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Bex vom 3 October an
19 [1]
1. Philologie ist die Kunst, in einer Zeit, welche zu viel liest, lesen zu lernen und zu lehren. Allein der Philologe liest langsam und denkt über sechs Zeilen eine halbe Stunde nach. Nicht sein Resultat, sondern diese seine Gewöhnung ist sein Verdienst.
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2. Die Geschichte der Philologie ist die Geschichte einer Gattung von fleißigen aber unbegabten Menschen. Daher die unsinnige Bekämpfung und spätere Überschätzung einiger scharfsinnigeren und reicheren Naturen, welche unter die Philologen gerathen sind.
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3. Daß die Philologen dazu befähigt sind (mehr als z.B. die Mediciner), die Jugend zu erziehen, ist ein Vorurtheil, welches noch dazu täglich durch die Erfahrung lügen gestraft wird. Man macht es also hier, wie bei den Straßenfegern, welche auch niemand darauf hin prüft, ob sie am besten verstehen, die Straße zu fegen; genug daß sie den Willen zu diesem unsauberen Geschäft haben. Ebenso weist jeder Stand das Geschäft der Jugenderziehung von sich ab und ist zufrieden, daß die Philologen es – nicht thun.
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4. Das Alterthum ist in allen Hauptsachen von Künstlern Staatsmännern und Philosophen entdeckt worden, nicht von Philologen: und dies bis auf den heutigen Tag.
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5. Daß man eine Sophokleische Tragödie an 100 Stellen falsch verstehen und an vielen verdorben Stellen einfach vorübergehen, aber doch die Tragödie besser verstehen und erklären kann als der gründlichste Philologe, das wollen die Philologen nicht glauben.
Wer einen geistreichen Autor liest und am Schlusse glaubt, er habe alles verstanden, exc. – der ist glücklich.
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6. Ich glaube Shakespeare besser zu verstehen als neuenglische Sprachlehrer, obwohl ich viele Fehler mache. Im Allgemeinen wird sogar jedermann einen alten Autor besser verstehen als der philologische Sprachlehrer: woher kommt das? – Daher daß Philologen nichts außer altgewordenen Gymnasiasten sind.
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8. Feineren Geistern wird von solchen ein Zwang angethan, welche immer Geschichten erzählen, über die man lachen soll: wo es nicht genügt zu lächeln.
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12. Ein Meister wird seinen Umgang unter Meistern anderer Künste wählen und unter seinen Schülern sein, aber nicht bei den Fachgenossen und überhaupt nicht bei denen, welche nur Fachleute sind, und keine Meister.
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14. Die welche sich mit uns freuen können, stehen höher und uns näher als die welche mit uns leiden. Mitfreude macht den „Freund" (den Mitfreuenden), Mitleid den Leidensgefährten. – Eine Ethik des Mitleidens braucht eine Ergänzung durch die noch höhere Ethik der Freundschaft.
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15. Die Menschen werden je nach ihrer Heimat Protestanten Katholiken Türken, wie einer, der in einem Weinlande geboren wird, ein Weintrinker wird.
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17. Wer sich im Ganzen viel versagt, wird sich im Kleinen leicht Indulgenz geben. So hat es vielleicht keinen Stand gegeben, welcher unter dem Erotischen so sehr allein Ausschweifungen verstand, wie den katholischen Priesterstand, welcher der Liebe entsagte. Dafür erlaubte er sich die gelegentliche Lust.
19 [12]
18. Man kann höchst passend reden und doch so daß alle Welt über das Gegentheil schreit. So redete Sokrates sehr passend, aber vor einem weltgeschichtlichen Forum: seine Richter urtheilten umgekehrt. – Die Meister reden sich zu ihren Hörern herab.
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19. Wenn man keinen guten Vater hat, so soll man sich einen anschaffen. Daß ein Sohn sich einen Vater adoptirt, ist vernünftiger als das Gegentheil: weil er sehr viel genauer weiß, was er braucht.
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20. Das Ansehen der Ärzte beruht auf der Unwissenheit der Gesunden und Kranken: und diese Unwissenheit wiederum beruht auf dem Ansehen der Ärzte.
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21. Der beste Arzt wird nur Einen Patienten haben können; jeder Mensch ist eine Krankheitsgeschichte.
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23. Einen Autor, der sich nicht nennt, zu errathen und zu verrathen heißt ihn so behandeln als ob man mit einem verkleideten Verbrecher oder mit einer schelmischen Schönen zu thun habe, was oft genug erlaubt sein mag,: aber es giebt Fälle, wo man seine Verschwiegenheit mindestens ebenso zu ehren hat, wie die eines incognito reisenden Fürsten.
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Die Schätzung von Eigenschaften kann nur vergleichend sein, das eigne Interesse will die höchste Schätzung.
Wetteifer oder Vernichtung.
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24. Die Illusion des Geschlechtstriebs ist ein Netz, das, wenn es zerrissen wird, sich immer von selbst wieder strickt.
19 [19]
27. Um den Vortheil einer gefährlichen Geldspekulation zu haben, muß man es wie beim kalten Bade machen – schnell hinein, schnell heraus.
