippischtun, sondern gleich das erstemal, das wir uns trafen, wußte ich's: die ist mir gut und ich ihr. Wir haben es uns gleich den zweiten Tag gesagt beim Gartenfest beim Reichskanzler. Da haben wir geredet von Quitteneinmachen und Unsterblichkeit der Seele, von Veit Stoß, Schlüter, Klinger und der Eilenriede in Hannover, vom Vorteil eines alten Namens, aber daß doch Krischan Borstel, Tagelöhner in Esserte ein viel anständigerer Kerl ist, als jeder Prinz, der nischt tut. Daß in einer einzigen von Schumanns Kinderszenen mehr steckt als im ganzen Saint-Sains. Wie man Puffer macht und von der Schlacht von Waterloo, wo der Urgroßvater Esserte bei den Hannoveranern und drei Bißwangs beim ollen Blücher gefallen sind. Wir lieben die »Reis' na' Belligen«, »Orplid mein Land«, den »Kohlhaas«, und glauben an keinen Plato bei der Frau von Stein. Armbänder bei Männern? – nee! Sie versteht Kant nicht – ich och nicht, aber Fichtes Reden, die las sie in Esserte und ich hatte sie gerade auf dem Schreibtisch liegen. Auch gleich vom Geld haben wir gesprochen. Sie hat nicht viel, nur ein winziges Vermögen von der seligen Mutter. Aber ich das alte Steenup, wo die Rieseneichen rauschen, unter denen die Bißwangs schon 700 Jahre sitzen. Und in die Kirche gehen wir beide, aber wir schwören nicht gerade auf die Höllenfahrt Christi. Nur ihren Bruder schätzt sie – na, ich heirate ihn ja nicht. Wir hätten, wies losging, fast ne Kriegstrauung gemacht, Herr General, aber wir haben uns gesagt: wir wissen, daß wir uns gehören, also wozu die äußere Bestätigung für andere Menschen. Und ich habe gedacht, komme ich etwa nicht wieder, so ist es am Ende besser, sie trägt erst gar nicht meinen Namen, denn sie kann dann viel leichter noch mal mit einem anderen glücklich werden. Der Mensch vergißt. Einer braucht mehr, einer weniger Zeit. Aber einmal tröstet man sich. Und ein junges Mädchen soll nicht ein ganzes langes Leben trauern, weil in ferner Jugend ihr Herz mal gesprochen hat. Das habe ich ihr gesagt. Da hat sie ganz einfach gesagt: ›Du hast recht, man weiß nichts von sich. Ob, wenn ich kein Geld hätte und Hunger, ich nicht stehlen würde – wie soll ich das wissen!‹ Herr General, das hat mir so gefallen in seiner einfachen Menschlichkeit, daß ich vor Glück Stine einen Kuß auf den Mund gegeben habe. Und wir hatten doch ausgemacht, das sollte jetzt noch nicht sein. Erst später. War natürlich Blödsinn. Sie hat mir dann auch den Kuß zurückgegeben. Es war beim Abschied. Sie sagte dabei, ganz einfach: ›Das gehört auch dazu. Du, danach habe ich mich immer gesehnt!‹ Herr General, wenn ich jetzt am Fernsprecher sitze auf der Gefechtsstelle und warte, dann denke ich manchmal, Stine Esserte hat mich eben angerufen und mir ist, als ob sie sagte: ›Das gehört auch dazu. Du, danach habe ich mich immer gesehnt!‹ Und dann kriege ich so ne wahnsinnige Sehnsucht, daß ich denke, wenn ich nur dort wäre. Dabei bin ich doch so glücklich hier draußen im Feld, wie sonst noch nie in meinem ganzen Leben! Ist das nun unrecht, Herr General?«

Der kleine Generalmajor war in der Grabentiefe völlig zusammengesunken. Er hörte zu, den Kopf gesenkt. Mit einemmal fuhr er auf und rief statt aller Antwort, gleichsam ein Sehnsuchtsschrei des alternden Mannes, der allein geblieben ist auf der Welt:

»Junge, Junge, wer och so wat hätte!«

Und er rannte im Graben davon, indem er sich, der reine Soldat, der gestrenge Herr der 694. J. B., abirrend einmal von harter Kriegspflicht, hatte erzählen lassen von ferner Heimat, von deutscher Mädchen Köstlichkeit, von Dingen, die bei dem rauhen Feldgeneral nur heimlich in verborgenen Tiefen ruhten. –

Oben auf waldiger Höhe schritten Generalleutnant Greger und Major von Esserte, jetzt schon dem Annäherungsgraben entstiegen. Sie hatten bisher von Dienstlichem gesprochen, allgemein nur, denn überall konnten Ohren offen stehen. Nun, wo sie über die freie Fläche schritten, bereits die Senkung nach rückwärts hinab, sagte der Divisionskommandeur, der seinem Generalstabsoffizier bisweilen das Herz öffnete:

»Flurschütz ist ein vorzüglicher Soldat. Sie wissen Esserte, ich schätze ihn ungemein, nur muß ich es immer wieder bedauern, ihm menschlich nicht beikommen zu können. Sie kennen ihn ja näher?«

»Der Herr General ist ein vornehm denkender Mann.«

»Nur immer anderer Ansicht!«

Die hohe, schlanke Gestalt zuckte die Achseln und zog dabei den verletzten Fuß stärker nach. Als nun aber der Major nicht antwortete, fragte die Exzellenz nach Oberleutnant von Bißwang, von dem er wenig unterrichtet schien, schon deshalb, weil er den Reserveoffizier im Frieden nicht gekannt hatte und im Felde dienstlich mehr mit dem Brigadeadjutanten Hauptmann Hasenclever in Berührung kam. Der Major gab in wenigen, trefflich gesehenen Strichen ein Bild des Kürassiers als Junker, Diplomat, Friedens- und Feldzugssoldat, daß der ganze Mann mit seiner prächtigen Derbheit, dem bisweilen vorlauten Mundwerk, nicht selten auch dem Schalk, vor allem aber dem mit weichem Herzen gepaarten scharfen Verstand, ebenso lebendig ward, wie sein durch die Verwundung grausam entstelltes Gesicht. Und ein ganz Erstaunliches war dabei: aus den Worten des Generalstabsoffiziers, dem der zukünftige Schwager meinte fremd bleiben zu müssen, klang mehr als Wohlwollen, klang fast eine Liebe.

Der Generalleutnant nahm des Majors Arm: ihm wurde das Gehen sauer, wenn er es auch nur im bergenden Dunkel der Nacht zugab. Es mochte noch anderes dabei sein als nur die äußere Stütze: vielleicht die Freude, den innerlich ewig gehemmten Esserte einmal warm zu sehen. Das schien auch ihm das Herz zu öffnen, so daß er sich unvermutet in Andeutungen erging, wie es nicht unmöglich sei, die Division könne herausgezogen werden. Der Major schwieg auch dazu, doch der Augenblick stand ihm sofort vor Augen, als vor einigen Tagen der Führer der Armee mit dem Kommandierenden des Korps und Exzellenz Greger vor dem Korpsstabsquartier auf- und abgeschritten war, irgend etwas besprechend, wozu allein die Generäle zugezogen wurden.

»Es ist für den Augenblick nichts anderes als eine Möglichkeit, lieber Esserte! Darum bleibt es unter uns.«

