Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente 1875-1879, Band 2
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Juli 1879]

[Dokument: Notizbücher]

41 [1]

Ein Philosoph, der des Längeren einmal in der genannten Weise gelobt wurde, schrieb während dem mit seinem Stab in den Sand: „Eheu, Triviam deam fortassis amplexus sim?"

41 [2]

Das anziehendste Buch der griechischen Litteratur: Mem<orabilia> Socr<atis>.

41 [3]

Man erstrebt Unabhängigkeit (Freiheit) um der Macht willen, nicht umgekehrt.

41 [4]

Der überwache allzuglänzende Blick und die zitternde Hand – Tristan.

41 [5]

Durch die Zwecke wird das Leben ganz unsinnig und unwahr. Man arbeitet, um sich zu nähren? Man nährt sich, um zu leben? Man lebt, um Kinder (oder Werke) zu hinterlassen. Diese ebenso – usw. und zuletzt salto mortale. Vielmehr ist im Arbeiten Essen usw. immer auch das Ende da: mit dem Zweck knüpfen wir 2 Enden aneinander. Ich esse um zu essen und um zu leben d. h. um wieder zu essen.

Die Handlung will wiederholt werden, weil sie angenehm ist. Alles Angenehme ist das Ende. Sind die Pflanzen da, um von den Thieren verspeist zu werden? Es giebt keinen Zweck. Wir täuschen uns. – Ich tauche die Feder ein um – – –

41 [6]

Climata hat man erwogen, aber Tag und Nacht überhaupt usw.

41 [7]

Auch dem Frömmsten ist sein tägliches Mittagsessen wichtiger als das Abendmahl.

41 [8]

In den Gewerben ahmen wir die Natur nach und wiederum sind wir ergötzt, wie es scheint, daß die Natur uns nachgeahmt hat, wie in dem kleinen Stiel der Alpenrosenblüthe, der aus gelber und rother Seide geflochten scheint.

41 [9]

Socialisten hülfen zum Siege der Demokratie.

41 [10]

Νεμεσσαν ungeziemende Gleichsetzung.

41 [11]

Wenn der Gleiche dem Gleichen Hülfe erweist, ist es kein Mitleid, sondern Pflicht – die Gleichsetzung hergestellt. Wenn der Starke dem Schwachen hilft, ohne Vortheil – erbarmt er sich –?

41 [12]

Stufen: den Ruf mehren

1) mit sofortigem Nutzen im Auge

2) ohne dies, aber als Capital

3) gegen den sofortigen Nutzen in Hinsicht auf kommenden

4) gegen und ohne "Eitelkeit"'.

41 [13]

Alle kleinen Dinge sind einst groß gewesen.

41 [14]

"Die Fremde statt zu kommen, reiste wieder ab".

41 [15]

Das Gehirn im Wachsen. Nur die jüngsten Theile haben ein begleitendes Bewußtsein. Die älteren arbeiten ohne diese Laterne der Controle.

Das Ziel: der Mensch eine große unbewußte Zweckthätigkeit, wie die Natur der Pflanze.

41 [16]

Mädchen die wie Turteltauben lachen.

41 [17]

Zur Zeit der lauen Februarwinde, wenn die kleinen übereisten Gewässer unter den Füßen der Kinder knistern.

41 [18]

Ein Rädergleis voll Wasser.

41 [19]

Ein Mittagsläuten vom Dorfthurm, bei dem Frömmigkeit und Hunger zugleich wachwerden.

41 [20]

Wie die Sonne in einem Tannenwald, warme Wohlgerüche und reine Kühle des Windhauchs.

41 [21]

Mücken bewölkter Himmel und feuchtwarme Luft – meine Feinde.

Felsen Wind Nadelhölzer Heidegräser und viel Luft – meine Freunde.

41 [22]

„Sphynx, Temistocles, Mythe, Paradoxe, Sophism us, Styl, Li teratur usw."

41 [23]

Carey 512. Concurrenz – ihre Nützlichkeit, obwohl grundböse. – Geht gegen das Gleichgewicht – aber die andere Gruppe hat den Vortheil des Kampfes. Der Dritte, der den Esel fortführt. Sind aber Engländer, so ist der Dritte selber der Esel, der fortgeführt wird.

41 [24]

Schläfrig und zufrieden wie die Sonne in den Gassen einer kleinen Stadt am Feiertage.

41 [25]

Terzen – Oktaven: Melodie

Kindheit – lernen – erste Magie

überall wo Wehmuth, wird ein Verlust empfunden, aber ein halbes Wiederfinden damaliger Empfindung.

"Alpenglühen der Empfindung" wenn die Sonne hinunter ist

Sonntag-Nachmittag-Einsam<keit> ebenso zu erklären.

Das Kind hat die großen Entzückungen an den einfachen Dingen voraus.

