Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente 1875-1879, Band 2
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[März 1875]

[Dokument: Mappe loser Blätter]

Notizen

zu

Wir Philologen

3 [1]

Gehet hin und verbergt eure guten

Werke und bekennt vor den Leuten

die Sünden, die ihr begangen.

Buddha.

3 [2]

Der achte April 1777, wo F. A. Wolf für sich den Namen stud. philol. erfand, ist der Geburtstag der Philologie.

3 [3]

1.

Gegen die Wissenschaft der Philologie wäre nichts zu sagen: aber die Philologen sind auch die Erzieher. Da liegt das Problem, wodurch auch diese Wissenschaft unter ein höheres Gericht kommt. – Und würde wohl die Philologie noch existiren, wenn die Philologen nicht ein Lehrerstand wären?

3 [4]

Es ist schwer, die Bevorzugung zu rechtfertigen, in der das Alterthum steht: denn sie ist aus Vorurtheilen entstanden:

1) aus Unwissenheit des sonstigen Alterthums,

2) aus einer falschen Idealisirung zur Humanitäts-Menschheit überhaupt; während Inder und Chinesen jedenfalls humaner sind,

3) aus dem Schulmeister-Dünkel,

4) aus der traditionellen Bewunderung, die vom Römerthum ausgegangen ist,

5) aus Widerspruch gegen die christliche Kirche, oder zur Stütze,

6) Eindruck, den die Jahrhunderte lange Arbeit der Philologen gemacht hat, und die Art ihrer Arbeit: es muss sich doch um Goldbergwerke handeln, meint der Zuschauer.

7) Fertigkeiten und Wissen, von dort her gelernt. Vorschule der Wissenschaft.

In Summa: theils aus Ignoranz, falschen Urtheilen und trügerischen Schlüssen, auch durch das Interesse eines Standes, der Philologen.

Bevorzugung des Alterthums sodann durch die Künstler, die das erkannte Maass und die Sophrosyne unwillkürlich zu einer Eigenschaft des gesammten Alterthums machen. Die reine Form. Ebenso durch die Schriftsteller.

Bevorzugung des Alterthums als einer Abbreviatur der Geschichte der Menschheit, als ob hier ein autochthones Gebilde sei, an dem alles Werdende zu studiren sei.

Thatsächlich ist nun allmählich Grund für Grund zu dieser Bevorzugung beseitigt, und wenn es die Philologen nicht merken sollten, so merkt man es sonst ausser ihren Kreisen so stark wie möglich. Die Historie hat gewirkt; sodann hat die Sprachwissenschaft die grösste Diversion, ja Fahnenflucht unter den Philologen selbst hervorgebracht. Nur die Schule haben sie noch: doch auf wie lange! In der bisherigen Form ist die Philologie am Aussterben: ihr Boden ist ihr entzogen. Ob überhaupt ein Stand von Philologen sich erhalten wird, ist sehr zweifelhaft: jedenfalls wäre es eine aussterbende Race.

3 [5]

Schon unsere Terminologie zeigt, wie sehr wir geneigt sind, die Alten falsch zu messen; der übertriebene Sinn der Litteratur z. B., oder wie Wolf von der "innern Geschichte der antiken Erudition" redet, er nennt es auch "die Geschichte der gelehrten Aufklärung".

3 [6]

Was liegt für ein Hohn auf die " Humanitäts" – Studien darin, dass man sie auch belles lettres (bellas litteras) nannte!

3 [7]

Wolfs Gründe, weshalb man Aegypter Hebräer Perser und andre Nationen des Orients nicht auf Einer Linie mit Griechen und Römern aufstellen darf: jene erhoben sich "gar nicht oder nur wenige Stufen über die Art von Bildung, welche man bürgerliche Policirung oder Civilisation, im Gegensatze höherer eigentlicher Geistescultur, nennen sollte". Er erklärt sie gleich darauf als die geistige oder die litterarische "bei einem glücklich organisirten Volke kann diese schon früher anfangen als Ordnung und Ruhe des äussern Lebens" ("Civilisation"). Er stellt dann den fernsten Osten von Asien ("ähnlich solchen Individuen, die es nicht an Reinlichkeit, Schicklichkeit und Bequemlichkeit von Wohnungen Kleidungen und allen Umgebungen fehlen lassen, aber niemals das Bedürfniss höherer Aufklärung empfinden") den Griechen gegenüber ("bei den Griechen, auch bei den gebildetsten Attikern, trat oft das Gegentheil bis zur Verwunderung ein und man vernachlässigte das als unbedeutend, was wir vermöge unserer Ordnungsliebe insgemein als Grundlage der geistigen Veredlung selbst anzusehen pflegen").

3 [8]

„Gegen Ende des Lebens befiel Markland, wie so viele seines gleichen früher, ein Widerwille gegen allen gelehrten Ruhm, dermaassen dass er mehrere lange gepflegte Arbeiten theils zerstreute, theils verbrannte."

3 [9]

„In der Jugendzeit Winckelmanns gab es eigentlich kein Studium des Alterthums als in dem gemeinen Dienste von Brod erwerbenden Disciplinen – man las und erklärte damals die Alten, um sich besser zur Auslegung der Bibel und des corpus juris vorzubereiten."

3 [10]

F. A. Wolf erinnert einmal daran, wie furchtsam und schwächlich die ersten Schritte waren, die unsere Ahnherrn zur Gestaltung der Wissenschaft thaten, wie sogar lateinische Klassiker gleich verdächtiger Waare unter Vorwänden auf den Markt der Universitäten eingeschwärzt werden mussten; im Göttinger Lectionskatalog 1737 kündigt J. M. Gesner Horatii Odas an "ut in primis, quid prodesse in severioribus studiis possint, ostendat".