19 [20]
28. Der dramatische Musiker muß nicht nur Ohren, sondern auch Augen in den Ohren haben.
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32. Die Arbeiter klagen daß sie überarbeitet werden. Aber dieselbe Überarbeitung findet sich überall, bei den Kaufleuten Gelehrten Beamten Militärs: bei den reichen Klassen erscheint die Überarbeitung als innerer Trieb der allzugroßen Thätigkeit, bei den Arbeitern wird sie äußerlich erzwungen, das ist der Unterschied. Eine Milderung dieses Triebes käme indirekt auch dem Arbeiter zu Gute. Er möge nicht glauben, daß der jetzige Banquier genußreicher oder würdiger als er lebt.
19 [22]
35. Die meisten Schriftsteller schreiben schlecht weil sie uns nicht ihre Gedanken sondern das Denken der Gedanken mittheilen. Oft ist es Eitelkeit was die Periode so voll macht, es ist das begleitende Gegacker der Henne, welche uns auf das Ei aufmerksam machen will, nämlich auf irgend einen inmitten der vollen Periode stehenden kleinen Gedanken.
19 [23]
36. Der Mensch ist als Kind vom Thier am weitesten entfernt, sein Intellekt am menschlichsten. Mit dem fünfzehnten Jahre und der Pubertät tritt er dem Thiere einen Schritt näher, mit dem Besitzsinne der dreissiger Jahre (der mittleren Linie zwischen Faulheit und Begehrlichkeit) noch einen Schritt. Im sechzigsten Lebensjahr verliert sich häufig noch die Scham; dann tritt der siebzigjährige Alte ganz als entschleierte Bestie vor uns hin: man sehe nur nach Augen und Gebiß.
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38. Der ungehorsam und Unabhängigkeit, namentlich innerliche, der Söhne gegen die Väter geht gewöhnlich gerade so weit als möglich d. h. als es der Vater irgend wie noch erträgt; woraus sich ergiebt daß es viel unangenehmer ist Vater zu sein als Sohn.
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Ironie ist unedel.
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41. Sobald man begriffen hat, daß ein Fürst bei politischen Veränderungen seines Landes nicht mehr in Betracht kommt und nur noch für die Höflinge und das Landvolk interessant ist, soll man ihm aus dem Wege gehen, da man ihn nicht als Privatmann behandeln darf.
19 [27]
42. Der Thätige will sich durch die Kunst zerstreuen, der Künstler verlangt höchste Sammlung. Folglich müssen sie mit einander unzufrieden sein und sich in einander verbeißen. Die Kunst ist eben gar nicht für diese Thätigen da, sondern für jene, welche einen Überschuß von Muße haben und also ihren höchsten Ernst ausnahmsweise dem Künstler schenken können: für die Existenz dieser Klasse der müssigen Olympier haben jene Thätigen (seien sie Arbeiter oder Banquiers oder Beamte) mit ihrer Überarbeit zu sorgen. Ist die Existenz dieser Klasse ein Übel, so ist auch die Kunst ein Übel.
Kunst die Thätigkeit der Müssigen.
Lüste bilden die Muße der Thätigen.
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43. In 50 Jahren versteht sich jeder kräftige Mann in Europa auf die Waffen und das militärische Manövriren, der besser Befähigte sogar auf die Taktik. Jeder der von da an Meinungen zur Herrschaft bringen wird, mag wissen, daß er ein geübtes Heer für seine Meinungen gewonnen hat. Das wird die Geschichte der Meinungen bestimmen.
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45. Dreiviertel aller Lügen sind durch die Antithese in die Welt gekommen.
19 [30]
Ton der Jugend zu laut.
19 [31]
Der Eitele und der Verliebte wähnen, einer andren Person wegen eitel oder verliebt zu sein.
19 [32]
50. Der beste Autor schämt sich Schriftsteller zu sein, er ist zu reich an Gedanken und zu vornehm, als daß er sich nicht schämen sollte, seinen Reichthum anders als nur gelegentlich sehen zu lassen.
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51. Um eine Traube und ein Talent zur Reife zu bringen, dazu gehören ebenso Regen- als Sonnentage.
19 [34]
52. Man unterschätzt den Werth einer bösen That, wenn man nicht in Anschlag bringt, wie viel Zungen sie in Bewegung setzt, wie viel Energie sie entfesselt und wie vielen Menschen sie zum Nachdenken oder zur Erhebung dient.
19 [35]
53. Die Verdunkelung von Europa kann davon abhängen ob fünf oder sechs freiere Geister sich treu bleiben oder nicht.
19 [36]
54. Niemand ist für seine Thaten verantwortlich, niemand für sein Wesen: richten ist soviel als ungerecht sein. Dies gilt auch, wenn das Individuum über sich richtet. – Der Satz ist so hell wie Sonnenlicht und doch geht hier jedermann lieber in den Schatten und die Unwahrheit: aus Furcht völlig die Sehkraft zu verlieren, also der vermeintlichen Folgen wegen.
