Friedrich Wilhelm Nietzsche
Fragmente 1875-1879, Band 2
Friedrich Wilhelm Nietzsche

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[Sommer 1875]

[Dokument: Heft]

9 [1]

Der Werth des Lebens von E. Dühring. 1865.

Vorrede Dührings zum „Werth des Lebens". Er erwartet Anfeindung von vielen Seiten, glaubt bei der Schulphilosophie Anstoß gegeben zu haben, einmal weil er auf die wirthschaftliche Zukunft der Menschheit Rücksicht nimmt, dann weil er die Begriffe von Gerechtigkeit auf Rache zurückführt. Sonst weiß er sich in vollständiger Übereinstimmung mit dem Geiste der Zeit und meint, daß die Versuche, ihn zu beseitigen eben an diesem Geiste scheiter werden. Schlechter Stil, Mangel an Haltung und Höhe, verdorbne Manier der Kürze („materielle Gesichtspunkte", Nation entfernt sich von der Traumwelt, in welche der Schwerpunkt ihres Daseins fiel", "Vorwegnahme", "Rücksichtnahme", „kolossalen Dimensionen, welche das Denken annehmen muß"). In der Sprache ist etwas Unlogisches, doch keineswegs das Unlogische der enthusiastischen Reflexion, vielmehr eine Vereinigung von Unsauberkeit (Schlumperei), Nüchternheit und Mangel an Übung im Stil. An Schopenhauer darf ich nicht denken, auch was das Ethos betrifft. – Der "Weltverzweiflung" – schönes Wort – wird also nicht das Wort geredet. Er bezeichnet sich als den "entschiedensten Antagonisten" Schopenhauer's; aber "Hochachtung für sein Streben und seine Leistungen" hat er doch! – Auf Feuerbach führt er "die junge lebende kräftige Richtung zurück, die jetzt einen Theil der Würde der Philosophie zu wahren versteht indem sie der Dunkelmacherei mit Energie und Erfolg entgegentritt." Berlin 1865.

Einleitung.

– "die Stärke des Optimismus besteht im Übersehen und Ignoriren" des Disharmonischen in dieser Welt, der Pessimismus lagert zwei Systeme über einander", "kennt die Kraft des einheitlichen Denkens nicht". – So wäre also der Optimismus die Philosophie der logischeren Menschen – was das Schließen aus dem vorliegenden Material betrifft, aber sie legen sich absichtlich ein unvollständiges Material vor und sehen über das andre weg. Die Lösung der Pessimisten ist eine unlogische, sie stellen zwei logisch unvereinbare Welten neben einander: denn die höhere Ordnung der Dinge soll die niedere bei ihnen nicht erklären, sondern aufheben, vernichten; oftmals nehmen sie gerade für die Existenz der wirklichen Welt die blinde Unvernunft als Ursache an. Es ist keine logische Noth, sondern eine poetische, welche den Pessimismus erzeugt. Während dem ist es überhaupt nicht die praktische Noth, welche den Optimismus erzeugt: sie haben das Behagen und machen nur, wenn sie von den Pessimisten gezwungen werden, den Ansatz, daraus ein System zu bilden und sich logisch zu rechtfertigen. So ist Optimismus wesentlich Selbstvertheidigung der Glücklichen gegen die Behauptungen der Pessimisten, Pessimismus ist aggressiv und hat in der Noth seine Mutter. Er ist älter und ursprünglicher als der Optimismus, produktiv, so daß er selbst noch seinen Gegensatz an's Licht ruft. Ego.

Im Felde der praktischen Urtheile und Werthe giebt es kein reines Urtheil, keine reine Erkenntniß. In der Beschaffenheit unseres Strebens, unserer Absichten liegt die Wurzel aller unserer beistimmenden oder verwerfenden Urtheile über das Leben. Dies zur Kritik der Schopenhauerischen Philosophie. Gewisse Vorstellungen sind gar nicht möglich außer der Beziehung auf ein Wollen. Jeder Trieb ist ein Bedürfniß und enthält bereits die Vorstellung von der Existenz eines Gegenstandes der Befriedigung; so ist der Trieb ideenbildend.