3 [11]

Newton wunderte sich, dass Männer wie Bentley und Hare sich über ein Comödienbuch herumschlügen (weil sie beide theologische Würdenträger waren).

3 [12]

Es ist so schwer, nur etwas aus dem Alterthume nachzuempfinden, man muss warten können, bis wir etwas zu hören bekommen. Das Menschliche, das uns das Alterthum zeigt, ist nicht zu verwechseln mit dem Humanen. Dieser Gegensatz ist sehr stark hervorzuheben, die Philologie krankt daran, dass sie das Humane unterschieben möchte; nur deshalb führt man junge Leute hinzu, damit sie human werden. Ich glaube, um das zu erreichen, genügt viel Historie: das Brutal-Selbstbewusste wird dadurch abgebrochen, wenn man Dinge und Schätzungen so wechseln sieht. – Das Menschliche der Hellenen liegt in einer gewissen Naivetät, in der bei ihnen der Mensch sich zeigt, Staat, Kunst, Societät, Kriegs- und Völkerrecht, Geschlechtsverkehr, Erziehung, Partei; es ist genau das Menschliche, das sich überall bei allen Völkern zeigt, aber bei ihnen in einer Unmaskirtheit und Inhumanität, dass es zur Belehrung nicht zu entbehren ist. Dazu haben sie die grösste Menge an Individuen geschaffen – darin sind sie über den Menschen so belehrend; ein griechischer Koch ist mehr Koch als ein andrer.

3 [13]

Das Christenthum hat das Alterthum überwunden – ja das ist leicht gesagt. Erstens ist es selbst ein Stück Alterthum, zweitens hat es das Alterthum conservirt, drittens ist es mit den reinen Zeiten des Alterthums gar nicht im Kampf gewesen. Vielmehr: damit das Christenthum erhalten blieb, musste es sich vom Geiste des Alterthums überwinden lassen z. B. von der imperium-Vorstellung, der Gemeinde usw. Wir leiden an der ungemeinen Unreinlichkeit und Unklarheit des Menschlichen, an der witzigen Verlogenheit, die das Christenthum über die Menschen gebracht hat.

3 [14]

Das griechische Alterthum ist als Ganzes noch nicht taxirt; ich bin überzeugt, hätte es nicht diese traditionelle Verklärung um sich, die gegenwärtigen Menschen würden es mit Abscheu von sich stossen: die Verklärung also ist unächt, von Goldpapier.

3 [15]

Ein grosser Vortheil für einen Philologen ist, dass seine Wissenschaft so viel vorgearbeitet hat, um sich in den Besitz der Erbschaft setzen zu können, wenn er es vermag – nämlich die Abschätzung der ganzen hellenischen Denkart vorzunehmen. So lange man im Einzelnen herum arbeitete, leitete eine Verkennung der Griechen; die Stufen dieser Verkennung sind zu bezeichnen. (Sophisten des zweiten Jahrhunderts, die Philologen-Poeten der Renaissance, der Philologe als Schullehrer der höheren Stände) (Goethe – Schiller)

3 [16]

Nachahmung des Alterthums: ob nicht endlich ein widerlegtes Princip?

Flucht aus der Wirklichkeit zu den Alten: ob dadurch nicht die Auffassung des Alterthums gefälscht ist?

3 [17]

Eine Art der Betrachtung ist noch zurück: zu begreifen, wie die grössten Erzeugnisse des Geistes einen schrecklichen und bösen Hintergrund haben; die skeptische Betrachtung: als schönstes Beispiel des Lebens wird das Griechenthum geprüft.

Richtig Urtheilen ist schwer.

3 [18]

Dass man nur durch das Alterthum Bildung gewinnen könne, ist nicht wahr. Aber man kann von dort aus welche gewinnen. Doch die Bildung welche man jetzt so nennt, nicht. Nur auf einem ganz castrirten und verlogenen Studium des Alterthums kann unsere Bildung sich erbauen.

Um nun zu sehn, wie wirkungslos dies Studium ist, sehe man nur die Philologen an: die müssten ja am besten durch das Alterthum erzogen sein.

3 [19]

2.

Wie wenig Vernunft, wie sehr der Zufall unter den Menschen herrscht, zeigt das fast regelmässige Missverhältniss zwischen dem sogenannten Lebensberufe und der Disposition dazu: die glücklichen Fälle sind Ausnahmen, wie die glücklichen Ehen, und auch diese werden nicht durch Vernunft herbeigeführt. Der Mensch wählt den Beruf, wo er noch nicht fähig zum Wählen ist; er kennt die verschiedenen Berufe nicht, er kennt sich selbst nicht; er verbringt seine thätigsten Jahre dann in diesem Berufe, verwendet all sein Nachdenken darauf, wird erfahrener; erreicht er die Höhe seiner Einsicht, dann ist es gewöhnlich zu spät, noch etwas Neues zu beginnen, und die Weisheit hat auf Erden fast immer etwas Altersschwaches und Mangel an Muskelkraft an sich gehabt.

Die Aufgabe ist meistens die, wieder gut zu machen, ungefähr zu recht zu legen, was in der Anlage verfehlt war; viele werden erkennen, dass der spätere Theil des Lebens eine Absichtlichkeit zeigt, die aus ursprünglicher Disharmonie entstanden ist; es lebt sich schwer. Am Ende des Lebens ist man's aber doch gewohnt – dann kann man sich über sein Leben irren und seine Dummheit loben: bene navigavi cum naufragium feci, und gar ein Preislied auf die "Vorsehung" anstimmen.

