Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente 1875-1879, Band 2
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Sommer 1878]

[Dokument: Notizbücher]

30 [1]

Mein Fehler war der, dass ich nach Bayreuth mit einem Ideal kam: so musste ich denn die bitterste Enttäuschung erleben. Die Überfülle des Hässlichen Verzerrten Überwürzten stiess mich heftig zurück.

30 [2]

Über die Ursachen der Dichtkunst

Vorurtheile über die Dichter.

Aphorismen.

30 [3]

Ich sah den Sinn für social<istische> Gedankenkreise in den höheren Ständen sich verbreitend: und ich mußte sagen, mit Goethe, „man schien nicht zu fühlen, was alles erst zu verlieren sei, um zu irgend einer Art zweideutigen Gewinns zu gelangen".

30 [4]

Goethe: „das Sehnsüchtige, das in mir lag, das ich in früheren Zeiten vielleicht zu sehr gehegt und bei fortschreitendem Leben kräftig zu bekämpfen trachtete, wollte dem Manne nicht mehr ziemen, und er suchte deshalb die volle endliche Befriedigung." Schluß?

30 [5]

Goethe: „das Schöne ist, wenn wir das gesetzmäßig Lebendige in seiner größten Thätigkeit und Vollkommenheit schauen, wodurch wir zur Reproduktion gereizt uns gleichfalls lebendig und in höchste Thätigkeit versetzt fühlen."

30 [6]

Die Mitte das Beste (in Wahl der Probleme, des Ausdrucks, in der Kunst). Kräftige Äst<hetik>. Kein Barockstil.

30 [7]

Montaigne: "wer einmal ein rechter Thor gewesen, wird niemals wieder recht weise werden". Das ist, um sich hinter den Ohren zu krauen.

30 [8]

Milton bei Taine I, 656. „Die Wahrheit, die zuerst Schande bringt."

30 [9]

Schopenhauer's Wirkung

Allgemeines Frommwerden, der leibhafte Voltärianisch gesinnte Schopenhauer, dem sein viertes Buch unverständlich würde, wird bei Seite geschoben.

Mein Mißtrauen gegen das System von Anfang an. Die Person trat hervor, er typisch als Philosoph und Förderer der Kultur. Am Vergänglichen seiner Lehre, an dem, was sein Leben nicht ausprägte, knüpfte aber die allgemeine Verehrung an – im Gegensatz zu mir. Die Erzeugung des Philosophen galt mir als einzige Nachwirkung – aber mich selbst hemmte der Aberglaube vom Genius. Augenschließen.

30 [10]

Nach Demosthenes muß die Rede sculpta „ausgemeißelt" sein.

Demosthenes studirte den Thukydides hinsichtlich Stils.

30 [11]

"Enthaltsamkeit der alten Schriftsteller in der Anwendung der staunenerregenden Mittel des Ausdrucks, die ihnen zu Gebote standen."

30 [12]

Die Anhäufung von mehr als 2 kurzen Sylben möglichst vermieden – das rhythmische Gesetz des Demosthenes.

30 [13]

Schluß einer Rede wie einer Tragödie möglichst ruhig und würdevoll – ist athenisch.

Wir lieben die finales anders.

30 [14]

Nutz-Bildung

Zier-Bildung.

30 [15]

Da ich Wagner mit Demosthenes verglichen habe, muß ich auch den Gegensatz hervorheben. Brougham bei Blass, 188, 196 – p.173.

30 [16]

Den größten rednerischen Improvisator Demades schätzte man über Demosthenes. Nach Theophrast ist jener „Athens würdig", dieser „über Athen hinaus".

30 [17]

„Ein Mensch, der aus Worten und zwar aus bitteren und künstlichen besteht", sagte Aeschines von Demosthenes.

30 [18]

Pallas Athene

Über Nutz- und Zierwirkungen der Urtheilskraft.

30 [19]

Wagner, dessen schriftstellerische Vorbilder und Versuche (Anfänge) in jene Zeit gehören, deren allgemeinen Fehler ein Franzose so bezeichnet – au delà <de> sa force.

30 [20]

Zier-Künste

Zier- und Lust-Bildung

der gesteigerte Prachtsinn.

30 [21]

Ewige Baukunst der Römer.

Brücke im spanischen Alcantara.

30 [22]

„Gedankenbild" für Phantasieb<ild>.

30 [23]

Ein, Dramatiker spielt, wenn er von sich redet, eine Rolle; es ist unvermeidlich. Wagner, der von Bach und Beethoven redet, redet als der, als welcher er gelten möchte. Aber er überredet nur die überzeugten, seine Mimik und sein eigentliches Wesen streiten gar zu ingrimmig gegen einander.

30 [24]

Nachtheil der Metaphysik: sie macht gegen die richtige Ordnung dieses Lebens gleichgültig – insofern gegen Moralität. Ist pessimistisch immer, weil sie kein hiesiges Glück erstrebt.

30 [25]

In Betreff der griechischen Dichter wurden wir angeleitet, uns selber zu betrügen. Wollte doch jeder sagen: dies mag ich nicht, jenes gilt mir nichts, dort empfinde ich wider die herkömmliche Abschätzung – so hätte man mehr Achtung vor Philologen als ehrlichen Leuten, selbst wenn sie in Gefahr kämen dass ihr klassischer Geschmack angezweifelt würde.

30 [26]

Griechischer Dithyrambus ist Barockstil der Dichtkunst.

30 [27]

Gegen unsere Freude am Übermaß der Metaphern, seltenen Worten usw. – Euripides-Lob.

30 [28]

Was wird aus einer Kunst, die an ihr Ende gekommen ist? Sie selbst stirbt ab – die von ihr gegebene Wirkung kommt anderen Gebieten zu Gute, ebenso die nunmehr, bei ihrem Ende, freiwerdende nicht verwendete Energie. Wo also z. B.?

30 [29]

Weg zur Weisheit

Kräftigung

Mässigung (Schön als Proportion)

Befreiung.

30 [30]

Auf dieselbe Weise, auf die jetzt bewusst wir uns stärken mit Hülfe des Geistes, so durch Analogie der Schluss nach rückwärts.

30 [31]

Wellen – an ruhigem Sommertage am Ufer schlürfen – Epicur's Garten-Glück.