Der Gegensatz rein theoretischer Urtheile und praktischer Werthschätzungen ist der: ein theoretisches Urtheil stellt Übereinstimmung mit einem rein theoretischen Begriff hin, die praktische Werthschätzung Übereinstimmung mit einem Bestreben d. h. mit einer Sache, welche ein Maaß dessen schon hat, was sein soll.

Das Gesammturtheil über den Werth des Lebens ist die Resultante der Elementarbestimmungen; es kann keinen tleoretischen Begriff geben, welcher im Voraus feststellte, wie das Leben beschaffen sein müßte, um unseren Beifall zu haben. Absurde Standpunkte sind also solche: das Übel ist zu leugnen, denn es ist nur vom Standpunkt des Menschen wirklich Übel. Oder mit Spinoza: nichts ist an sich verwerflich; erst das Wollen der Menschen stempelt dies zum Guten, jenes zum Bösen. Wenn man so das Menschliche überhaupt aufgiebt, so verliert man jedes Maaß für praktische Werthschätzung. Nebenbei verliert man das sittliche Urtheil (man darf nicht mehr von gut und böse reden, ja jede nicht rein theoretische Entscheidung müßte als Täuschung bezeichnet werden). – Also am Streben mißt sich der Werth der Dinge, für den gar nicht Strebenden giebt es keine Werthe, für den rein Erkennenden fehlt alles Gut und Böse, alles Zustimmen und Verwerfen. Der gar nicht Strebende giebt nur rein theoretische Urtheile. Mir scheint also, daß alle Höhe des Urtheils über den Werth des Lebens an der Höhe und Stärke des Strebens hinge d. h. einmal am Ziele, und zweitens an dem Grad des nach dem Ziele Hindrängens, Hinlaufens.

Jede bejahende Werthschätzung ist ein Zustreben, jede Verneinung ein Entgegenstreben. Jedes praktische Urtheil läuft auf Zuneigung oder Abneigung zurück.

Vielleicht gehört selbst alles rein Theoretische unter die Grundform des Praktischen. Der Verstand giebt das Gesetz, was verstandesmäßig ist, was nicht: also was sein soll, was nicht: er stimmt dem zu, was seinem eignen Wesen gemäß ist.

Das Urtheil über den Werth des Lebens ist, kurz gesagt, eine Gemüthsbewegung – entweder Lebensdrang oder Lebensüberdruß. Dühring leugnet den Lebenshaß: es wäre eine Lebensregung, welche sich gegen das Leben selber regt.

Die Betrachtung über das Unabänderliche im Subjekt des Menschen ist daher die Vorarbeit: mit der Frage: ist vielleicht die ganze Anlage des Empfindungs- und Gemüthslebens mit einer harmonischen Entfaltung des Wesens unvereinbar?

Ob diese Welt die beste sei, ist eine absurde Frage: wir haben gar keine Vorstellung von verschiedenen Möglichkeiten.

Dühring stellt seine Aufgabe so: die widrigen Seiten des Daseins sollen in der Harmonie des Ganzen ihre Beleuchtung finden" (infam ausgedrückt!) „Das Übel läßt sich nicht zum Guten umprägen." "Schmerz bleibt Schmerz, welche Folgen er auch haben möge." "Obwohl die Welt weder dem Verstande noch dem Triebe völlig genügt, haben wir doch gar kein Mittel verstandesmäßig zu untersuchen, warum das Leben Übel einschließe." Welt und Leben sind gegebne Thatsache, unsere Aussöhnung mit ihren widrigen Seiten kann nur eine thatsächliche sein." „Diese Aussöhnung ist also selbst nur in Gestalt einer Bestrebung vorhanden." Man sucht die Resultante der vereinzelten Gemüthsbewegungen und benutzt diese als Widerstandskraft gegen die mannichfaltigen Eindrücke. So gelangt man zu einer zwar nicht mißklanglosen, aber doch zu einer Harmonie. Die Aussöhnung mit dem Einzelnen wird aus der Betrachtung des Ganzen geschöpft. Die theoretische Unmöglichkeit, nach dem Grunde des Thatsächlichen zu fragen, ist selbst schon Disharmonie. Einzig bleibt uns für unseren Verstand übrig „die Idee des einzelnen Ungemachs durch die Vorstellung eines größeren Zusammenhangs zu überwinden", die einzelne Vorstellung durch die Gesammtheit der übrigen zu modificiren.