3 [20]

Ich frage nun nach der Entstehung des Philologen und behaupte:

1) der junge Mensch kann noch gar nicht wissen, wer Griechen und Römer sind,

2) er weiss nicht, ob er zu ihrer Erforschung sich eignet,

3) und erst recht nicht, in wiefern er sich mit diesem Wissen zum Lehrer eignet. Das was ihn also bestimmt, ist nicht Einsicht in sich und seine Wissenschaft, sondern

c) allmählich auch die Absicht auf Broderwerb.

Ich meine, 99 von 100 Philologen sollten keine sein.

3 [21]

Strengere Religionen fordern, dass der Mensch seine Thätigkeit nur als ein Mittel eines methaphysischen Planes verstehe: eine misslungene Wahl des Berufs lässt sich dann als Prüfung des Individuums zurechtlegen. Religionen nehmen nur das Heil des Individuums in's Auge: ob das nun Sclave oder Freier, Kaufmann oder Gelehrter ist, sein Lebensziel liegt nicht in seinem Berufe und deshalb ist eine falsche Wahl kein grosses Unglück. Dies diene, die Philologen zu trösten; aber nackte Einsicht für die ächten Philologen: was wird aus einer Wissenschaft, die von solchen 99 betrieben wird? Diese, eigentlich ungeeignete Majorität legt sich die Wissenschaft zurecht und stellt an sich die Forderung nach den Fähigkeiten und Neigungen der Majorität: sie tyrannisirt damit den eigentlichen Befähigten, jenen Hundertsten. Hat sie die Erziehung in den Händen, so erzieht sie bewusst oder unbewusst nach dem eigenen Vorbilde: was wird da aus der Klassicität der Griechen und Römer!

Zu beweisen

A) das Missverhältniss zwischen Philologen und den Alten.

B) die Unfähigkeit der Philologen, mit Hülfe der Alten zu erziehen.

C) die Fälschung der Wissenschaft durch die Unfähigkeit der Majoritäten, die falschen Anforderungen, Verleugnung der eigentlichen Ziele dieser Wissenschaft.

3 [22]

Wie ist wohl einer am geeignetsten zu dieser Schätzung? – Jedenfalls nicht dann, wenn er so zum Philologen abgerichtet wird wie jetzt. Zu sagen, in wiefern die Mittel hier den letzten Zweck unmöglich machen. – Also der Philologe selber ist nicht das Ziel der Philologie. –

3 [23]

Leopardi ist das moderne Ideal eines Philologen; die deutschen Philologen können nichts machen. (Voss ist zu studiren dazu!)

3 [24]

Die Eitelkeit ist die unwillkürliche Neigung, sich als Individuum zu geben, während man keins ist; das heisst, als unabhängig, während man abhängt. Die Weisheit ist das Umgekehrte: sie giebt sich als abhängig, während sie unabhängig ist.

3 [25]

Ein grosser Werth des Alterthums liegt darin, dass seine Schriften die einzigen sind, welche moderne Menschen noch genau lesen.

3 [26]

Überspannung des Gedächtnisses – sehr gewöhnlich bei Philologen, geringere Entwicklung des Urtheils.

3 [27]

Bei der Erziehung des jetzigen Philologen ist der Einfluss der Sprachwissenschaft zu erwähnen und zu beurtheilen; für einen Philologen ziemlich abzulehnen: die Fragen nach den Uranfängen der Griechen und Römer sollen ihn nichts angehen: wie kann man sich auch sein Thema so verderben.

3 [28]

An den Philologen bemerke ich:

  1. Mangel an Respekt vor dem Alterthum,
  2. Weichlichkeit und Schönrednerei, vielleicht gar Apologie,
  3. einfaches Historisiren,
  4. Einbildung über sich selbst,
  5. Unterschätzung der begabten Philologen.

3 [29]

Bergk's Litteraturgeschichte, nicht ein Fünkchen griechischen Feuers und griechischen Sinnes.

3 [30]

Ich freue mich von Bentley zu lesen: "non tam grande pretium emendatiunculis meis statuere soleo, ut singularem aliquam gratiam inde sperem aut exigam".

3 [31]

Horaz ist durch Bentley vor einen Richterstuhl gestellt, den er abweisen müsste. Die Bewunderung, die ein scharfsinniger Mann als Philologe erntet, steht im Verhältniss zur Rarität des Scharfsinns bei Philologen. – Das Verfahren bei Horaz hat etwas Schulmeisterliches, nur dass nicht Horaz selbst censirt werden soll, sondern seine Überlieferer; in Wahrheit und im Ganzen trifft es aber Horaz. Mir steht nun einmal fest, dass eine einzige Zeile geschrieben zu haben, welche es verdient, von Gelehrten späterer Zeit commentirt zu werden, das Verdienst des grössten Critikers aufwiegt. Es liegt eine tiefe Bescheidenheit im Philologen. Texte verbessern ist eine unterhaltende Arbeit für Gelehrte, es ist ein Rebusrathen; aber man sollte es für keine zu wichtige Sache ansehen. Schlimm, wenn das Alterthum weniger deutlich zu uns redete, weil eine Million Worte im Wege stünden!

3 [32]

Ein Schullehrer sagte zu Bentley: „Master, ich werde euren Enkel zu einem ebenso grossen Gelehrten machen als ihr seid." "Wie so? sagte Bentley. Wenn ich nun mehr vergessen hätte, als du je wusstest?"