19 [37]
55. Moralität wird allein dadurch verbreitet, daß was den Intellekt aufhellt möglichst viel neue und höhere Möglichkeiten des Handelns kennen lehrt und damit eine Menge neuer Motive des Handelns zur Auswahl darbietet, sodann daß man Gelegenheiten giebt. Der Mensch wird von einem niederen Motiv sehr häufig nur deshalb ergriffen, weil er ein höheres nicht kannte, und er bleibt mittelmäßig und niedrig in seinen Handlungen, weil ihm keine Gelegenheit geboten wurde, seine größeren und reineren Instinkte hervorzukehren. – Viele Menschen warten ihr Lebenlang auf die Gelegenheit, auf ihre Art gut zu sein.
19 [38]
56. Bei der Wahl zwischen einer leiblichen und geistigen Nachkommenschaft, hat man zu Gunsten letzterer zu erwägen, daß man hier Vater und Mutter in Einer Person ist und daß das Kind, wenn es geboren ist, keiner Erzielung mehr, sondern nur der Einführung in die Welt bedarf.
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59. Von zwei übeln Empfindungen kann allmählich die Philosophie erlösen: erstens von der Furcht auf dem Sterbebette, weil da nichts zu fürchten ist, zweitens von der Reue und Gewissensqual nach der That, weil jede That ganz unvermeidlich war. Hinsichtlich alles Vergangenen ist ein kalter Fatalismus die philosophische Gesinnung.
Der Unmuth über eine That wird aber vielleicht nicht geringer, wenn ich einsehe, daß sie Nothwendigkeit war: es ist ein Schmerz, der sich nicht durch Vorwurf Rache usw. erleichtern kann. Denn seine ganze Natur sein esse der That zu bezichtigen ist nur eine neue Stufe derselben Unvernunft, welche uns für jede einzelne Handlung verantwortlich machen will. Weil der Unmuth da ist, so muß Verantwortlichkeit da sein, also irgendwo eine Freiheit: so kam Schopenhauer auf den Begriff der intelligiblen Freiheit. Aber die Thatsache des Unmuths beweist nicht die rationelle Vernünftigkeit dieses Unmuthes: und nur, wenn es so stünde, würde man in der Schopenhauerschen Weise fortschließen können. – Der Unmuth ist übrigens zwar jetzt da, aber kann vielleicht abgewöhnt werden.
Wenn aber die schlechte ungeschickte Handlung keinen Unmuth nach sich zieht, so würde diese kalte Gesinnung, welche man sich in Hinsicht der Vergangenheit angewöhnt hätte, auch die Freude am Gethanen entwurzelt haben. Nun wird aber das Handeln der Menschen durch die Anticipation der zu erwerbenden Lust oder Unlust bestimmt: fällt diese weg, so hielte ihn keine Empfindung mehr von der schlechten Handlung zurück, und zöge ihn nichts mehr zu der guten That hin. Er würde in Hinsicht auf das Kommende ebenso kalt wie in Hinsicht auf das Vergangene. Jetzt träte die kalte Überlegung ein, ob Leben oder Nichtleben vorzuziehen sei: und der Selbstmord aus Besonnenheit wäre die Folge. In Erkenntniß oder Witterung dieses Sachverhaltes sträubt sich jeder Mensch, und auch jede Ethik gegen die Aufhebung der Freiheit: letztere mit Unrecht, da die Philosophie durchaus nicht auf die Consequenzen der Wahrheit sondern nur auf sie zu achten hat. – Dass das Leben als Ganzes keine Folge der Empfindung (Lust oder Unlust) haben soll, wird aus demselben Grunde abgewehrt (daher die Bedeutung, die dem Sterbebette zugeschrieben wird).
19 [40]
65. „Werde der, der du bist": das ist ein Zuruf, welcher immer nur bei wenig Menschen erlaubt, aber bei den allerwenigsten dieser Wenigen überflüssig ist.
19 [41]
66. Die Ethik jeder pessimistischen Religion besteht in Ausflüchten vor dem Selbstmorde.
19 [42]
70. Und was kam ihrer Tugend zu Hülfe? Die Stimme des Gewissens? – O nein, die Stimme der Nachbarin.
19 [43]
71. Selbstgenügsame Leute zeigen mitunter sich aus Gutmüthigkeit eitel: z. B. um die Eitelkeit bestimmter Klassen nicht zu beschämen.
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72. Der Selbstgenügsame wird eitel, wenn er die höhere Selbstgenügsamkeit eines Anderen empfindet, was aber selten vorkommt.
19 [45]
73. Es läßt keinen Schluß auf die Begabung zu, ob jemand vorwiegend eitel oder selbstgenügsam ist: das größte Genie ist mitunter eitel gleich einem jungen Mädchen und wäre im Stande sich die Haare zu färben. Diese Eitelkeit ist vielleicht die übriggebliebene und großgewachsene Gewohnheit, aus der Zeit her, wo er noch kein Recht hatte, an sich zu glauben und diesen Glauben erst von anderen Menschen in kleinen Münzen einbettelte.
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79. Man entkommt häufig seinen Verfolgern eher dadurch daß man langsamer als daß man schneller geht; das gilt namentlich bei litterarischen Verfolgungen.
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Kotzebue – „in ihm leben weben und sind wir".