Aber die theoretische Versöhnung reicht nicht aus; wäre das Denken im Stande ungetrübte Ruhe zu geben, dann würde die beschauliche Weisheit (wie alles, was durch bloße Theorie zu befriedigen verspricht z. B. Kunst) die ausschließliche Theilnahme der Menschen verdienen. Aber sie ist nicht das Mittel, der Übel Herr zu werden. Die Philosophie gerade muß anerkennen, daß bloße Anordnung der Ideen nicht ausreicht, wenn es heißt, den Übeln gewachsen zu sein. Die That und das Bewußtsein der That muß hinzukommen; die wirkliche Änderung der Empfindungen muß den Vorstellungen eine andre Grundlage geben, die Stimmung muß geändert werden.

Selbst eine Theorie, welche auf eine harmonische Aussicht der Welt ausgeht, kann die Voraussetzung nicht entbehren, daß Thatkraft gegen das übel noththut. Nur das, was für Menschen unveränderlich feststeht, mag bloß zu einer Anordnung der Ideen auffordern. Wo menschlicher Eingriff die Dinge noch ändern kann, da sind die Thaten das Erste. Der Optimismus wird häufig verächtlich, weil er die übel seiner Trägheit wegen beschönigt, auch ein großer Theil der Philosophen hat dort Unveränderlichkeit angenommen, wo menschliche Thatkraft noch Aussicht auf Erfolg hat. "Das Urtheil über den Werth des Lebens wird verschieden ausfallen, je nachdem man die Linie zwischen dem Unabänderlichen und dem durch Menschen Verschiebbaren zieht."

Das sind die Gedanken der Einleitung.

Kurz: aus den vielen einzelnen Werthschätzungen resultirt als Summe die jedesmalige Ansicht vom Werth des Lebens. Bei keiner Werthschätzung handelt es sich um reine Erkenntniß, alle sind Gemüths-Affektionen; jene Summe ist auch nichts als eine Gemüths-Affektion: das Urtheil über den Werth des Lebens kann nie reine Erkenntniß sein. Ich will doch hinzufügen, daß es richtiger noch wäre, alle solche Urtheile unreine Erkenntnisse zu nennen: die Unreinheit liegt 1) in der Art, wie das Material vorliegt, sehr unvollständig z. B. 2) in der Art, wie daraus die Summe gebildet wird: so daß z. B. eine falsche Verallgemeinerung gemacht wird (die Summe unserer Erfahrungen kann nie zu einem Urtheil über das Leben berechtigen), also der logische Ausdruck jener Summirung falsch ist 3) darin daß jedes einzelne Stück des Materials wieder das Resultat unreinen Erkennens ist; und zwar ganz nothwendig: keine Erfahrung z.B. über einen Freund kann vollständig sein, so daß wir ein logisches Recht zu einer Gesammtschätzung hätten. Alle Schätzungen sind voreilig und müssen es sein. Sodann ist das Maaß, womit wir messen, unser Wesen, keine unveränderliche Größe, wir haben Stimmungen usw., wir müßten uns selbst kennen, um gerecht das Verhältniß irgend einer Sache zu uns abzuschätzen.