30 [32]

Dramata die religiöse Thatsache, Ursprung im Tempelkult. Falscher Begriff vom Mythus – die Griechen halten ihn für Historie. Dagegen erfinden die Dichter sehr ungenirt.

30 [33]

Goethe: „man darf oft dem Irrthum nicht schaden, um der Wahrheit nicht zu schaden."

30 [34]

Goethe definirt die Pflicht „wo man liebt, was man sich selbst befiehlt."

Gewöhnlich „wo man sich befiehlt, was man liebt."

30 [35]

Der rhythmische Sinn zeigt sich zuerst im Grossen:

Gegenüberstellung von Kola (Hexameter und Hexameter). Hebräische Rhythmik darauf stehen geblieben. Ebenso die Periodik der Prosa. Allmählich wird das Zeitgefühl feiner, am Schlusse zuerst.

30 [36]

"Ipsum viventem quidem relictum, sed sola posteritatis cura et abruptis vitae blandimentis." Tac. hist. II 54.

30 [37]

Der weiss noch nichts von der Bosheit, der nicht erlebt hat, wie die niederträchtigste Verleumdung und der giftigste Neid sich als Mitleid geberden.

30 [38]

Da alle Glück wollen, die Eigenschaften Affecte sehr verschieden und kaum veränderlich <sind>: so muss man alle Anfänge geistreich benutzen. Ethik für Geistreiche.

30 [39]

Wahrscheinlich: die Herrschaft der Sachverständigen und die Einbildung der Masse, durch jene selber zu herrschen.

30 [40]

Wer etwas vollbringt, das über den Gesichts- und Gefühlskreis der Bekannten hinausliegt: – Neid und Hass als Mitleid -Partei betrachtet das Werk als Entartung Erkrankung Verführung. Lange Gesichter.

30 [41]

Statt ins Leben überzuströmen, fördert die Wagnerische Kunst bei den Wagnerianern nur die Tendenzen (z. B. religiöse nationale).

30 [42]

Wir gleichen den lebenden Tieren auf dem Schild des Hephäst – aesthet<ische> Phänom<ene> aber grausam!

30 [43]

Man muss den Muth haben, in der Kunst zu lieben, was uns wirklich zusagt und es sich eingestehen, selbst wenn es ein schlechter Geschmack ist. So kann man vorwärts kommen.

30 [44]

Umgekehrte Moral, z.B. im Tristan, wo der Ehebrecher den Vorwurf macht: ganz anders bei den Griechen.

30 [45]

Viel zu viel Musik zum Wagnerischen Drama.

30 [46]

Novelle: des Todes wegen moriendi perdere causas. Ein Selbstmörder, der beim Suchen nach dem Tode – – –

30 [47]

Man bildet sich ein bei einem Buche, der Grundton sei das Erste, was man aus ihm heraushöre – aber es hört einer gewöhnlich etwas hinein, was er so nennt.

30 [48]

Cap. VII. Erziehung.

Deutschland in seiner Action-Reaction zeigt sich barbarisch.

30 [49]

Auf moralisches „Verdienst" dringt am meisten der seinen Erfolg nicht sichtbar machen kann – der Unfreie Gedrückte.

30 [50]

Wagner's Kunst auf Kurzsichtige berechnet – allzugrosse Nähe nöthig (Miniatur), zugleich aber fernsichtig. Aber kein normales Auge.

30 [51]

Damals glaubte ich daß die Welt vom aesthetischen Standpunkt aus ein Schauspiel und als solches von ihrem Dichter gemeint sei, daß sie aber als moralisches Phänomen ein Betrug sei: weshalb ich zu dem Schlusse kam, daß nur als aesthetisches Phänomen die Welt sich rechtfertigen lasse.

30 [52]

Wenn ich auf den Gesammtklang der älteren griechischen Philosophen hinhorchte, so meinte ich Töne zu vernehmen, welche ich von der griechischen Kunst, und namentlich von der Tragödie gewohnt war zu hören. In wie weit dies an den Griechen, in wie weit aber auch nur an meinen Ohren, den Ohren eines sehr kunstbedürftigen Menschen, lag – das kann ich auch jetzt noch nicht mit Bestimmheit aussprechen.

30 [53]

  1. Der Einzelne und die Vielen
  2. Fortleben der Kunst
  3. Neu-Alterthum
  4. Quellen der Kraft
  5. Bild einer nahen Zukunft
  6. Besitz
  7. Erziehung.

30 [54]

Polen das einzige Land abendländisch-römischer Cultur, das nie eine Renaissance erlebt hat. Reformation der Kirche ohne Reform des gesammten Geisteslebens, deshalb ohne dauernde Wurzeln zu schlagen. Jesuitismus – adelige Freiheit richten es zu Grunde. Genau so wäre es den Deutschen ohne Erasmus und der Humanisten Wirkung gegangen.

30 [55]

Die Griechen waren fertig, als ein Homer ihnen Kunstwerke zeigte – er konnte auf das Verstehen langer überschaulicher Compositionen rechnen – da muß ein Volk weit sein! Man denke an die Germanen mit ihren Augenblicks-Effekten der Edda!

Was Homer konnte, componiren, sieht man an dem Wetteifer Hesiods, der auch componirt.

30 [56]

Ich wünsche dass billig denkende Menschen dieses Buch als eine Art Sühne dafür gelten lassen, dass ich früher einer gefährlichen Aesthetik Vorschub leistete: deren Bemühen war, alle aesthetischen Phänomene zu „Wundern" zu machen – – ich habe dadurch Schaden angestiftet, unter den Anhängern Wagner's und vielleicht bei Wagner selbst, der alles gelten lässt, was seiner Kunst höhern Rang verleiht, wie begründet und wie unbegründet es auch sein mag. Vielleicht habe ich ihn durch meine Zustimmung seit seiner Schrift über „die Bestimmung der Oper" zu grösserer Bestimmtheit verleitet und in seine Schriften und Wirken Unhaltbares hineingebracht. Dies bedaure ich sehr.

30 [57]

Die Dichter-Erfindung kann zum Mythus werden, wenn sie verbreitet Glauben findet: – wie usus und abusus eines Wortes schwankend ist.

30 [58]

Mit der Harmonie der Lust, in der das menschliche Wesen schwimmt, steht es wirklich wie mit der Harmonie der Sphären: wir hören sie nicht mehr, wenn wir darin leben.

30 [59]

Analysis des Erhabnen.