3 [33]

Bentley, sagt Wolf, ist als Litterator wie als Mensch den grössten Theil seines Lebens hindurch verkannt und verfolgt, oder doch mit Malignität gelobt worden.

3 [34]

Wolf nennt es die Blume aller geschichtlichen Forschung, sich zu den grossen und allgemeinen Ansichten des Ganzen zu erheben und zu der tiefsinnig aufgefassten Unterscheidung der Fortgänge in der Kunst und der verschiedenen Stile. Aber Wolf giebt zu, Winckelmann fehlte jenes gemeinere Talent, die philologische Kritik, oder es kam nicht recht zur Thätigkeit: „eine seltne Mischung von Geistes-Kälte und kleinlicher unruhiger Sorge um hundert an sich geringfügige Dinge mit einem alles beseelenden, das Einzelne verschlingenden Feuer und einer Gabe der Divination, die dem Ungeweihten ein Ärgerniss ist".

3 [35]

„Eben da beweist die Kritik oft ihre beste Kraftäusserung, wo sie aus Gründen zeigt, bis zu welcher Stufe der Überzeugung auf beiden Seiten sich gelangen lasse und warum ein Ausdruck, eine Stelle unheilbar sei. Uns dünkt, die Ärzte, mit denen sich manchmal die Kritiker vergleichen, kennen in ihrer Kunst ganz ähnliche Triumphe."

3 [36]

Bei der oft so tief sich aufdringenden Unsicherheit der Divination macht sich von Zeit zu Zeit eine krankhafte Sucht geltend, um jeden Preis zu glauben und sicher sein zu wollen: z. B. Aristoteles gegenüber, oder im Auffinden von Zahlennothwendigkeiten – bei Lachmann fast eine Krankheit.

3 [37]

3.

Nun wird es nicht mehr verwundern, dass die Bildung der Zeit, bei solchen Lehrern, nichts taugt. Ich entziehe mich nie, eine Schilderung von dieser Unbildung zu machen. Und zwar gerade in Beziehung auf die Dinge, wo man vom Alterthum lernen müsste, wenn man es überhaupt könnte (z. B. Schreiben Sprechen usw.).

3 [38]

Ausser der grossen Zahl unbefähigter Philologen giebt es nun umgekehrt eine Zahl von geborenen Philologen, welche durch irgendwelche Umstände verhindert sind, welche zu werden. Das wichtigste Hinderniss aber, welches diese geborenen Philologen abhält, ist schlechte Repräsentation der Philologie durch die unberufenen Philologen.

3 [39]

Die unwahre Begeisterung für das Alterthum, in der viele Philologen leben. Eigentlich überfällt uns das Alterthum, wenn wir jung sind, mit einer Fülle von Trivialitäten, besonders glauben wir über die Ethik hinaus zu sein. Und Homer und Walter Scott – wer erlangt wohl den Preis? Wenn man ehrlich ist! Wäre die Begeisterung gross, so würde man schwerlich seinen Lebensberuf darin suchen. Ich meine: erst spät beginnt es zu dämmern, was wir an den Griechen haben können: erst nachdem wir viel erlebt, viel durchdacht haben.

3 [40]

Wo zeigt sich die Wirkung des Alterthums? Nicht einmal in der Sprache, nicht in der Nachahmung von irgend etwas, nicht einmal in einer Verkehrtheit, wie die Franzosen sie gezeigt haben. Unsre Museen füllen sich; ich empfinde immer Ekel, wenn ich reine nackte Figuren griechischen Stils sehe: vor der gedankenlosen Philisterei, die alles auffressen will.

3 [41]

Man vergleicht unsere Zeit wirklich mit der Perikleischen in Schulprogrammen, man gratulirt sich zum Wiedererwachen des Nationalgefühls, und ich erinnere mich einer Parodie auf die Leichenrede des Perikles, von G. Freitag, wo dieser mit steifen Hosen geborne Dichter das Glück schildert, das jetzt die 60jährigen Männer empfinden. – Alles reine Carricatur! So die Wirkung! Tiefe Trauer und Hohn und Zurückgezogenheit bleibt dem übrig, der mehr davon gesehn hat.

3 [42]

Sie haben verlernt, zu andern Menschen zu reden, und weil sie nicht zu älteren Leuten reden können, können sie es auch nicht zu jungen.

3 [43]

Es fehlt ihnen die eigentliche Lust an den starken und kräftigen Zügen des Alterthums. Sie werden Lobredner und werden dadurch lächerlich.

3 [44]

Wolf sagt "überall ist es ja meist Weniges, was aus wohl verdauter Gelehrsamkeit gewonnen wird für geistigen Nahrungssaft."

3 [45]

"Nur die Fertigkeit, nach der Weise der Alten zu schreiben, nur eignes productives Talent befähigt uns, fremde Productionen gleicher Art ganz zu verstehen und darin mehr als gewisse untergeordnete Tugenden aufzufassen."

3 [46]

Wolf macht darauf aufmerksam, dass das Alterthum nur Theorien der Rede- und Dichtkunst kannte, welche die Production erleichtern, τεχναι und artes, die wirkliche Redner und Dichter bildeten; "da wir heut zu Tage bald Theorien haben werden, wonach sich eben so wenig eine Rede oder ein Gedicht machen lässt, als ein Gewitter nach einer Brontologie."