Der Major legte die Hand an den Mützenschirm und verbeugte sich stumm. Während sie, nun fast eben, der Straße zuschritten, die rechts nach dem Brigade-Stabsquartier Fresne-la-forêt führte, gingen Herrn von Esserte alle Möglichkeiten durch den Kopf. Sollten sie etwa Armeereserve werden? Galt es, ihr Armeekorps, das 174., bei Ypern einzusetzen? Sein durch die kargen Worte zum Suchen, Raten, Arbeiten entzündetes, immer militärisch beschäftigtes Hirn erwog alle Wahrscheinlichkeiten. Die Berichte der Obersten Heeresleitung, Telegramme, Befehle, Nachrichten ordneten sich in seinem Kopf. Die ganze Lage, ihm gegenwärtig bis ins kleinste, wie einem Topographen das Meßtischblatt, an das er ein halbes Jahr seines Lebens gewendet, schien ihm eher darauf zu deuten, daß sie doch als Armeereserve herausgezogen würden. Die Lücken von den schweren Kämpfen der letzten Zeit mußten ausgefüllt werden, und die Truppe, die seit Anfang des Feldzuges am Feinde gewesen war, hatte Ruhe wohl nötig. Aber Major von Esserte fragte nicht weiter: Wenn Exzellenz ihm näheres mitteilen wollte, so würde er es ohnedies tun. Da es nun nicht geschah, sondern die Eindrücke aus den Gräben derart eingehend zusammengefaßt wurden, als bliebe man bis in alle Ewigkeit hier, so benutzte der Generalstäbler die Gelegenheit, daß sie eben unweit jener Stelle vorüber kamen, wo gestern Graf Bielinski mit seinem Flugzeug gelandet war, um vom Flugwesen zu reden. Dabei berührten die beiden Offiziere alle Möglichkeiten und Erfordernisse, vom Bau französischer Flugzeuge bis zu Meinungen und Wünschen der Flieger.

Endlich wuchs vor ihnen, dicht an der Straße, eine dunkle Masse aus dem Boden, die sich als verlassener Stall enthüllte. Major von Esserte eilte ein paar Schritte voraus, klatschte in die Hände und rief:

»Chauffeur! He! He! Unteroffizier!«

Dunkle Gestalten sprangen aus dem offenen, finsteren Rachen des halb zerstörten Gebäudes. Man sah einen sich bücken, ankurbeln, den Platz verlassen, um die Hebel am Steuer zu verschieben, dann abermals drehen, bis mit fröhlichem Geknatter der Motor ansprang. Streichhölzer wurden entzündet, flammten, erloschen, flogen fort, bis ihr kleines Lichtlein erwachte zu wachsendem Laternenschein, der bald als doppelte wirbelnde Lichtsäule über die Straße auf die Felder drüben fiel. Dann kam das Ungetüm langsam heraus und stand gewendet. Der Begleitmann half den Offizieren die Mäntel anziehen und der schwere Benz fuhr mit den vier dunklen Schatten in die Nacht hinaus. An der Bordwand standen, wie Gewehre auf der Wache, nebeneinander die Karabiner, über den Kraftwagen aber zog ein großer, scharfer Bügel hin, gleich einem phantastischen Ehrenbogen, der vorn am Kühler niedersank. Er diente, etwa hinterlistig gespannte Drähte zu durchschneiden.

Der Generalleutnant sprach zuerst lebhaft, dann nur ab und zu einen Satz, endlich schwieg er. Wenn er auch aufrecht sitzen blieb, so verriet doch ein leises Einknicken des Kinnes, ein Sinken der Stirn, mit jähem Wiederaufrichten und Zurechtrücken auf dem Sitz, daß er für Augenblicke eingeschlafen war. Major von Esserte dagegen schien fast wacherer Sinne als zuvor. Er saß vorgebeugt, den Blick auf den Weg gerichtet. Dann klang der Befehl für den Wagenführer: »Rechts.« – »Halb links.« – »Geradeaus.« – Bald tauchte inmitten dichter Baumgruppen das Divisions-Stabsquartier auf: ein langgestrecktes Gebäude, dessen weiße Läden leuchteten, nun der Mond einen verschleierten Schein über das vom Kriege erschütterte französische Land warf. Der Kraftwagen hielt. Der Generalleutnant erhob sich sofort, als wäre er nicht eingenickt gewesen, und stieg die Freitreppe hinan. Der Major gab dem Fahrer Befehle für den nächsten Tag und folgte, die Taschenlaterne in der Hand. Auf dem Gange ließ er sie aufleuchten, so daß der General, der bis dahin getastet hatte, nun schneller ausschritt. An seiner Zimmertür im ersten Stock angelangt, reichte er dem Generalstäbler kurz die Hand, mit jenem Absatzschließen, jener höflichen Verbeugung, jenem liebenswürdigen Lächeln, das ihn nie verließ:

»Gute Nacht, mein lieber Esserte. Auf Wiedersehen morgen. Schlafen Sie nur mal aus!«