30 [60]

Meine Art, Historisches zu berichten, ist eigentlich, eigene Erlebnisse bei Gelegenheit vergangener Zeiten und Menschen zu erzählen. Nichts Zusammenhängendes – einzelnes ist mir aufgegangen, anderes nicht. Unsere Litterarhistoriker sind langweilig, weil sie sich zwingen, über alles zu reden und zu urtheilen, auch wo sie nichts erlebt haben.

30 [61]

Was wirkt noch? Princip der Maler und Musiker und Dichter: sie fragen sich selber zuerst, aus der Zeit wo sie nicht productiv waren.

30 [62]

Die Angst dass man den Wagnerischen Figuren nicht glaubt, dass sie leben: sie gebärden sich deshalb so toll.

30 [63]

Man macht Fehler gegen eine vorgenommene Lebensweise, weil unsere Stimmung im Augenblick des Vorsatzes und dem der Ausführung eine ganz verschiedene ist.

30 [64]

Mit dem Zerrbild hebt die Kunst an. Daß etwas bedeutet, erfreut. Daß das Bedeutende verspottet belacht wird, erfreut mehr. Das Belachen als erstes Zeichen des höheren seelischen Lebens (wie in der bildenden Kunst).

30 [65]

„Wo die Kunst aber sich in ihren Mitteln einschränkt, muss sie in ihrem Wesen mächtig sein." Jacob Burckhardt.

30 [66]

Die griechische Prosa – absichtliche Beschränkung der Mittel. Warum? Das Einfache am Ende des Höhenwegs. Complicirtes zuerst und zuletzt.

30 [67]

Ich habe dabei das Loos der Idealisten gezogen, welchen der Gegenstand, aus dem sie so viel gemacht haben, dadurch verleidet wird – ideales Monstrum: der wirkliche Wagner schrumpft zusammen.

30 [68]

Wie wurmstichig und durchlöchert das Menschenleben sei, wie ganz und gar auf Betrug und Verstellung aufgebaut, wie alles Erhebende, wie die Illusionen, alle Lust am Leben dem Irrthum verdankt werden – und wie in so fern der Ursprung einer solchen Welt nicht in einem moralischen Wesen, vielleicht aber in einem Künstler-Schöpfer zu suchen sei, wobei ich meinte daß einem solchen Wesen durchaus keine Verehrung im Sinne der christlichen (welche den Gott der Güte und Liebe aufstellt) gebühre, und sogar die Andeutung nicht scheute, ob dem deutschen Wesen diese Vorstellung, wie sie gewaltsam inokulirt, auch gewaltsam wieder entrissen werden konnte. Dabei meinte ich in Wagner's Kunst den Weg zu einem deutschen Heidenthum entdeckt zu haben, mindestens eine Brücke zu einer spezifisch unchristlichen Welt- und Menschenbetrachtung. „Die Götter sind schlecht und wissend: sie verdienen den Untergang, der Mensch ist gut und dumm – er hat eine schönere Zukunft und erreicht sie, wenn jene erst in ihre endliche Dämmerung eingegangen sind", – so werde ich damals mein Glaubensbekenntniß formulirt haben, während ich jetzt – – –

30 [69]

Das was erst herkömmlich ist, wird nicht nur mit Pietät, sondern auch mit Vernunft und Gründen nachträglich überhäuft und gleichsam durchsickert. So sieht zuletzt eine Sache sehr vernünftig aus (vieles an ihr ist zurechtgeschoben und verschönt). Dies täuscht über ihre Herkunft.

30 [70]

National ist das Nachwirken einer vergangenen Cultur in einer ganz veränderten, auf anderen Grundlagen gestützten Cultur. Also das logisch Widerspruchsvolle im Leben eines Volkes.

30 [71]

Wir müssen der falschen Nachahmung Wagner's widerstreben. Wenn er, um den Parcival schaffen zu können, genöthigt ist, aus der religiösen Quelle her neue Kräfte zu pumpen, so ist dies kein Vorbild sondern eine Gefahr.

30 [72]

Es giebt Leser, welche den etwas hochtrabenden und unsicheren Gang und Klang meiner früheren Schriften dem vorziehen, was ich gegenwärtig anstrebe – möglichste Bestimmtheit der Bezeichnung und Geschmeidigkeit aller Bewegung, vorsichtigste Mäßigung im Gebrauch aller pathetischen und ironischen Kunstmittel. Mögen jene Leser, welche sich ihren Geschmack nicht verkümmern lassen wollen, an diesen hier mitgetheilten Arbeiten etwas Willkommenes zum Ersatz dafür erhalten, daß ich ihnen den Verdruß machte, meinen Geschmack in diesen Dingen zu verändern. Sind wir uns doch allmählich in so vielen und großen Bestrebungen so unähnlich, so fremd geworden, daß ich bei dieser Gelegenheit, wo ich noch einmal zu ihnen reden muß, nur von der harmlosesten aller Differenzen, der Stil-Differenz, reden möchte.

30 [73]

Wagner hat kein rechtes Vertrauen zur Musik: er zieht verwandte Empfindungen heran, um ihr den Character des Grossen zu geben. Er stimmt sich selber an Anderen, er lässt seinen Zuhörern erst berauschende Getränke geben, um sie glauben zu machen, die Musik habe sie berauscht.

30 [74]

„Die kindliche Kunst frevelt am Schwersten." Gruppe vor der Statue, Statue vor der Herme usw. „Man kennt eben die Schwierigkeiten noch nicht." Jacob Burckhardt.

30 [75]

Teppich – Heimat des unendlich viel sich Wiederholenden. Auf Vasen und ehernen Geräten finden wir ihn wieder. Da alles klein ist und zahllos, konnte nicht auf Seelenausdruck, sondern nur auf Gebärde gesehen werden.

30 [76]

Heilsamste Erscheinung ist Brahms, in dessen Musik mehr deutsches Blut fliesst als in der Wagners – womit ich viel Gutes, jedoch keineswegs allein Gutes gesagt haben möchte.

30 [77]

Ich will es nur gestehen: ich hatte gehofft, durch die Kunst könne den Deutschen das abgestandene Christenthum völlig verleidet werden – deutsche Mythologie als abschwächend, gewöhnend an Polytheismus usw.

Welcher Schrecken über restaurative Strömungen!!