Sind somit alle Urtheile über den Werth des Lebens ungerecht und unlogisch entwickelt: so würde daraus folgen, daß man gar nicht urtheilen sollte? Wenn man aber nur leben könnte, ohne zu schätzen, ohne Abneigung und Zuneigung zu haben! Denn alles Abgeneigtsein hängt mit einer Schätzung zusammen, ebenso alles Geneigtsein. Trieb ohne jede begleitende Erkenntniß (über Förderndes Schädliches) existirt gar nicht. – Wir sind von vornherein unlogische und daher auch ungerechte Wesen und können dies erkennen! Das ist eine der ungeheuersten Disharmonien des Daseins! Wir tragen doch ein Maaß in uns, womit wir hier das Dasein messen und das ganz unverrückbar ist: es wird wohl der Satz der Identität sein. Wiederum ist dieses Maaß gerade die einzige Harmonie, welche wir kennen. Uns scheint es so, daß die disharmonische Welt existirt, jene Harmonie im Satz der Identität aber nichts als eine Theorie, eine Vorstellung ist. Kann man sich aber das Sich-Widersprechende als wirklich denken? Die sogenannte Wirklichkeits-Philosophie empfiehlt sich durch dies Wort dem populären Vorurtheil über Wirklich und Nichtwirklich. Aber wenn z. B. feststünde, daß ohne den Begriff einer harmonischen Wirklichkeit gar nicht die Dinge geschätzt werden könnten, nicht einmal falsch, so ist ja Urtheilen, Werthe-bestimmen selbst nichts andres als Messen der „wirklichen" Welt an einer, die uns für wirklicher gilt.

Also: die Unterscheidung zweier Welten, von denen die eine die schlechtere ist, die unwirklichere im Vergleich zu einer wirklicheren besseren, die These somit des Pessimismus ist die Thatsache, welche allem Werthschätzen vorausliegt; sie liegt in der Constitution des urtheilenden Verstandes, der von der Identität als der ihm zugänglichen Welt ausgeht. Die Entstehung des Verstandes und seine Constitution ist nicht aus dem praktischen Verhalten zu den Dingen abzuleiten, der Verstand ist keine Herausbildung des Gemüths. Sondern alles Zu- und Abneigen setzt schon den Verstand voraus und in ihm den Satz des Widerspruchs; ohne Logisches auch keine Empfindung, keine Stimmung, keine Vorstellung.

I. Das Leben als Inbegriff von Empfindungen und Gemüthsbewegungen.

Auf die Gesammtheit von Affektionen kommt es an; auch die durch Träume hervorgebrachten sind in Anschlag zu bringen. Überhaupt ist gleichgültig, ob eine Affektion auf Wahrheit oder Irrthum beruht.