Doch jener stieg bedächtig die Treppe wieder hinab, und der Lichtkegel seiner Laterne streifte die Wände, an denen alte bunte Stiche hingen: Damen, zum Schlafengehen halb entkleidet, auf dem Bettrande, ein Buch, das träumen läßt, in der Hand, oder auf einer Gartenbank niedergesunken, offenbar wegen der Wärme des Tages mehr als leicht gekleidet, betäubt von Blumenduft und wohl auch Frühlingssehnen, denn immer wieder wurden sie von einem Späher überrascht, einem Kecken geküßt, und nie schienen sie sich allzu sehr darüber zu grämen: französischer Geschmack.

Das Auge des ernsten deutschen Generalstabsoffiziers achtete ihrer nicht. Der Major öffnete im Erdgeschoß eine Tür und entzündete Kerzen. In einem großen Raume standen dort zusammengerückt Tische aller Art, einfache Küchenmöbel neben reich geschnitzten und vergoldeten, im Stil Ludwig XV., oder steifen, rotbraun polierten des Kaiserreiches mit Sphinxen, Karyatiden und Säulenkapitälen aus Bronze. Alle dienten sie ernstem Kriegszweck. Tintenfässer, Meldekartenblocks, wie Soldaten in Reihen geordnete Bleistifte deuteten es an. Dazu lagen Tuschkästen da mit blauer und roter Wasserfarbe. Fernsprecher standen auf den Tischen, deren Drähtegewirr sich in der durchschlagenen Mauer verlor. An den Wänden hingen Karten mit farbig eingezeichneten Stellungen, nicht nur vom Westen, nein, auch solche von Polen und Galizien, gespickt mit Reihen von russischen, österreichisch-ungarischen und deutschen Fähnchen.

Der Major ging an einen Platz am Fenster, dem breitesten, dem einfachsten zugleich. Schwer ließ er sich nieder, im aufgeknöpften Mantel, entfaltete die Karte, und den Marschzirkel in der Hand blieb er in tiefem Brüten. Hinter ihm öffnete sich eine hohe, weiße, goldabgesetzte Tür. Das glattrasierte Gesicht eines Husarenoberleutnants erschien. Er machte eine leichte Verbeugung, und man hörte hell die Sporen klirren. Doch der Generalstabsoffizier rührte sich nicht. Blaue Wasserfarbe hatte er mit dem Pinsel angerieben und war eben dabei, etwas einzuzeichnen, das er erst diese Nacht gesehen. Die Stearinkerzen auf dem großen, vielarmigen Kaminleuchter vor ihm auf dem Tisch, brannten steil und gelb. Sie bestrahlten einen kleinen, aufgeklappten Lederrahmen, den er vor sich hingestellt, darin eine blonde Frau sichtbar wurde, an einen blondgelockten Knaben auf dem Schoß geschmiegt, im Gewande und in der Stellung jenes bekannten Bildnisses der Madame Vigée-Lebrun mit ihrem Sohn. In dem Augenblick klang abermals das leise Sporenklirren des Husaren, der ein paar Schritte weiter vorgetreten war. Der Generalstabsoffizier fuhr auf:

»Ja, Exzellenz ist zurück.«

Als er in der Hand des Oberleutnants ein Papier sah, fragte er:

»Ist was gekommen?«

»Jawohl, Herr Major. Vom General-Kommando. Die Division wird morgen nach Flandern verladen.«

Nichts regte sich in dem Gesicht des Generalstäblers. Er nahm den Befehl in Empfang, den der Oberleutnant dem Fernspruch eben nachgeschrieben hatte, vertauschte die Brille mit einem Kneifer, las und sagte:

»Ich werde es Exzellenz sofort melden. Er ist noch auf. Lassen Sie Hauptmann Rennhöfer und die anderen Herren wecken.«

»Zu Befehl, Herr Major.«

Der Husar verbeugte sich und ging in das Nebenzimmer hinüber, dessen Tür offengeblieben war. Major von Esserte aber warf Gurt und Mantel ab und stieg, den Befehl in der einen, die Taschenlampe in der anderen Hand, die Treppe hinauf zum Zimmer des Divisionskommandeurs.


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