30 [78]

Wie einer, der auf immer Abschied nimmt, auch den weniger beachteten Bekannten mit wärmerem Gefühle entgegentritt und die Hand reicht, so fühle ich mich gewissen Arbeiten früherer Jahre gerade jetzt gewogener, wo ich mich von den Ufern, an die ich damals mein Schiff lenkte, unaufhaltsam entferne.

30 [79]

Uralt Porträt-Ähnlichkeit in Mycenä – später diese Spur verlassen.

Thierwelt besser als Mensch – nicht symbolisch gebunden.

30 [80]

Es ist schwer, im Einzelnen Wagner angreifen und nicht Recht zu behalten; seine Kunstart Leben Character, seine Meinungen, seine Neigungen und Abneigungen, alles hat wunde Stellen. Aber als Ganzes ist die Erscheinung jedem Angriff gewachsen.

30 [81]

Plato's Abwendung von der Kunst symbolisch-typisch am Schluss.

30 [82]

Wenn Wagner hierüber anders denken sollte: nun, so wollen wir bessere Wagnerianer sein als Wagner.

30 [83]

Entwicklung des Sophocles verstehe ich durch und durch – der Widerwille gegen den Pomp und Prunkeffect.

30 [84]

Das Lächeln der Ausdruck des Lebens, des Momentanen (selbst wenn sie sterben, Aegineten).

30 [85]

Die höchste Aufgabe am Schluss, Wagner und Schopenhauer öffentlich zu danken und sie gleichsam gegen sich Partei nehmen zu machen.

30 [86]

Der thrazische Pessimismus v<ide> Herodot, der Geborene wird bewehklagt.

30 [87]

Diejenigen Schriftsteller, welche mit Vernunft wider die Vernunft schreiben, mögen zusehen, dass sie sich nicht selbst zum Ekel werden.

30 [88]

Der reiche Stil folgt auf den grossen.

Städte Künstler und Schulen wetteifern.

Körper lange vor Seelenausdruck ausgebildet.

Schenkel viel früher als Brust.

30 [89]

Das Nützliche steht höher als das Angenehme (Schöne), weil es indirekt und auf die Dauer Angenehmes erstrebt, und nicht Augenblickliches, oder auch die Basis für das Angenehme (z. B. als Gesundheit) zu schaffen sucht. Die Kunst des Schönen ist entweder nur auf den Augenblick berechnet oder fällt mit dem Nützlichem zusammen; das Nützliche ist nie sich selber Zweck, sondern das Wohlgefühl des Angenehmen ist es.

30 [90]

Man wird es Wagner nie vergessen dürfen dass er in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in seiner Weise – die freilich nicht gerade die Weise guter und einsichtiger Menschen ist – die Kunst als eine wichtige und grossartige Sache ins Gedächtniss brachte.

30 [91]

Schreck, bis zu welchem Grade ich selbst an Wagner's Stil Vergnügen haben konnte, der so nachlässig ist, dass er eines solchen Künstlers nicht würdig ist.

Wagner's Stil. Die allzuzeitige Gewöhnung über die wichtigsten Gegenstände ohne genügende Kenntnisse mitzureden hat ihn so unbestimmt und unfassbar gemacht: dazu der Ehrgeiz, es den witzigen Feuilletonisten gleich zu thun – und zuletzt die Anmaassung, die sich gern mit Nachlässigkeit paart: „siehe, alles war sehr gut".

30 [92]

Das Schönste am Hunger ist, dass er einem Appetit macht.

30 [93]

Vorrede. Stellung des Weisen zur Kunst. Die Griechen feiner als wir: der Weise, der Mann des Geschmacks.

Nicht nur Hunger thut noth (vielmehr darf dieser nicht zu arg sein) – „Liebe" sagen die Schwärmer: – sondern Geschmack. Ja Geschmack setzt schon Appetit voraus – sonst schmeckt uns nichts. Kritik ist die Lust am Guten, mit Vermehrung der Lust durch Erkenntniss des Missrathenen. Woher die zahllosen Kritiker, wenn nicht Vergnügen dabei? Insofern nützt selbst das Schlechte, indem es zur Vernichtung auffordert und Lust dabei erweckt. Auch Lust zum Bessermachen.

30 [94]

Emerson, p. 328 (Essays) „das Auge des abrundenden Geistes".

30 [95]

Vorrede. Dieses Buch hätte ich überschreiben können: aus der Seele der Künstler und Schriftsteller; in der That ist es eine Forsetzung des fünften Hauptstücks, welches jenen Titel trägt.

30 [96]

Vorrede. Ich kenne kein Mittel, um etwas Gutes zu erkennen, als selber etwas Gutes zu machen. Dies giebt uns Flügel, mit denen sich zu manchem entlegenen Neste, in dem Gutes sitzt, fliegen lässt.

30 [97]

Schopenhauer Optimist, wenn er sagt (Parerga, II p. 598) „Es giebt 2 Geschichten: die politische und die der Litteratur und Kunst. Jene ist die des Willens, diese die des Intellekts. Daher ist jene durchweg beängstigend, ja schrecklich – – die andre dagegen ist überall erfreulich und heiter. " Oho! Ho!

30 [98]

Wie sehr wir auch die Moralität zersetzen – unsre eigene, im ganzen Wesen eingenistet, kann dabei nicht zersetzt werden. Unsre Art, wahr und unwahr zu sein, bleibt undiskutirbar. „Der Ton des Suchens ist einer und der Ton des Habens ist ein anderer."

30 [99]

Ich habe die Besorgniss dass Wagner's Wirkungen zuletzt in den Strom einmünden, der jenseits der Berge entspringt und der auch über Berge zu fliessen versteht.

30 [100]

Schopenhauer, Parerga II 630: „<daß> mancher Mensch einen wenigstens 10fach höhern Grad von Dasein hat, als der andere – zehn Mal so sehr da ist" – der Weise ist dann das allerrealste Wesen.

30 [101]

Vergleich mit der Symphonie III Act Tristan, „Geburt der Tragödie" – undeutlich und hochtrabend, wie ich damals nach Wagner's Vorbilde mich auszudrücken liebte –

30 [102]

Im vierten Jahrhundert wird die Welt der inneren Erregung entdeckt – Scopas, Praxiteles, Ausdruck. (Noch nicht Phidias. Gesetze der Strenge.)

30 [103]

Emerson p. 331 Essays „das Leben der Wahrheit ist kalt und insofern traurig, aber es ist nicht der Sklave usw."