3 [47]

"Am Ende dürften nur die Wenigen zu echter vollendeter Kennerschaft gelangen, die mit künstlerischem Talent geboren und mit Gelehrsamkeit ausgerüstet, die besten Gelegenheiten benutzen, die nöthigen technischen Kentnisse sich praktisch und theoretisch zu erwerben." Wolf. Wahr!

3 [48]

Die Alten sind nach Goethe "die Verzweiflung der Nacheifernden."

Voltaire hat gesagt: "wenn die Bewunderer Homers aufrichtig wären, so würden sie die Langeweile eingestehen, die ihnen ihr Liebling so oft verursacht."

3 [49]

4.

Wenn ich sage, die Griechen waren in summa doch sittlicher als die modernen Menschen: was heisst das? Die ganze Sichtbarkeit der Seele im Handeln zeigt schon, dass sie ohne Scham waren; sie hatten kein schlechtes Gewissen. Sie waren offener, leidenschaftlicher, wie Künstler sind, eine Art von Kinder-Naivetät begleitet sie, so haben sie bei allem Schlimmen einen Zug von Reinheit an sich, etwas dem Heiligen Nahes. Merkwürdig viel Individuum, sollte darin nicht eine höhere Sittlichkeit liegen? Denkt man sich ihren Character langsam entstanden, was ist es doch, was zuletzt so viel Individualität erzeugt? Vielleicht Eitelkeit unter einander, Wetteifer? Möglich. Wenig Lust am Conventionellen.

3 [50]

Man denke sich, wie anders eine Wissenschaft sich fortpflanzt, wie anders eine specielle Begabung in einer Familie. Eine leibliche Fortpflanzung der einzelnen Wissenschaft ist etwas ganz Seltenes. Ob die Söhne von Philologen wohl leicht Philologen werden? Dubito. So entsteht keine Accumulation philologischer Fähigkeiten, wie etwa in Beethovens Familie von musikalischen Fähigkeiten. Die meisten fangen von vorn an, und zwar durch Bücher vermittelt, nicht durch Reisen usw. Wohl aber Erziehung.

3 [51]

Die Hadesschatten des Homer – welcher Art von Existenz sind sie eigentlich nachgemalt? Ich glaube, es ist die Beschreibung des Philologen; es ist besser Tagelöhner sein als so eine leblose Erinnerung an Vergangenes – Grosses und Kleines. (Viele Schafe opfern.)

3 [52]

Die Stellung des Philologen zum Alterthum ist entschuldigend oder auch von der Absicht eingegeben, das was unsere Zeit hochschätzt, im Alterthum nachzuweisen. Der richtige Ausgangspunct ist der umgekehrte: nämlich von der Einsicht in die moderne Verkehrtheit auszugehn und zurückzusehn – vieles sehr Anstössige im Alterthum erscheint dann als tiefsinnige Nothwendigkeit.

Man muss sich klar machen, dass wir uns ganz absurd ausnehmen, wenn wir das Alterthum vertheidigen und beschönigen: was sind wir!

3 [53]

Jede Religion hat für ihre höchsten Bilder ein Analogon in einem Seelenzustande. Der Gott Mahomets die Einsamkeit der Wüste, fernes Gebrüll des Löwen, Vision eines schrecklichen Kämpfers. Der Gott der Christen – alles was si Männer und Weiber bei dem Worte „Liebe" denken. Der Gott der Griechen: eine schöne Traumgestalt.

3 [54]

Wer keinen Sinn für das Symbolische hat, hat keinen für das Alterthum: diesen Satz wende man auf die nüchternen Philologen an.

3 [55]

Es ist die Sache des freien Mannes, seiner selbst wegen und nicht in Hinsicht auf andre zu leben. Deshalb hielten die Griechen das Handwerk für unanständig.

3 [56]

Mit Arbeitsamkeit lässt sich nicht viel erzwingen, wenn der Kopf stumpf ist. Über Homer her fallende Philologen glauben, man könne es erzwingen. Das Alterthum redet mit uns, wenn es Lust hat, nicht wenn wir.

3 [57]

Die ausgezeichnete Tochter Joanna bedauerte Bentley, dass er soviel Zeit und Talent auf die Kritik fremder Werke verwandt habe, anstatt auf selbständige Compositionen. „Bentley schwieg eine Zeitlang wie in sich gekehrt; endlich sagte er, ihre Bemerkung sei ganz richtig; er fühle selbst, dass er seine Naturgaben vielleicht noch anders hätte anwenden sollen: indess habe er früher etwas zur Ehre Gottes und zum Besten seiner Mitmenschen gethan (er meint seine Confutation of Atheism); nachher aber habe ihn der Genius der alten Heiden an sich gelockt, und in der Verzweiflung, sich auf einem andern Wege zu ihrer Höhe zu erheben, sei er ihnen auf die Schultern gestiegen, um so über ihre Köpfe hinwegzusehn."

3 [58]

"Den Griechen verdanken die Neuern vorzüglich, dass bei ihnen, die das Schöne immer nach dem Nützlichen suchten, nicht alles Wissen wiederum kastenmässig, dass die bessere Cultur nicht gänzlich in den Dienst der Civilisation zurückgewiesen worden, dass sogar verschiedene Studien, die als eine Art von Luxus unbelohnt bleiben müssen, wenigstens niemanden, der auf des Staates Hülfe verzichtet, untersagt werden."