41 [26]

Der Empfindsame sehr fromm – ein Schuft.

41 [27]

Soldat Kugel Dämmerung

41 [28]

Eine gew<isse> Albernheit in den Begleitungsfiguren der rhythmischen Cadenzen hebt diese Wirkung nicht auf, mitunter scheint sie dieselbe sogar zu verst<ärken>.

41 [29]

Bei der Nähe des Gewitters, wenn das graue Gebirge furchtbar und tückisch blickt.

41 [30]

Durch Jean Paul ist Carlyle zu Grunde gerichtet und zum schlechtesten Schriftsteller Englands geworden: und durch Carlyle wieder hat sich Emerson, der reichste Amerikaner, zu jener geschmacklosen Verschwendung verführen lassen, welche Gedanken und Bilder händevoll zum Fenster hinauswirft.

41 [31]

Schluss: Werden wir, was wir noch nicht sind: gute Nachbarn der nächsten Dinge.

41 [32]

Die Trostmittel des Christenthums sind bald eine Antiquität; ein Oel, das sich verrochen hat. Dann treten die Trostmittel der antiken Philosophie wieder hervor, in neuem Glanze – und unsere neue Trostmittelgattung kommt hinzu, die historische.

41 [33]

Die meisten Menschen bäumen sich wider den Tröstenden eine Zeitlang auf und übertreiben die Tiefe und Unbändigkeit ihres Schmerzes, in Worten und Wehklagen. Sie finden es unerträglich, daß der Tröstende anzunehmen scheint, er werde leichter mit diesen Unfällen Verlusten usw. fertig werden: sie deuten ihm an, dies könne nur darin seinen Grund haben, daß er nicht tief genug empfindet und in der Fähigkeit tief zu empfinden unter ihnen stehe. In Wahrheit empfinden sie kein Haarbreit tiefer als jener empfinden würde, oft weniger. Sie setzen also seiner vermeinten Überlegenheit den Schmerz zu besiegen, eine andere entgegen.

41 [34]

Der klassische Geschmack – nichts begünstigen, was die Kraft der Zeit nicht zu reinem und mustergültigem Ausdruck zu bringen vermöchte, also ein Gefühl der der Zeit eigenthümlichen Kraft und Aufgabe.

41 [35]

In Ansichten über Kunst wenigstens wollen wir uns die Leidenschaftlichkeit und Roheit verbitten: auch das blinde Parteiwesen.

41 [36]

Der Häßliche und Unansehnliche ist der Mode gram, weil sie nicht an ihn denkt. Er muß sich verkleiden.

41 [37]

Nicht das ist das Kunststück, ein Fest zu veranstalten, sondern solche zu finden welche sich an ihm freuen. Meistens ist ein Fest ein Schauspiel ohne Zuschauer, ein Tisch voller Speisen ohne Gäste. Wer mitspielt, Fürsten und Soldaten, haben ihre Pflichten und Ermüdungen dabei, und die Neugierde des Gassenjungen ist die einzige lebendige Zuthat.

41 [38]

Backwerk Zucker eine Mahlzeit, eine Treppe.

41 [39]

Gegen die Küche des prix fait – des Hotels.

41 [40]

Die strahlende gelbe Wiese, und über ihr dunkle braungrüne Waldzüge, über ihnen aber, in gewaltiger Steigerung derselben Berglinien, die Hochgebirgskronen, bläulich grau und schneeweiß schimmernd.

41 [41]

Das Große an den Alten ist ihr universaler Trieb, ihr Auge und <ihre> Schätzungen für alles, ihr geringer nationaler Accent (Griechen und Römer).

41 [42]

Zur Beendigung des Kampfes ums Dasein entsteht die Gemeinschaft. Das Gleichgewicht, ihr Gesichtspunkt.

41 [43]

Die Gemeinheit entsteht erst in der Gemeinschaft. Thukydides: φθονεον gegen das Glänzende, zu schwärzen – also bei Gleichen.

41 [44]

Natur muß ich allein haben, um sie mir nahe zu bringen. Im Verkehre mit Menschen macht sie mich ungeduldig: und wird mir immer fremder. Menschen berauschen mich: für die Natur muß ich ganz mein Gleichgewicht gefunden haben.

41 [45]

Die Menschen verkehren zu viel und büßen dabei sich ein. Wer wenig hat, dem wird durch Gesellschaft auch noch das W<enige> gen<ommen> w<as er> h<at>.