30 [104]

„Gross sein ist missverstanden werden."

30 [105]

Schiller's Idealität zu characterisiren (aus Körner's Briefen am besten).

30 [106]

Fries in Phigalia von höchster Leidenschaftlichkeit.

30 [107]

Die selbe Summe von Talent und Fleiss, die den Classiker macht, macht, eine Spanne Zeit zu spät, den Barockkünstler.

30 [108]

Man verlangt von ihm dass er zum guten Spiele eine böse Miene mache.

30 [109]

Wagner hat den Gang unterbrochen, unheilvoll, nicht wieder die Bahn zu gewinnen.

Mir schwebte eine sich mit dem Drama deckende Symphonie vor. Vom Liede aus sich erweiternd.

Aber die Oper, der Effekt, das Undeutsche zog Wagner anderswohin. Alle nur denkbaren Kunstmittel in der höchsten Steigerung.

30 [110]

Völlige Abwesenheit der Moral bei Wagner's Helden. Er hat jenen wundervollen Einfall, der einzig in der Kunst ist: der Vorwurf des Sünders an den Schuldlosen gerichtet: „o König" – Tristan an Marke.

30 [111]

Man höre den zweiten Akt der Götterdämmerung ohne Drama: es ist verworrene Musik, wild wie ein schlechter Traum und so entsetzlich deutlich, als ob sie vor Tauben noch deutlich werden wollte. Dies Reden, ohne etwas zu sagen: ist beängstigend. Das Drama ist die reine Erlösung. – Ist das ein Lob, daß diese Musik allein unerträglich ist (von einzelnen, absichtlich isolirten Stellen abgesehen) als Ganzes? – Genug, diese Musik ist ohne Drama eine fortwährende Verleugnung aller höchsten Stilgesetze der älteren Musik: wer sich völlig an sie gewöhnt, verliert das Gefühl für diese Gesetze. Hat aber das Drama durch diesen Zusatz gewonnen? Es ist eine symbolische Interpretation hinzugetreten, eine Art philologischen Commentars, welcher die immer freie Phantasie des Verstehens mit Bann belegt – tyrannisch! Musik ist die Sprache des Erklärers, der aber fortwährend redet und uns keine Zeit läßt; überdies in einer schweren Sprache, die wieder eine Erklärung fordert. Wer einzeln sich erst die Dichtung (Sprache!) eingelernt hat, dann sie mit dem Auge in Aktion verwandelt hat, dann die Musik-Symbolik herausgesucht und verstanden hat und ganz sich hineinlebt, ja in alles Dreies sich verliebt hat – der hat dann einen ungemeinen Genuß. Aber wie anspruchsvoll! Aber es ist unmöglich, außer für kurze Augenblicke – weil zu angreifend, diese zehnfache Gesammtaufmerksamkeit von Auge Ohr Verstand Gefühl, höchste Thätigkeit des Aufnehmens, ohne jede produktive Gegenwirkung! – Dies thun die Wenigsten: woher doch die Wirkung auf so viele? Weil man intermittirt mit der Aufmerksamkeit, ganze Strecken stumpf ist, weil man bald auf die Musik, bald auf das Drama, bald auf die Scene allein Acht giebt – also das Werk zerlegt. – Damit ist über die Gattung der Stab gebrochen: nicht das Drama, sondern ein Augenblick ist das Resultat oder eine willkürliche Auswahl. Der Schöpfer einer neuen Gattung hat Acht hier zu geben! Nicht die Künste immer nebeneinander – sondern die Mäßigung der Alten, welche der menschlichen Natur gemäß ist.

30 [112]

Mehrere Wege der Musik stehen noch offen (oder standen noch offen, ohne Wagner's Einfluss). Organische Gebilde als Symphonie mit einem Gegenstück als Drama (oder Mimus ohne Worte?) und dann absolute Musik, welche die Gesetze des organischen Bildens wiedergewinnt und Wagner nur benützt als Vorbereitung. Oder Wagner überbieten: dramatische Chormusik. – Dithyrambus. Wirkung des Unisono.

Musik aus geschlossenen Räumen in's Gebirge und Waldgehege.

30 [113]

Allmähliches Aufgeben vom Verband der Nation

Verband der Partei

Verband der Freundschaft

der Consistenz der Handlungen.

30 [114]

Einsicht in die Ungerechtigkeit des Idealismus, darin dass ich mich für meine getäuschten Erwartungen an Wagner rächte.

30 [115]

Wagner, der in seinen Prosaschriften mehr bewundert als verstanden werden will.

30 [116]

Im Frühling grasbewachsener Weg im Walde – Unterholz und Gebüsch, dann höhere Bäume – Gefühl der wonnigen Freiheit.

30 [117]

Wagners's Natur macht zum Dichter, man erfindet eine noch höhere Natur. Eine seiner herrlichsten Wirkungen, welche gegen ihn zuletzt sich wendet. So muss jeder Mensch sich über sich erheben, die Einsicht über sein Können sich erheben: der Mensch wird zu einer Stufenfolge von Alpenthälern, immer höher hinauf.

30 [118]

Es entschlüpfen ihm kurze Stellen guter Musik: fast immer im Widerspruch zum Drama.

30 [119]

Fürsten und Adlige, deren äusserliche Stellung zum Gedanken der Feste sehr hübsch durch eine kleine Fabel bezeichnet wird. Der höchstgestellte Gast usw.

30 [120]

Betäubung oder Rausch-Wirkung gerade aller Wagnerischen Kunst. Dagegen will ich die Stellen nennen, wo Wagner höher steht, wo reines Glück ihm entströmt.

30 [121]

Einzelne Töne von einer unglaubwürdigen Natürlichkeit wünsche ich nie wieder zu hören; ja sie auch nur vergessen zu können – Materna.

30 [122]

Wagner's Musik interessirt immer durch irgend etwas: und so kann bald die Empfindung, bald der Verstand ausruhen. Diese gesammte Ausspannung und Erregung unseres Wesens ist es, wofür wir so dankbar sind. Man ist schliesslich geneigt, ihm seine Fehler und Mängel zum Lobe zu rechnen, weil sie uns selber productiv machen.