Shakespeare, Zufall in der Geschichte des Theaters.
Schiller ist ein besserer Theaterdichter.
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84. Der Fromme fühlt sich dem Unfrommen überlegen: an christliche Demuth will ich glauben, wenn ich sehe daß der Fromme sich vor dem Unfrommen erniedrigt.
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Ich verändere manche Rhythmen der Periode wegen der Leser.
19 [50]
90. Man schenkt jemandem lieber sein ganzes Herz als sein ganzes Geld. – Wie kommt das? – Man schenkt sein Herz und hat es noch, aber das Geld hat man nicht mehr.
19 [51]
93. Kein Schriftsteller hat bis jetzt genug Geist gehabt, um rhetorisch schreiben zu dürfen.
19 [52]
96. Eine schöne Frau hat doch Etwas mit der Wahrheit gemein (was auch die Lästerer sagen mögen!): beide beglücken mehr, wenn sie begehrt, als wenn sie besessen werden.
19 [53]
99. Ein Bündniß ist fester, wenn die Verbündeten an einander glauben als von einander wissen: weshalb unter Verliebten das Bündniß fester vor der ehelichen Verbindung als nach derselben ist.
19 [54]
100. Kein Fürst, der Krieg führen wollte, war je um einen casus belli verlegen. Aber alle Motive, welche wir öffentlich zu erkennen geben, zeigen, daß wir Alle nie um einen casus belli verlegen sind. Jede Handlung wird aus Motiven gethan und aus einem angeblichen Motive.
19 [55]
103. Ein Staatsmann zertheilt die Menschen in zwei Gattungen, erstens Werkzeuge, zweitens Feinde. Eigentlich giebt es also für ihn nur Eine Gattung von Menschen: Feinde.
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108. Entweder macht man sich mit Hülfe einer Religion das äußere Leben schwer und das innere leicht oder umgekehrt: ersteres ist der Fall beim Christenthum, letzteres beim Zugrundegehen der Religionen. Daraus ergiebt sich, daß eine Religion entsteht um das Herz zu erleichtern und zu Grunde geht, wenn sie hier nichts mehr zu erleichtern hat.
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110. "Ein Geist ist gerade so tief als er hoch ist" sagte Jemand. Nun denkt man bei der Bezeichnung "hoher Geist" an die Kraft und Energie des Aufschwunges, Fluges, bei der Bezeichnung „tiefer Geist" an die Entferntheit des Zieles, zu welchem, der Geist seinen Weg genommen halt. Der Satz will also sagen: ein Geist kommt eben so weit als er fliegen kann. Dies ist aber nicht wahr: selten kommt ein Geist so weit, als er überhaupt fliegen konnte. Also muß der Satz lauten: selten ist ein Geist so tief als er hoch ist.
19 [58]
111. Wenn früher die Pocken die Kraft und Gesundheit einer körperlichen Constitution auf die Probe stellten und den Menschen, welche sie nicht bestanden, tödtlich wurden: so kann man vielleicht jetzt die religiöse Infektion als eine solche Probe für die Kraft und Gesundheit der geistigen Constitution betrachten. Entweder überwindet man sie, oder man geht geistig daran zu Grunde.
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Elemente der Bildung.
19 [60]
113. Verträge europäischer Staaten gelten jetzt genau solange als der Zwang da ist, welcher sie schuf. Das ist also ein Zustand, in welchem die Gewalt (im physischen Sinn) entscheidet und zu ihrer Consequenz führt. Dies ist folgende: die Großstaaten verschlingen die Kleinstaaten, der Monstrestaat verschlingt den Großstaat – und der Monstrestaat platzt auseinander, weil ihm endlich der Gurt fehlt, der seinen Leib umspannte: die Feindseligkeit der Nachbarn. Die Zersplitterung in atomistische Staatengebilde ist die fernste noch scheinbare Perspektive der europäischen Politik. Kampf der Gesellschaft in sich trägt die Gewöhnung des Krieges fort.
19 [61]
114. Es giebt keinen Erzieher mehr; man kauft sich unter diesem Namen immer nur Leute, welche selber nicht erzogen sind. – Es giebt Lehrer, aber keine Erzieher, Stallknechte, aber keine Reiter.
19 [62]
116. Hier und da versucht eine Partei, einige Fetzen des verunreinigten Christenthums zu säubern und sich mit ihnen zu kleiden – die Wirkung ist gering: denn frischgewaschene Lumpen kleiden zwar reinlich, aber immer nur lumpenhaft.
19 [63]
117. Beim Anblick der zahllosen Kirchen, welche das Christenthum einstmals baute, muß man sich sagen: es ist gegenwärtig nicht genug Religion da, um diese Gebäude abzutragen. Ebenfalls: es fehlt jetzt an Religion, um die Religion auch nur zu vernichten.
19 [64]
112. Die Öffentlichen Meinungen gehen aus den privaten Faulheiten hervor. Aber was geht aus den privaten Meinungen hervor? – Die öffentlichen Leidenschaften.
19 [65]
118) wir leben in einer Cultur, welche an den Mitteln der Cultur zu Grunde geht.
Aufhebung der Nationen – der europäische Mensch.