3 [59]

Merkwürdig ist Wolf's Urtheil über die Liebhaber philologischer Kenntnisse: fanden sie sich von der Natur mit Anlagen ausgestattet, die dem Geiste der Alten verwandt oder einer leichten Versetzung in fremde Denkarten und Lagen des Lebens empfänglich waren, so erlangten sie allerdings durch solche halbe Bekanntschaften mit den besten Schriftstellern mehr von dem Reichthume jener kraftvollen Naturen und grossen Muster im Denken und Handeln als die meisten von denen, die ihnen sich lebenslang zu Dolmetschern anboten."

3 [60]

5.

So wie der Mensch zu seinem Lebensberufe steht, skeptisch-melancholisch, so sollen wir uns zu dem höchsten Lebensberufe eines Volkes stellen: um zu begreifen, was Leben ist.

3 [61]

Mein Trost gilt besonders auch den tyrannisirten Einzelnen: diese mögen einfach alle jene Majoritäten wie ihre Hülfsarbeiter behandeln, und ebenso mögen sie sich das Vorurtheil, das noch zu Gunsten des klassischen Unterrichtes verbreitet ist, zu Nutze machen; sie brauchen viele Arbeiter. Sie haben aber unbedingte Einsicht in ihre Ziele nöthig.

3 [62]

Die Philologie als Wissenschaft um das Alterthum hat natürlich keine ewige Dauer, ihr Stoff ist zu erschöpfen. Nicht zu erschöpfen ist die immer neue Accommodation jeder Zeit an das Alterthum, das sich daran Messen. Stellt man dem Philologen die Aufgabe, seine Zeit vermittelst des Alterthums besser zu verstehen, so ist seine Aufgabe eine ewige. – Dies ist die Antinomie der Philologie: man hat das Alterthum thatsächlich immer nur aus der Gegenwart verstanden – und soll nun die Gegenwart aus dem Alterthum verstehen? Richtiger: aus dem Erlebten hat man sich das Alterthum erklärt, und aus dem so gewonnenen Alterthum hat man sich das Erlebte taxirt, abgeschätzt. So ist freilich das Erlebniss die unbedingte Voraussetzung für einen Philologen – das heisst doch: erst Mensch sein, dann wird man erst als Philolog fruchtbar sein. Daraus folgt, dass ältere Männer sich zu Philologen eignen, wenn sie in der erlebnissreichsten Zeit ihres Lebens nicht Philologen waren.

Oberhaupt aber: nur durch Erkentniss des Gegenwärtigen kann man den Trieb zum klassischen Alterthum bekommen. Ohne diese Erkentniss – wo sollte da der Trieb herkommen? Wenn man zusieht, wie wenige Philologen es ausser denen, die davon leben, giebt, kann man schliessen, wie es im Grunde mit diesem Triebe zum Alterthum steht, er existirt fast nicht; denn es giebt keine uneigennützigen Philologen.

So ist die Aufgabe zu stellen: der Philologie ihre allgemein erziehende Wirkung zu erobern. Mittel: Beschränkung des Philologenstandes, zweifelhaft ob die Jugend damit bekannt zu machen. Kritik des Philologen. Die Würde des Alterthums: sie sinkt mit euch: wie tief müsst ihr gesunken sein, da es diese Würde jetzt so wenig hat!

3 [63]

Die meisten Menschen halten sich offenbar für gar keine Individuen; das zeigt ihr Leben. Die christliche Forderung, dass jeder seine Seligkeit und diese allein im Auge habe, hat als Gegensatz das allgemeine menschliche Leben, wo jeder nur als ein Punct zwischen Puncten lebt, nicht nur ganz und gar Resultat früherer Geschlechter, sondern auch nur im Hinblick auf kommende lebend. Nur bei drei Existenzformen bleibt der Mensch Individuum: als Philosoph, Heiliger und Künstler. Man sehe nur, womit ein wissenschaftlicher Mensch sein Leben todt schlägt: was hat die griechische Partikellehre mit dem Sinne des Lebens zu thun? – So sehen wir auch hier, wie zahllose Menschen eigentlich nur als Vorbereitung eines wirklichen Menschen leben: z. B. die Philologen als Vorbereitung des Philosophen, der ihre Ameisenarbeit zu nutzen versteht, um über den Werth des Lebens eine Aussage zu machen. Freilich ist, wenn es keine Leitung giebt, der grösste Theil jener Ameisenarbeit einfach Unsinn und überflüssig.

3 [64]

Die meisten Menschen sind offenbar zufällig auf der Welt: es zeigt sich keine Nothwendigkeit höherer Art in ihnen. Sie treiben dies und das, ihre Begabung ist mittelmässig. Wie sonderbar! Die Art wie sie nun leben zeigt, dass sie selbst nichts von sich halten, sie geben sich preis, indem sie sich an Lumpereien wegwerfen (seien das nun kleinliche Passionen oder Quisquilien des Berufs). In den sogenannten "Lebensberufen", welche jedermann wählen soll, liegt eine rührende Bescheidenheit der Menschen: sie sagen damit, wir sind berufen unseresgleichen zu nützen und zu dienen, und der Nachbar ebenfalls und dessen Nachbar auch; und so dient jeder dem andern, keiner hat seinen Beruf, seiner selbst wegen da zu sein, sondern immer wieder anderer wegen; so haben wir eine Schildkröte, die auf einer anderen ruht und diese wieder auf einer und so fort. Wenn jeder seinen Zweck in einem anderen hat, so haben alle keinen Zweck in sich, zu existiren; und dies „ für einander existiren" ist die komischste Komödie.