30 [123]

Wagner, dessen Ehrgeiz noch grösser ist als seine Begabung, hat in zahllosen Fällen gewagt, was über seine Kraft geht – aber es erweckt fast Schauer, jemanden so unablässig gegen das Unbesiegbare – das Fatum in ihm selber – anstürmen zu sehen.

30 [124]

Eine Kunst, welche die Harmonie des Daseins verleugnet, und sie hinter die Welt verlegt. Alle diese Hinterweltler und Metaphysiker.

30 [125]

Die Kritik der Moralität ist eine hohe Stufe der Moralität – aber verschmolzen sind Eitelkeit Ehrgeiz Lust am Siege damit, wie bei aller Kritik.

30 [126]

Unser Denken soll kräftig duften wie ein Kornfeld an Sommer-Abenden.

30 [127]

Goldstaub abblasen.

30 [128]

Über Wagner wie über Schopenhauer kann man unbefangen reden, auch bei ihren Lebzeiten – ihre Größe wird, was man auch gezwungen ist, in die andere Wagschale zu legen, immer siegreich bleiben. Um so mehr ist gegen ihre Gefährlichkeit in der Wirkung zu warnen.

30 [129]

Das Wogende Wallende Schwankende im Ganzen der Wagnerischen Musik.

30 [130]

Ich rathe jedem, sich vor gleichen Pfaden (Wagner und Schopenhauer) nicht zu fürchten. Das ganz eigentlich unphilosophische Gefühl, die Reue, ist mir ganz fremd geworden.

30 [131]

Mir ist zu Muthe, als ob ich von einer Krankheit genesen; ich denke mit unaussprechlicher Süssigkeit an Mozart's Requiem. Einfache Speisen schmecken mir wieder.

30 [132]

Dionysus erster Gott der Thraker, ihr Zeus, wie Wotan.

30 [133]

Mendelssohn, an dem sie die Kraft des element<aren> Erschütterns (beiläufig gesagt: das Talent des Juden des alten Testaments) vermissen, ohne an dem, was er hat, Freiheit im Gesetz und edle Affecte unter der Schranke der Schönheit, einen Ersatz zu finden.

30 [134]

Schopenhauer verherrlicht im Grunde doch den Willen (das Allmächtige, dem alles dient). Wagner verklärt die Leidenschaft als Mutter alles Grossen und selbst Weisen.

Wirkung auf die Jugend.

30 [135]

Dies alles hat sich Wagner oft genug im heimlichen Zwiegespräch selber eingestanden: ich wollte er thäte es auch öffentlich. Denn worin besteht die Grösse eines Characters, als darin dass er, zu Gunsten der Wahrheit, im Stande ist, auch gegen sich Partei zu ergreifen?

30 [136]

Tiefsinn an eine unklare aber hochtrabende Wendung Wagner's („zum Raum wird hier die Zeit") verwendet.

„Auge Wotans" rührend, Mundwinkel des Philologen zucken – aber Unwille über feinere Köpfe, aus denen nur der Parteisinn redet und welche die Nachlässigkeit wohl merken.

30 [137]

Die Naturgesetze der Kunst-Entwicklung sind eigentlich die Folgen psychologischer Dinge, Eitelkeit Ehrgeiz usw.

30 [138]

Barockstil – es muß gesagt werden.

Den Gang der inneren Entwicklung Wagner's zu finden sehr schwer – auf seine eigene Beschreibung innerer Erlebnisse ist nichts zu geben. Er schreibt Parteischriften für Anhänger.

30 [139]

Untergang der letzten Kunst erleben wir – Bayreuth überzeugte mich davon –

30 [140]

Die Verhäßlichung der menschlichen Seele erfolgt ebenso nothwendig wie der Barockstil auf den klassischen – in ganzen Zeitaltem.

30 [141]

Die Wagnerischen Götter, von denen keiner „etwas taugt".

30 [142]

Man muß nur etwas Gutes und Neues vollbringen: dann erlebt man an seinen Freunden, was es heißt: zum guten Spiele eine böse Miene machen.

30 [143]

Schiller's Satz „gegen das Vortreffliche keine Rettung als Liebe" recht wagnerisch. Tiefe Eifersucht gegen alles Große, dem er eine Seite abgewinnen kann – Haß gegen das, wo er nicht heran kann (Renaissance, französische und griechische Kunst des Stils).

30 [144]

Der Irrthum hat die Dichter zu Dichtern gemacht. Der Irrthum hat die Schätzung der Dichter so hoch gemacht. Der Irrthum liess dann wieder die Philosophen sich höher erheben.

30 [145]

Bei Wagner blinde Verleugnung des Guten (wie Brahms), bei der Partei (Fr<au> (W<agner>) sehende Verleugnung (Lipiner Rée).

30 [146]

Was ist Partei, was Frivolität? Von letzterer aus verstand ich Wagner nicht.

30 [147]

Anwandlungen der Schönheit: Rheintöchterscene, gebrochene Lichter, Farbenüberschwang wie bei der Herbstsonne, Buntheit der Natur; glühendes Roth Purpur, melancholisches Gelb und Grün fliessen durcheinander.

30 [148]

Vernunft- und Welt-flüchtige Bestrebungen.

30 [149]

Wer wollte Wagner auf den Gipfel seiner Eitelkeit folgen, den er immer dort erreicht, wenn er vom „deutschen Wesen" redet – übrigens der Gipfel seiner Unklugheit: denn wenn Friedrich's des Grossen Gerechtigkeit, Goethe's Vornehmheit und Neidlosigkeit, Beethoven's edle Resignation, Bach's dürftig verklärtes Innenleben, wenn Schaffen ohne Rücksicht auf Glanz und Erfolg, ohne Neid die eigentlich deutschen Eigenschaften sind, sollte Wagner nicht fast beweisen wollen, dass er kein Deutscher sei?

30 [150]

„C'est la rage de vouloir penser et sentir au delà de sa force." Doudan. – Die Wagnerianer.

30 [151]

Die griechischen Künstler verwandten ihre Kraft auf die Bändigung, jetzt auf die Entfesselung – stärkster Gegensatz!

Willens-Bändiger, Willens-Entfesseler.

30 [152]

Milton: „es ist fast einerlei, ob man einen Menschen oder ein gutes Buch tödtet." Gegen die Partei.

30 [153]

Furchtbare Wildheit, das Zerknirschte Vernichtete, der Freudenschrei, die Plötzlichkeit, kurz die Eigenschaften, welche den Semiten innewohnen – ich glaube, semitische Rassen kommen der Wagnerischen Kunst verständnissvoller entgegen als die arische.