Enthaltung von Politik.
Beiseiteziehen der Talente.
Verachtung der Presse.
Religion und Kunst nur als Heilmittel.
Schlichtes Leben.
Geringschätzung der gesellschaftlichen Unterschiede.
Höheres Tribunal für die Wissenschaften.
Befreiung der Frauen.
Die Freundschaften – verschlungene Kreise.
Organisation der Oekonomie des Geistes.
Die Institutionen folgen den Meinungen von selbst.
19 [66]
Gruss an die Moralisten.
Abwesenheit der Moralisten.
Die Thätigen.
Die welche frei werden wollen.
Freigeist.
Verwundung.
Ohne Produktivität unmöglich – also Freigeist.
Seufzer über frühere Jugend.
Vater oder Mutter.
Erzeugung des Genius.
Mitte des Wegs.
Dichter als Erleichterer.
Aesthetik.
Dichter. Schriftsteller. Philologen.
Kunst – Thätige.
Gesellschaft.
Weib und Kind.
Staat (Griechen).
Religiöses.
Höhere moralische Sätze (gut und Böse) (Eitelkeit).
Höchste Erleichterung des Lebens.
fatum tristissimum.
19 [67]
Stimme der Geschichte.
Alles Allgemeine voran:
freigeisterhafter Rundgang: um den Menschen vom Herkömmlichen loszulösen.
1. Der Mensch mit sich allein.
2. Weib und Kind.
3. Gesellschaft.
4. Kunst – Dichter – Aesthetik.
5. Staat.
6. Religiöses.
7. Erleichterung des Lebens.
19 [68]
Homo liber de nulla re minus quam de morte cogitat et ejus sapientia non mortis sed vitae meditatio est. Spinoza.
19 [69]
Wer schärfer denkt, mag die Bilder der Dichter nicht, es wird zuviel des Ungleichartigen zugleich mit in's Gedächtniß gebracht; wie einer der scharf hört, die Obertöne eines Tons als mißtönenden Akkord hört.
19 [70]
c. 4. der Freigeist und der Philosoph.
5. innerhalb einer Cultur: Beispiele.
6. gegenwärtige Stellung.
7. Zukunft.
19 [71]
Der Mitleidende fühlt sich als der Stärkere, das giebt die Lust, als bereit zum Eingreifen, wenn er nur helfen könnte. Der Schmerz wie der aesthetische ein Nachklingen.
19 [72]
Themata:
über die Maxime.
über die Novelle.
Gegen die Dichter.
Der Philosoph aus Vergnügen, der wohl an die Vorgänger, nicht an die Nachfolger denkt (worin Vergnügen?).
Unterschied von Freigeist und Philosoph.
Thukydides als Ideal des Freigeist-Sophisten.
Ursprung des Mitleides.
Der Selbstmord in den Religionen.
Der Kranke.
Eitelkeiten der Gelehrten.
19 [73]
Man sucht die Dinge, welche eine ähnliche Empfindung in uns hervorrufen, miteinander in Verbindung zu bringen z. B. Frühling Liebe Schönheit der Natur, Gottheit usw. Diese Verflechtung der Dinge entspricht in gar nichts der wirklichen causalen Verknüpfung. Dichter und Philosophen lieben so die Dinge zu arrangiren; Kunst und Moral kommen zusammen.
19 [74]
Sie nennen die Vereinigung der deutschen Regierungen zu Einem Staate eine "große Idee". Es ist dieselbe Art von Menschen, welche eines Tages sich für die vereinigten Staaten Europas begeistern wird: es ist die noch größere Idee".
19 [75]
Die Verschiedenheit der Sprachen verhindert am meisten, das zu sehen was im Grunde vor sich geht – das Verschwinden des Nationalen und die Erzeugung des europäischen Menschen.
19 [76]
Alle Grundlagen der Cultur sind hinfällig geworden: also muß die Cultur zu Grunde gehen.
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Die 10 Gebote des Freigeistes.
19 [78]
Cap. II. Der Freigeist in der Gegenwart.
Cap. III. Ziele des Freigeistes: Zukunft der Menschheit.
Cap. IV. Entstehung des Freigeistes.
19 [79]
Zukunft in einigen Jahrhunderten. Ökonomie der Erde, Aussterbenlassen von schlechten Racen, Züchtung besserer, eine Sprache. Ganz neue Bedingungen für den Menschen, sogar für ein höheres Wesen? jetzt ist es der Handelsstand, welcher ein völliges Zurücksinken in die Barbarei verhindert (Telegraphie, Geographie, industr<ielle> Erfindung, usw.).
19 [80]
Die Wahrheit zu sagen, wenn die Unwahrheit herrscht, ist mit so viel Vergnügen gemischt, dass der Mensch ihretwegen das Exil, ja noch Schlimmeres erwählt.
19 [81]
Il maudit les savants et ne voulut plus vivre qu'en bonne compagnie. Voltaire (Zadig)
19 [82]
Philologen.
Woher die Verdummung der Gymnasiasten? Durch das Beispiel der Lehrer, die alles verdummen, die Autoren usw.