3 [65]

Die glücklichste und behaglichste Gestaltung der politischsocialen Lage ist am wenigsten bei den Griechen zu finden; jenes Ziel schwebt unseren Zukunftsträumern vor. Schrecklich! Denn man muss es nach dem Maassstab beurtheilen: je mehr Geist, desto mehr Leid (wie die Griechen beweisen). Also auch: je mehr Dummheit, desto mehr Behagen. Der Bildungsphilister ist das behaglichste Geschöpf, welches je die Sonne gesehen hat; er wird eine gehörige Dummheit haben.

3 [66]

Es ist eine falsche Auffassung zu sagen: "immer gab es eine Kaste welche die Bildung eines Volkes verwaltete": folglich sind die Gelehrten nöthig. Denn die Gelehrten haben eben nur das Wissen um die Bildung (selbst dies nur besten Falls). Es wird wohl auch unter uns gebildetere Menschen geben, schwerlich eine Kaste; aber diese können sehr wenige sein.

3 [67]

Die Beschäftigung mit vergangenen Cultur-Epochen Dankbarkeit? Um sich die gegenwärtigen Culturzustände zu erklären, sehe man rückwärts: zu panegyrisch gegen unsere Zustände wird man gewiss nicht, vielleicht muss man es aber thun, um nicht zu hart gegen uns selbst zu sein.

3 [68]

Mein Ziel ist: volle Feindschaft zwischen unserer jetzigen „Cultur" und dem Alterthum zu erzeugen. Wer der ersten dienen will, muss das letztere hassen.

3 [69]

Ein sehr genaues Zurückdenken führt zu der Einsicht, dass wir eine Multiplication vieler Vergangenheiten sind: wie könnten wir nun auch letzter Zweck sein? – Aber warum nicht? Meistens aber wollen wir's gar nicht sein, stellen uns gleich wieder in die Reihe, arbeiten an einem Eckchen und hoffen, es werde für die Kommenden nicht ganz verloren sein. Aber das ist wirklich das Fass der Danaiden: es hilft nichts, wir müssen alles wieder für uns und nur für uns thun und z. B. die Wissenschaft an uns messen, mit der Frage: was ist uns die Wissenschaft? Nicht aber: was sind wir der Wissenschaft? Man macht sich wirklich das Leben zu leicht, wenn man sich so einfach historisch nimmt und in den Dienst stellt. "Das Heil deiner selbst geht über alles" soll man sich sagen: und es giebt keine Institution, welche du höher zu achten hättest als deine eigne Seele. – Nun aber lernt sich der Mensch kennen: findet sich erbärmlich, verachtet sich, freut sich, ausser sich etwas Achtenswürdiges zu finden. Und so wirft er sich fort, indem er sich irgendwo einordnet, streng seine Pflicht thut und seine Existenz abbüsst. Er weiss, dass er nicht seiner selbst wegen arbeitet; er wird denen helfen wollen, welche es wagen, ihrer selbst wegen da zu sein; wie Socrates. Wie ein Haufen Gummiblasen hängen die meisten Menschen in der Luft, jeder Windhauch rührt sie. – Consequenz: der Gelehrte muss es aus Selbsterkentniss, also aus Selbstverachtung sein: d. h. er muss sich als Diener eines Höheren wissen, der nach ihm kommt. Sonst ist er ein Schaf.

3 [70]

Man glaubt es sei zu Ende mit der Philologie – und ich glaube, sie hat noch nicht angefangen.

Die grössten Ereignisse, welche die Philologie getroffen haben, sind das Erscheinen Goethes Schopenhauers und Wagners: man kann damit einen Blick thun, der weiter reicht. Das 5te und 6te Jahrhundert sind jetzt zu entdecken.

3 [71]

Ich empfehle an Stelle des Lateinischen den griechischen Stil auszubilden, besonders an Demosthenes: Einfachheit. Auf Leopardi zu verweisen, der vielleicht der grösste Stilist des Jahrhunderts ist.

3 [72]

"Graiis – praeter laudem nullius avaris" sagt Horaz. Er nennt ihre Hauptthätigkeit nugari (ep. II 93), charakteristisch für den Römer.

3 [73]

Wolf "auf alle Weise ist, es ein Vorurtheil zu meinen, dass die Geschichte der Welthändel in dem Grade glaubwürdiger werde, als sie sich unseren Tagen mehr nähern."

3 [74]

Hauptgesichtspuncte in Bezug auf spätere Geltung des Alterthums.

  1. Es ist nichts für junge Leute, denn es zeigt den Menschen mit einer Freiheit von Scham.
  2. Es ist nichts zur direkten Nachahmung, belehrt aber, auf welchem Wege bisher die höchste Ausbildung der Kunst erreicht wurde.
  3. Es ist nur für Wenige zugänglich, und es sollte eine Polizei der Sitte da sein, wie sie gegen schlechte Pianisten da sein sollte, die Beethoven spielen.
  4. Diese Wenigen messen daran unsere Gegenwart, als Kritiker derselben und sie messen das Alterthum an ihren Idealen und sind so Kritiker des Alterthums.
  5. Der Contrast zwischen Hellenisch und Römisch, und wieder zwischen Althellenisch und Späthellenisch zu studiren. – Aufklärung über die verschiedenen Arten von Cultur.

3 [75]

Ich will einmal sagen, was ich alles nicht mehr glaube – auch was ich glaube.

In dem grossen Strudel von Kräften steht der Mensch und bildet sich ein, jener Strudel sei vernünftig und habe einen vernünftigen Zweck: Irrthum!

Das einzige Vernünftige, was wir kennen, ist das Bischen Vernunft des Menschen: er muss es sehr anstrengen, und es läuft immer zu seinem Verderben aus, wenn er sich etwa „der Vorsehung" überlassen wollte.