30 [154]

Zur Vorrede. Ich möchte meinen Lesern den Rath geben: das Kennzeichen, dass sie in die Empfindung des Verfassers eingedrungen sind – – – aber hier lässt sich nichts erzwingen. Eine Reise begünstigt.

30 [155]

Das creatürliche Leben, das wild geniesst, an sich reisst, an seinem Übermaasse satt wird und nach Verwandlung begehrt – gleich bei Schopenhauer und Wagner.

Zeit entsprechend bei Beiden: keine Lüge und Convention, keine Sitte und Sittlichkeit mehr thatsächlich – ungeheures Eingeständniss, dass der wildeste Egoismus da ist – Ehrlichkeit – Berauschung, nicht Milderung.

30 [156]

Ein Zeichen von der Gesundheit der Alten, dass auch ihre Moral-Philosophie diesseits der Grenze des Glücks blieb. Unsere Wahrheits-Forschung ist ein Excess: diess muss man einsehen.

30 [157]

Weder so heftig am Leben leiden, noch so matt und emotionsbedürftig, dass uns Wagner's Kunst nothwendig als Medicin wäre. – Dies ist der Hauptgrund der Gegnerschaft, nicht unlautere Motive: man kann etwas, wozu uns kein Bedürfniss treibt, was wir nicht brauchen, nicht so hoch schätzen.

30 [158]

Zeit – elementarische, nicht durch Schönheit verklärte Sinnlichkeit (wie die der Renaissance und der Griechen), Wüstheit und Kaltsinn sind die Voraussetzungen gegen welche Wagner und Schopenhauer kämpfen, auf welche sie wirken – der Boden ihrer Kunst. Brand der Begierde, Kälte des Herzens – Wagner will Brand des Herzens, neben dem Brand der Begierde, Schopenhauer will Kühle der Begierde neben der Kühle des Herzens (der Schopenhauer des Lebens, nicht der der Philosophie).

30 [159]

Goethe – „Byron's Kühnheit Keckheit und Grandiosität, ist das nicht alles bildend? Wir müssen uns hüten, es stets im entschieden Reinen und Sittlichen suchen zu wollen. Alles Große bildet, sobald wir es gewahr werden."

Dies auf Wagner's Kunst anzuwenden.

30 [160]

Voltaire, nach Goethe „die allgemeine Quelle des Lichts".

30 [161]

Keller, Burckhardt zu erwähnen: vieles Deutsche erhält sich jetzt besser in der Schweiz, man findet es hier deutlicher erhalten.

30 [162]

Aberglaube vom Besitz – er macht nicht freier, sondern sklavischer, braucht viel Zeit, Nachdenken, macht Sorge, verbindet mit Andern, denen man nicht gleichstehen mag, weil man sie braucht; bindet fester an den Ort, an den Staat. – Der Bettler ist freilich abhängiger, – aber wenig Bedürfnisse, ein kleiner dazu ausreichender Erwerb und viel freie Zeit. Für die welche freilich keinen Gebrauch von der freien Zeit machen können, ist das Streben nach Besitz, wie das nach Ehren Orden usw., eine Unterhaltung. Der Reichthum ist oft das Resultat geistiger Inferiorität: er aber erregt Neid, weil durch ihn die Inferiorität <sich> mit Bildung maskiren kann. Insofern ist die geistige Ohnmacht der Menschen die indirekte Quelle von der unmoralischen Begehrlichkeit der Andern. – Dies, eine Betrachtung nach dem Kriege. Die Bildung als Maske, der Reichthum als Folge der innerlichen wirklichen Unbildung und Roheit.

30 [163]

Nichts ist schädlicher einer guten Einsicht in die Cultur, als den Genius und sonst nichts gelten zu lassen. Das ist eine subversive Denkart, bei der alles Arbeiten für die Cultur aufhören muss.

30 [164]

Nach dem Kriege missfiel mir der Luxus, die Franzosenverachtung, das Nationale – so wie Wagner an die Franzosen, Goethe an Franzosen und Griechen. Wie weit zurück gegen Goethe – ekelhafte Sinnlichkeit.

30 [165]

Die Dichtkunst ist älter bei den Griechen als die anderen Künste: sie also muss das Volk an den Sinn für Maass gewöhnt haben; ihnen mussten dann die anderen Künstler folgen. Aber was mässigte die Dichter?

30 [166]

Plan.

Einsicht in die Gefährdung der Cultur. Krieg. Tiefster Schmerz, Brand des Louvre.

Schwächung des Culturbegriffs (das Nationale), Bildungsphilister.

Historische Krankheit.

Wie bekommt der Einzelne gegen die Epidemie Halt?

1) Schopenhauer's Metaphysik, überhistorisch; heldenhafter Denker. Standpunct fast religiös.

2) Wagner's Vertheidigung seiner Kunst gegen den Zeitgeschmack.

Daraus neue Gefahren das Metaphysische treibt zur Verachtung des Wirklichen: insofern zuletzt culturfeindlich und fast gefährlicher.

Überschätzung des Genius.

Die Cultur der Musik lehnt die Wissenschaft, die Kritik ab; vieles Beschränkte aus Wagner's Wesen kommt hinzu. Roheit neben überreizter Sensibilität.

Das Deuteln und Symbolisiren nimmt überhand bei den Wagnerianern.

Ich entfremdete mich der Kunst, Dichtung (lernte das Alterthum mißverstehen) und der Natur, verlor fast mein gutes Temperament. Dabei das schlechte Gewissen des Metaphysikers.

Bedeutung von Bayreuth für mich.

Flucht.

Kaltwasser-Bad.

Die Kunst, die Natur, die Milde kommt wieder.

Zweck der Mittheilung

Freunde.

30 [167]

Das Undeutsche an Wagner:

es fehlt die deutsche Anmuth und Grazie eines Beethoven Mozart Weber, das flüssige heitere Feuer (allegro con brio) Beethovens Webers, der ausgelassene Humor ohne Verzerrung.

Mangel an Bescheidenheit, die lärmende Glocke. Hang zum Luxus.

Kein guter Beamter wie Bach. Gegen Nebenbuhler nicht Goethisch ruhig.

30 [168]

Neben einer Moral der Gnade steht eine Kunst der Gnade (Inspiration). Beschreibung!