Weshalb sind die Philologen auf verdorbene Stellen so eifrig? Aus Eitelkeit: ihnen liegt nichts an den Alten, aber sehr viel an ihnen selbst.
Giebt es eine geistreiche Schulausgabe?
19 [83]
Weil die Menschen an der Welt so weit sie erklärlich ist nicht viel finden, was wertvoll ist, so meinen sie, das Wahre und Wichtige müsse im Unerklärlichen liegen; sie knüpfen ihre höchsten Empfindungen und Ahnungen an das Dunkle Unerklärliche an. Nun braucht in diesem unaufgehellten Reiche gar nichts Wesentliches zu liegen, es könnte leer sein: es würde für den Menschen dasselbe dabei herauskommen, wenn er nur in seiner Erkenntniß eine dunkle Stelle hätte: daraus zaubert er dann hervor was er braucht und bevölkert den dunklen Gang mit Geistern und Ahnungen.
19 [84]
Wenn der Mensch sich gewöhnt, sich streng an die Wahrheit zu halten und vor allem Metaphysischen Unaufgehellten sich zu hüten, so wäre vielleicht einmal der Genuß von Dichtungen mit dem Gefühl etwas Verbotenes zu thun verbunden: es wäre eine süße Lust, aber nicht ohne Gewissensbisse hinterdrein und dabei.
19 [85]
Das sogenannte metaphysische Bedürfniß beweist nichts über eine diesem Bedürfnisse entsprechende Realität: im Gegentheil, weil wir hier bedürftig sind, so hören wir die Sprache des Willens, nicht die des Intellekts und gehen irre, wenn wir dieser Sprache glauben. Ein Gott wäre anzunehmen, wenn er beweisbar wäre, ohne daß ein Bedürfniß ihn uns nöthig erscheinen ließe.
19 [86]
Themata.
19 [87]
Die Urtheile der Geschworenengerichte sind aus demselben Grunde falsch, aus dem die Censur einer Lehrerschaft über einen Schüler falsch ist: sie entstehen aus einer Vermittlung zwischen den verschieden gefällten Urtheilen: gesetzt den günstigsten Fall, einer der Geschworenen habe richtig geurtheilt, so ist das Gesamtresultat die Mitte zwischen dem richtigen und mehreren falschen Urtheilen d. h. Jedenfalls falsch.
19 [88]
Ein Dichter muß keinen so bestimmten Begriff seines Publikums in der Seele haben wie der Maler eine bestimmte Entfernung vom Bilde, wenn es richtig beschaut werden soll, und eine bestimmte Sehschärfe der Beschauer verlangt. Die neueren Dichtungen werden nur theilweise von uns genossen, jeder pflückt sich, was ihm schreckt; wir stehen nicht in dem nothwendigen Verhältnisse zu diesen Kunstwerken. Die Dichter selber sind unsicher und haben bald diesen bald jenen Zuhörer im Auge; sie glauben selber nicht daran, daß man ihre ganze Intention faßt und suchen durch Einzelheiten oder durch den Stoff zu gefallen. Wie jetzt alles, was ein Erzähler gut macht, beim heutigen Publikum verloren geht: welches nur den Stoff der Erzählung will und interessirt fortgerissen überwältigt sein möchte: durch das Faktum, welches die Criminalakten z. B. am besten enthalten, nicht durch die Kunst des Erzählers.
19 [89]
Vorhistorische Zeitalter werden unermeßliche Zeiträume hindurch vom Herkommen bestimmt, es geschieht nichts. In der historischen Zeit ist jedesmal das Faktum eine Lösung vom Herkommen, eine Differenz der Meinung, es ist die Freigeisterei, welche die Geschichte macht. Je schneller der Umschwung der Meinungen erfolgt, um so schneller läuft die Welt, die Chronik verwandelt sich in das Journal, und zuletzt stellt der Telegraph fest, worin in Stunden sich die Meinungen der Menschen verändert haben.
19 [90]
Ein schönes Weib in der Ehe muß sehr viele gute Eigenschaften haben, um darüber hinwegzuhelfen, daß sie schön ist.
19 [91]
Mittheilbarkeit der Wahrheit, der Meinungen überhaupt.
19 [92]
Was leistet eine Meinung? – fragt der Staatsmann. Ist sie eine Kraft?
19 [93]
Die Menschen werden gewöhnt, eine fremde Meinung höher zu taxiren als die eigne.
19 [94]
Die Frommen fragen: beglückt euch diese Meinung? – das gilt als Beweis für und gegen die Wahrheit. Wenn nun ein Irrsinniger glaubt er sei Gott und darin glücklich ist – wie es vorkommt – so ist folglich bewiesen, daß es einen Gott giebt.
19 [95]
In einer Tragödie wird nothwendig die Beredsamkeit herrschen, welche in einer Zeit gerade geübt und hochgeschätzt wird. So bei den Griechen, so bei den Franzosen, so auch bei Shakespeare. Bei ihm ist der spanische Einfluß, der am Hofe Elisabeths herrschte, unverkennbar: die Überfülle der Bilder, ihre Gesuchtheit ist nicht allgemein menschlich, sondern spanisch. In der italiänischen Novelle wie in Le Sage herrscht die vornehme Redekultur des Adels und der Renaissance. – Wir haben keine höfische Beredsamkeit und auch keine öffentliche wie die Griechen: deshalb ist es mit der Rede im Drama nichts, es ist Naturalisiren. Goethe im Tasso geht auf das Vorbild der Renaissance zurück. Schiller hängt von den Franzosen ab. Wagner giebt die Kunst der Rede ganz auf.