Das einzige Glück liegt in der Vernunft, die ganze übrige Welt ist triste. Die höchste Vernunft sehe ich aber in dem Werk des Künstlers, und er kann sie als solche empfinden; es mag etwas geben, das, wenn es mit Bewusstsein hervorgebracht werden könnte, ein noch grösseres Gefühl von Vernunft und Glück ergäbe: z. B. der Lauf des Sonnensystems, die Erzeugung und Bildung eines Menschen.

Glück liegt in der Geschwindigkeit des Fühlens und Denkens: alle übrige Welt ist langsam, allmählich und dumm. Wer den Lauf des Lichtstrahls fühlen könnte, würde sehr beglückt sein, denn er ist sehr geschwind.

An sich denken giebt wenig Glück: wenn man aber viel Glück dabei hat, liegt es daran, dass man im Grunde nicht an sich, sondern an sein Ideal denkt. Dies ist ferne, und nur der Geschwinde erreicht es und freut sich.

Eine Verbindung eines grossen Centrums von Menschen zur Erzeugung von besseren Menschen ist die Aufgabe der Zukunft. Der Einzelne muss an solche Ansprüche gewöhnt werden, dass, indem er sich selbst bejaht, er den Willen jenes Centrums bejaht z. B. in Bezug auf die Wahl, die er unter den Weibern trifft, über die Art, wie er sein Kind erzieht. Bis jetzt war kein Individuum oder nur die seltensten frei, sie wurden durch solche Vorstellungen auch bestimmt, aber durch schlechte und widerspruchsvolle. Organisation der individuellen Absichten.

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Wenn man von der Gesinnung und Gesittung des katholischen Mittelalters aus nach den Griechen hinschaut, da strahlen sie freilich im Glanze der höheren Humanität: denn alles, was man ihnen vorwerfen wird, muss man in viel höherem Maasse dem Mittelalter selber vorwerfen. So ist die Verehrung der Alten in der Renaissance-Zeit ganz ehrlich und recht. Nun haben wir in Einigem es noch weiter gebracht, gerade auf Grund jenes erwachenden Lichtstrahls. Wir haben in der Aufhellung der Welt die Griechen überholt, durch Natur- und Menschengeschichte, und unsere Kenntnisse sind viel grösser, unsere Urtheile mässiger und gerechter. Auch eine mildere Menschlichkeit ist verbreitet, dank der Aufklärungszeit, welche den Menschen geschwächt hat – aber diese Schwäche nimmt sich, in's Moralische umgewandelt, sehr gut aus und ehrt uns. Der Mensch hat jetzt sehr viel Freiheit, es ist seine Sache, dass er sie so wenig gebraucht; der Fanatismus des Meinens ist sehr gemildert. Dass wir zuletzt doch lieber in dieser als in einer andren Zeit leben wollen, ist wesentlich das Verdienst der Wissenschaft, und gewiss gab es für kein Geschlecht eine solche Summe von edlen Freuden, wie für unseres – wenn auch unser Geschlecht gerade nicht den Magen und Gaumen hat, viel Freude empfinden zu können. – Nun lebt es sich bei aller dieser „Freiheit" nur gut, wenn man eben nur begreifen, nicht mitmachen will – das ist der moderne Haken. Die Mitmachenden erscheinen weniger reizvoll als je; wie dumm müssen sie sein!

So entsteht die Gefahr, dass das Wissen sich an uns räche, wie sich das Nichtwissen während des Mittelalters an uns gerächt hat. Mit den Religionen, welche an Götter, an Vorsehungen, an vernünftige Weltordnungen, an Wunder und Sakramente glauben, ist es vorbei, auch bestimmte Arten von heiligem Leben, von Askese sind vorbei, weil wir leicht auf ein verletztes Gehirn und auf Krankheit schliessen. Es ist kein Zweifel, der Gegensatz von einer reinen unkörperlichen Seele und einem Leibe ist fast beseitigt. Wer glaubt noch an eine Unsterblichkeit der Seele! Alles Segensvolle und Verhängnissvolle, was somit auf gewissen irrthümlichen physiologischen Annahmen beruhte, ist hinfällig geworden, sobald diese Annahmen als Irrthümer erkannt sind. Das was nun jetzt die wissenschaftlichen Annahmen sind, lässt ebensowohl eine Deutung und Benutzung in's Verdummend-Philisterhafte, ja in's Bestialische zu, als eine Deutung in's Segensreiche und Beseelende. Unser Fundament ist neu gegen alle früheren Zeiten, deshalb kann man vom Menschengeschlecht noch etwas erleben. – In Betreff der Cultur heisst dies: wir kannten bisher nur eine vollkommene Form, das ist die Stadtkultur der Griechen, auf ihren mythischen und socialen Fundamenten ruhend, und eine unvollkommene, die römische, als Dekoration des Lebens, entlehnend von der griechischen. Jetzt haben sich nun alle Fundamente, die mythischen und die politisch-socialen verändert; unsere angebliche Cultur hat keinen Bestand, weil sie sich auf unhaltbare, fast schon verschwundene Zustände und Meinungen aufbaut. – Die griechische Cultur vollständig begreifend sehen wir also ein, dass es vorbei ist. So ist der Philologe der grosse Skeptiker in unseren Zuständen der Bildung und Erziehung: das ist seine Mission. – Glücklich, wenn er, wie Wagner und Schopenhauer, die verheissungsvollen Kräfte ahnt, in denen eine neue Cultur sich regt.


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