41 [46]

Wer nicht bei Zeiten lernt, 2 Stunden des Tags allein sein zu können, ohne Geschäft und Pflicht und (die ekelhaften Halbbeschäftigungen des Dampfblasens und schluckweise-Trinkens) – der – – –

41 [47]

Vielleicht sind die Götter noch Kinder und behandeln die Menschheit als Spielwerk und sind grausam ohne Wissen und zerstören in Unschuld. Werden sie älter –

Vielleicht kümmern sich die Götter nicht um uns, wie wir nicht um den Bau der Ameisen, obwohl –

41 [48]

Gründe an Stelle der Gewohnheiten, Absichten an Stelle der Triebe, Erkenntnisse an Stelle des Glaubens, geistigseelische Freudigkeit an Stelle häufiger Einzel-Genüsse, Gleichgewicht aller Bewegungen und die Lust an dieser Harmonie an Stelle der Aufregungen und Berauschungen – und später alles wieder unbewußt werdend!

41 [49]

Dieser Dialog ist nicht von mir. Er wurde mir eines Tages übersandt, mit der einzigen Bemerkung, daß ich ihn lesen und weitergeben dürfe. Das Erstere that ich, das Andere thue ich.

41 [50]

– – – vom Heil der Seele würde keine Rede sein, der Staat würde nicht soviel Noth abzuhelfen haben und kein solches Kopfzerbrechen machen.

41 [51]

Gegen Wagner bekommt man leicht zu sehr Recht.

41 [52]

Wenn die Schätzung z. B. des Uneigennützigen erst festgestellt wurde (ob auch irrthümlich –), so wächst sie.

41 [53]

Die verschiedenen Arten der Phantasie haben eine verschiedene Kraft zu vergrößern. Phantasie die Furcht sehr groß machend – daher spekulirt auf sie zu allererst der Mächtig-sein-wollende.

41 [54]

Etwas das wir wissen, Scheint uns sehr dadurch im Werthe gestiegen. Eine Zeitlang –

41 [55]

Ein Gang am Hafen von Neapel macht den Geist frei und bringt ihn den Alten näher. Fruchtbarkeit Heiterkeit und die Pest oder Kriege –

41 [56]

Die Mittler-Moral.

Übertragung der M<ittler->M<oral> und ebenso der Gleichgewichts-Moral auf die Seele.

41 [57]

Gnade ursprünglich ein Zeichen der Verachtung.

41 [58]

Die Uneigennützigkeit kommt in Ruf durch den Mittler, wenn der Haß zwischen zwei wüthet. In Wahrheit ist der M<ittler> nicht uneigennützig.

41 [59]

Ein Ding, dem ein Begriff genau entspricht, wäre ohne Herkunft. Plato's Irrthum von den ewigen Ideen.

41 [60]

Es ist viel Charakter nöthig, die Sache des guten Geschmacks und der Vernunft aufrecht zu erhalten, wenn die großen Talente sich alle auf die entgegengesetzte Seite stellen.

41 [61]

Die größte Absicht der Kunst sollte nicht durch die Schwachen vertreten werden.

41 [62]

– nach der biblischen Moral, nach der dem, der wenig hat, auch noch das Wenige genommen wird, das er hat.

41 [63]

Unsere Schwarzseherei, unsere Sentimentalität in Tragödie und Lyrik ist Ermüdung des Kopfes, bei Völkern und Einzelnen. Nervenschwäche.

41 [64]

Ein langer Geschmack im Munde.

41 [65]

Unsere Aufgabe, alles Angeerbte Herkömmliche Unbewußt-Gewordene zu inventarisiren und zu revidiren, auf Ursprung und Zweckmäßigkeit zu prüfen, vieles zu verwerfen, vieles leben zu lassen.

41 [66]

Der Seidenwurm, dem man das Spinnen nicht verbieten soll.

41 [67]

Das Ideale bei Schiller Humboldt – eine falsche Antike wie die Canova's, etwas zu glasirt, weich, durchaus der harten und häßlichen Wahrheit nicht in's Angesicht zu sehen wagend, tugendstolz, vornehmen Tones, affektvoller Gebärde, aber kein Leben, kein ächtes Blut.

41 [68]

Ich muß weinen, wenn ich Goethes Worte auf Schiller "und hinter ihm im wesenlosen Scheine usw." lese. Warum?

41 [69]

< Wanderer> – Dies ist mir zu flach. Schatten – Soll denn ein Schatten selbst immer tief sein! Denke doch, wie dünn er ist. Wanderer – Ich wußte bisher nicht, daß die Dicken mehr Vorrecht auf Tiefe haben als die Dünnen.

41 [70]

Anekdote vom Cardinal und dem Nachtstuhl.

41 [71]

<Du kannst nicht> geläufig im Herzen lesen, aber liebst es, zu buchstabiren, und mitunter kommt das rechte Wort heraus.

41 [72]

Der Wanderer und sein Schatten.

Ein Geschwätz unterwegs.

41 [73]

Rivarol. Fontenelle.

Beyle's Briefe.

Mérimée ganz.

41 [74]

Wenn 1 mal fast = 0mal, 10mal = 100mal.

41 [75]

Jeden Tag eine Stunde: Gesundheitslehre.


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