19 [96]
Der Mensch hat die Neigung, für das Herkömmliche, wenn er Gründe sucht, immer die tiefsten Gründe anzugeben. Denn er spürt die ungeheuren segensreichen Folgen, so sucht er nach einer tiefen weisheitsvollen Absicht in der Seele derer, welche das Herkommen pflanzten. – Aber es steht umgekehrt; die Entstehung Gottes, der Ehe ist flach und dumm, das Fundament des Herkommens ist intellektuell sehr niedrig anzusetzen.
19 [97]
Wenn man einen Glauben umwirft, so wirft man nicht die Folgen um, welche aus ihm herausgewachsen sind. Diese leben vermöge des Herkommens weiter: das Herkommen schließt die Augen über den Verband von Glauben und Folge. Die Folge erscheint ihrer selbst wegen da zu sein. Die Folge verleugnet ihren Vater.
19 [98]
Was ist die Reaktion der Meinungen? Wenn eine Meinung aufhört, interessant zu sein, so sucht man ihr einen Reiz zu verleihen, indem man sie an ihre Gegenmeinung hält. Gewöhnlich verführt aber die Gegenmeinung und macht einen neuen Bekenner: sie ist inzwischen interessanter geworden.
19 [99]
Aristoteles meint, durch die Tragödie werde das Übermaß am Mitleide und Furchtsamkeit entladen, der Zuhörer kehre kälter nach Hause zurück. Plato meint dagegen, er sei rührseliger und ängstlicher als je. – Plato's Frage über die moralische Bedeutung der Kunst ist noch nicht wieder aufgeworfen. Der Künstler braucht die Entfesselung der Leidenschaft. Wir lassen uns die Leidenschaften, welche der athenische Komiker bei seinen Zuhörern entladen will, kaum mehr gefallen: Begierde Schmähsucht Unanständigkeiten usw. Thatsächlich ist Athen weichlich geworden. Als Ersatz der Religion kann die Kunst nicht gelten: denn für den, welcher vollendet hat, ist sie überflüssig, für den welcher im Kampf ist, kein Ersatz der Religion, sondern höchstens eine Beihülfe der Religion. – Vielleicht ist ihre Stellung so, wie sie Mainländer nimmt, eine Beihülfe der Erkenntniß, sie läßt den Frieden und den großen Erfolg der Erkenntniß von ferne wie blaue Berge sehen. Ersatz der Religion ist nicht die Kunst, sondern die Erkenntniß.
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Die Religionen drücken nicht irgend welche Wahrheiten sensu allegorico aus, sondern gar keine Wahrheiten – das ist gegen Schopenhauer einzuwenden. Der consensus gentium in Religionsansichten ist doch eher ein Gegenargument gegen die zu Grunde liegende Wahrheit. Nicht eine uralte Priesterweisheit, sondern die Furcht vor dem Unerklärlichen ist der Ursprung der Religion: was von Vernunft darin ist, ist auf Schleichwegen in sie hineingekommen.
19 [101]
Das Studium der Psychologie gehörte zur antiken Rhetorik. Wie weit sind wir zurück! Die Parteipresse hat thatsächlich ein Stückchen Psychologie, auch die Diplomatie – alles als Praxis. Die neue Psychologie ist unerläßlich für den Reformator.
19 [102]
Der neue Reformator nimmt die Menschen wie Thon. Durch Zeit und Institutionen ist ihnen alles anzubilden, man kann sie zu Thieren und zu Engeln machen. Es ist wenig Festes da. „Umbildung der Menschheit!"
19 [103]
Es ist alles zuzugestehen, was die Religion Nützliches für den Menschen habe: direkt Glück und Trost verleihen. Wenn man die Wahrheit nicht mit dem Nutzen verschwistern kann, ist ihre Sache verloren. Weshalb sollte die Menschheit sich für die Wahrheit opfern? ja sie kann es gar nicht. Alles Wahrheitsbestreben hat bis jetzt den Nutzen im Auge: die entfernte Nützlichkeit der Mathematik war es, die der Vater an seinem studirenden Sohn achtete. Man hätte einen Menschen als blödsinnig genommen, der sich mit etwas beschäftigt, bei dem nichts herauskommt, oder gar Schaden. Man hielte den für gemeingefährlich, der den Menschen die Luft die sie athmen verdirbt. Ist die Religion nöthig, um zu leben, so ist der, welcher sie erschüttert, gemeingefährlich: ist die Lüge nöthig, so darf sie nicht erschüttert werden. Also – ist die Wahrheit möglich in Verbindung mit dem Leben? –
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Man sorgt für sich – und dann noch für den Sohn: die letztere Rücksicht hindert den Menschen ganz individuell und rücksichtslos zu leben. Er will Institutionen, die seinem Sohn zu Gute kommen. Daran hängt die Continuation der Menschheit: haben die Menschen keine Kinder, so fällt alles unter den Haufen. Die Sorge für das Kind sorgt für den Besitz und die gesicherte Stellung: für Eigenthum und Ordnung der Gesellschaft. Habsucht und Ehrgeiz sind die Triebe, welche vielleicht mit dieser Sorge um die Brut zusammenhängen: sie sind durch Vererbung sehr groß, auch wenn im speziellen Falle die Brut fehlt: wenn dem Streben das Ziel, der Kopf abgeschnitten ist: trotzdem bewegt der Leib sich noch.