30 [169]

Damals glaubte ich das Christenthum im Verschwinden zu sehen, Wagner sandte ihm auch einige böse Worte nach – dumpfer Aberglaube – jetzt – jenseits der Berge.

30 [170]

Die grosse Oper aus französischen und italiänischen Anfängen. Spontini, als er die Vestalin schuf, hatte wohl noch keine Note eig<entlich> deutscher Musik gehört. Tannhäuser und Lohengrin – für sie hat es noch keinen Beethoven, allerdings einen Weber gegeben. Bellini Spontini Auber gaben den dramatischen Effect von Berlioz lernte er die Orchestersprache; von Weber das romantische Colorit. –

30 [171]

Was sich alles als Kraft, Inspiration, Gefühls-Überfluss geben möchte – Kunstmittel der Schwäche (der überreizten Künstler) um zu täuschen.

30 [172]

Der Luxus der Mittel der Farben der Ansprüche des Symbolischen. Das Erhabne als das Unbegreifliche Unausschöpfliche in Bezug auf Grösse. Appell an alles andere Grosse.

30 [173]

Ich zweifle nicht dass dieselben Dinge, in einen dicken süssen Brei eingehüllt, williger geschluckt werden. – Wahrheiten über Wagner.

30 [174]

Diese wilden Thiere mit Anwandelungen eines sublimirten Zart- und Tiefsinns – haben nichts mit uns zu thun. Dagegen z. B. Philoctet.

30 [175]

Wotan – die Welt vernichten, weil man Verdruss hat.

Brünnhilde – die Welt vernichten lassen, weil man liebt.

30 [176]

Wotan, wüthender Ekel – mag die Welt zu Grunde gehen.

Brünnhilde liebt – mag die Welt zu Grunde gehen.

Siegfried liebt – was schiert ihn das Mittel des Betrugs. Ebenso Wotan. Wie ist mir dies alles zuwider!

30 [177]

Wie Meister Erwin von Steinbach von seinen französischen Mustern und Meistern abhängig ist, frei und sie überragend, so Wagner von den Franzosen und Italiänern.

30 [178]

Der Gewölbebau wahrscheinlich von den Diadochen auf die Römer übergegangen, wahrscheinlich.

30 [179]

Macht und Pracht, Wille der Römer.

30 [180]

Gegensatz – Horaz unter lauter ewigen festgewordenen Dingen – wir unter lauter ganz kurzen: jedes Geschlecht soll sein eignes Feld bestellen.

30 [181]

Römer Schöpfer aller Rundformen, nicht nur Ausbildner mit Genialität.

30 [182]

Bei Goethe ist der grösste Theil der Kunst in sein Wesen übergegangen. Anders unsere Theaterkünstler, die im Leben unkünstlerisch und nur Theater-Mitleiden – – – Theater Tasso's.

30 [183]

Die Wirkungen der Wagnerischen Rhetorik sind so heftig, dass unser Verstand hinterdrein Rache übt – es ist wie beim Taschenspieler. Man kritisirt Wagner's Mittel der Wirkung strenger. Im Grunde ist es ein Verdruss darüber, dass Wagner nicht feinere Mittel nöthig fand um uns zu fangen.

30 [184]

Wie Musik im Freien bei windigem kaltem Wetter.

30 [185]

Die Freude über Rée’s psychologische Beobachtungen eine der allergrössten. Woher? so empfand ich, die Motive der Menschen sind nicht viel werth. Wie Socrates von den weisen Menschen, so ich von den moralischen. Damals machte ich Ausnahmen; um diese recht hoch zu stellen, stellte ich jene so tief (und missverstand dabei gewiss den Autor).

30 [186]

Das vorige Jahrhundert hatte weniger Historie, wußte aber mehr damit anzufangen.

30 [187]

Wie kann man nur solchen Genuß an der Trivialität haben, daß Selbstliebe die Motive aller unserer Handlungen abgiebt! 1) Weil ich lange nichts davon wußte (metaphysische Periode) 2) weil der Satz sehr oft erprobt werden kann und unseren Scharfsinn anregt und so uns Freude macht 3) weil man sich in Gemeinschaft mit allen Erfahrenen und Weisen aller Zeiten fühlt: es ist eine Sprache der Ehrlichen, selbst unter den Schlechten 4) weil es die Sprache von Männern und nicht von schwärmerischen Jünglingen ist (Schopenhauer fand seine Jugendphilosophie namentlich das 4te Buch sich ganz fremd –) 5) weil es antreibt, es auf unsere Art mit dem Leben aufzunehmen, und falsche Maßstäbe abweist; es ermuthigt.

30 [188]

Rückschritt gegen das vorige Jahrhundert in Ethik – Helvetius. Von da abwärts Rousseau Kant Schopenhauer Hegel.

30 [189]

Die Heftigkeit der erregten Empfindung und die Länge der Zeitdauer stehen im Widerspruch. Dies ist ein Punct, worin der Autor selber keine entscheidende Stimme hat: er hat sich langsam an sein Werk gewöhnt und es in langer Zeit geschaffen: er kann sich gar nicht unbefangen auf den Standpunct des Aufnehmenden versetzen. Schiller machte denselben Fehler. Auch im Alterthum wurde viel zurecht geschnitten.

30 [190]

Dies sah ich ein, mit Betrübniss, manches sogar mit plötzlichem Erschrecken. Endlich aber fühlte ich dass ich, gegen mich und meine Vorliebe Partei ergreifend, den Zuspruch und Trost der Wahrheit vernehme – ein viel grösseres Glück kam dadurch über mich, als das war, welchem ich jetzt freiwillig den Rücken wandte.

30 [191]

Wagner's Nibelungen-Ring sind strengste Lesedramen, auf die innere Phantasie rechnend. Hohes Kunstgenre, auch bei den Griechen.

30 [192]

Widerspruch im vorausgesetzten Zuhörer. Höchst künstlerisch als Empfänger und völlig unproductiv! Die Musik tyrannisirt die Empfindung durch allzupeinliche Ausführung des Symbolischen, die Bühne tyrannisirt das Auge. Etwas Sclavenhaft-Unterthäniges und doch ganz Feuer und Flamme zugleich bei dieser Kunst – deshalb eine Parteizucht sonder Gleichen nöthig. Deshalb Judenthum usw. als Hetzpeitsche.


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