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Ein guter Erzieher kann in den Fall kommen, den Zögling scharf zu beleidigen, nur um eine Dummheit, die er sagen will, im Keime zu ersticken.
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Der Märtyrer wider Willen und der Ehrliche der verachtet wird, als Feigling usw., während er nur so ist, wie er sein kann.
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Es ist in der Art der gebundenen Geister, irgend eine Erklärung keiner vorzuziehn; dabei ist man genügsam. Hohe Cultur verlangt, manche Dinge ruhig unerklärt stehen zu lassen: επεχω.
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Die dunkle Sache gilt als wichtiger gefährlicher als die helle. Die Angst wohnt im Innersten der menschlichen Phantasie. Die letzte Form des Religiösen besteht darin, daß man überhaupt dunkle unerklärliche Gebiete zugesteht; in diesen aber, meint man, müsse das Welträthsel stecken.
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Durch die Pfahlbauten usw. ist bewiesen, daß es einen Fortschritt der Menschheit gegeben hat. Ob aber auf Grund der letzten 4000 <Jahre> der Menschheit diese Annahme erlaubt ist, ist fraglich. Aber die Wissenschaft ist fortgeschritten: damit ist die höchste Form der bisherigen Cultur vernichtet und kann nie wieder entstehen.
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Der Instinkt ist einem Wurm gleich, dem man den Kopf abgeschnitten hat und der sich doch in der gleichen Richtung weiter bewegt.
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Die Liebe ist von Schopenhauer gar nicht erklärt. Das Geschlechtliche einmal. Dann die spezielle Neigung aus aesthetischen Miturtheilen, welche durch Vererbung sehr stark geworden sind. Der Schwarze will die Schwarze und verachtet die Weiße. Mit dem „Genius der Gattung" ist gar nichts gewonnen.
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Nicht um unsterblich zu sein, nicht in Rücksicht auf die Propagation sind die Menschen verliebt: gegen Platon. Sondern des Vergnügens halber. Sie wären es, auch wenn die Weiber unfruchtbar wären; erst recht! Die griechische Päderastie nicht unnatürlich, deren causa finalis, nach Plato, sein soll, „schöne Reden zu erzeugen".
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Jeder Mensch nimmt an sich das höchste Interesse, ist aber gewohnt, das Urtheil der Anderen höher zu respektiren als das eigne: Glaube an Auktorität, angeerbt und angezogen, Fundament von Gesellschaft Sitte usw. Aus diesen beiden Prämissen ergiebt sich die Eitelkeit: der Mensch stellt seinen eigenen Werth durch das Urtheil Anderer vor sich selber fest.
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Alles Sittliche ist irgend wann einmal noch nicht „Sitte" sondern Zwang gewesen. Erst seit es Herkommen giebt, giebt es gute Handlungen.
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Unegoistische Regungen auf egoistische zurückzuführen ist methodisch geboten. Der sociale Instinkt geht auf den Einzelnen zurück, der begreift, daß er nur erhalten bleibt, wenn er sich einem Bunde einverleibt. Die Schätzung des Socialen wird dann vererbt und, da die nützlichsten Mitglieder auch die geehrtesten sind, immer fort gestärkt. Jetzt ist eine helle Flamme da, für das Vaterland alles zu leiden (auch für jede ähnliche Vereinigung z. B. die Wissenschaft). Der egoistische Zweck ist vergessen. Das "Gute" entsteht, wenn man den Ursprung vergißt. – Der elterliche Instinkt ist erst in der Gesellschaft großgezüchtet worden, man braucht Nachkommen, so nimmt man die Ehe in Schutz und ehrt sie. – Auch die unegoistische Liebe (zwischen den Geschlechtern) ist erst wohl eine erzwungene Sache, durch die Societät erzwungen. Später erst gewöhnt und vererbt und endlich wie eine ursprüngliche Regung. Zuerst geht der Trieb nur auf eine Befriedigung, ohne Rücksicht auf das andre Individuum, grausam. – Ob auch alle elterlichen Instinkte der Thiere auf Societät zurückzuführen sind? –
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Hier beginnen die "Gedanken und Entwürfe" aus Herbst und Winter 1876.
22 Dezember 1876 schrieb ich diese letzte Seite.
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Einleitung.
An Goethe zu erinnern „wenn einer redet soll er positiv reden".
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Menschliches und Allzumenschliches.
Gesellige Sprüche.
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Die Sentenz als Thema der Geselligkeit.
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Die alte Cultur.