Das Leben ist nicht nur die Summe der Erregungen, die in's Bewußtsein treten. Art und Grad derselben ist zu verschieden. Die Systeme der Alten nahmen nur eine Art heraus und machten sie zum ausschließlichen Maaß der Beurtheilung: die Epikureer die Empfindung, die Stoiker das abstrakte Bewußtsein. So gelangten sie in der Praxis zu falschen Maximen. Die ersteren jagten den angenehmen Empfindungen nach und unterschätzten die gewaltige Macht der abstrakten Vorstellungen auf das Gemüth; die andern erkünstelten einen Triumph über Empfindung und Affekt, geriethen in Affektation und richteten sich so äußerlich nach der Schablone des Katechismus, ohne innerlich gesiegt zu haben: Grimasse und Schauspielerei. – Nicht einmal das Leben der Thiere besteht aus lauter Empfindungen; in den höheren Stufen hat es Gemüthsbewegungen; es hat z. B. Gram. Der Mensch sinkt, wenn er einmal sinkt, immer unter das Thier. Mit dem Verzicht auf gewisse Elemente des vollen Lebens ist immer eine Entartung verknüpft. – Giebt es eine Ansicht, welche die Gemüthsbewegungen zum ausschließlichen Werthmesser macht? Dagegen hat in die abstrakteren Vorstellungen nicht nur der Stoicismus, sondern die ganze neuere Moral den Schwerpunkt des Daseins gelegt: in der Übereinstimmung mit ganz abstrakten Maximen, die ihren Ursprung nicht in den Affekten haben sollen. Aber Motive des Handelns und der Affektion, die nicht ihre Wurzel in Empfindung und Affekt hätten, giebt es nicht. Das Spiel der Affekte macht alle Lebensäußerungen bis zur Produktion der abstraktesten Ideen begreiflich. Die Leidenschaften gehören zum Leben, man darf sie nicht als Störer des Glücks verdächtig machen. Das Dasein wird eine öde Wüste ohne Liebe und Haß. Die Menschen wollen die gleichmäßige Ruhe gar nicht, sie suchen Erregung und Aufregung. Sie fordern Lust und Schmerz gleichsam heraus. Nichts Großes wird ohne Leidenschaft vollbracht, sagt Aristoteles. Das Leben selbst ist jenes Große, welches nicht ohne Leidenschaft vollbracht wird. Von den Leidenschaften abstrahiren führt einerseits zur Askese, andererseits zum wohlberechneten matten Sinnengenuß; da wird alles, was dem Leben Werth ertheilt, vernichtet. Der Mensch sinkt im zweiten Falle unter das Thier, im ersten wird er zum widerwärtigen Ungeheuer („er tastet die Wurzel alles Strebens ohne Unterschied an"). Dort wendet man sich gegen einen Theil der Lebensbedingungen, hier gegen den ganzen Inhalt. Der gemeine Selbstmord ist etwas verhältnißmäßig Unschuldiges gegen das Beginnen, das Wesen der Gattung selber zu ertödten, nicht nur ein einzelnes Individuum. Selbst der Mord kann als geringeres Verbrechen erscheinen, als das finstere Werk der Leute, welche das Leben mit ihren Anklagen vergiften. – Und so geht die unverschämte Schimpferei vor; darin kommt vor: „die Entwurzelung alles Großen und Edlen, die Verhöhnung und Anfeindung aller humanen Empfindungen und Gefühle" -; „im Bunde mit der Ausschweifung und der abgestumpften Ausgelebtheit" -"geht eine vermeinte Philosophie dann kühn daran, den Haß des Lebens und des Lebendigen auszusäen." Nun denke man dabei einmal an Buddha und Christus usw.! "Der Einzelne mag entschuldigt werden, wenn er sich dem Kloster zuwendet; es kann nicht zur allgemeinen Doktrin werden, ohne den Charakter eines intellektualen Verbrechens anzunehmen." Das soll wohl heißen: der Einzelne in seiner praktischen Verneinung mag entschuldigt werden: nicht aber der Einzelne, der eine theoretische Allgemein-Maxime daraus macht, das wäre ein Verbrechen am Intellekt. "Wäre das Band der Menschheit fester geknüpft, so würden auch jene traurigen Ausnahmen aufhören, das Gemüth würde nicht allein an das eigne selbstsüchtige Trachten gebunden sein, das individuelle Geschick wäre nicht mächtig genug, die Affekte, die sich auf ein größeres Ganze, auf die Menschheit beziehn, zu erdrücken. Die Kraft der Leidenschaft würde sich erhalten; die Kraft zu Liebe und Haß würde der ertödtenden Macht des besonderen Schicksals entgehen." Da ist nun alles verkehrt! Erstens nimmt er überall an, daß die Asketen gerade als Egoisten Asketen sind, daß nur das individuelle Loos sie zum Haß gegen das Dasein bringt. Zweitens fühlt er nichts von dem allgemein helfenden und für Alle wirksamen Pathos des Asketenthums; in seiner höchsten Gestalt ist es ja gerade der Tod und das Leiden für Alle. Drittens verwechselt er Blasirtheit und Ekel mit jener Abwendung vom Leben. Wenn er sagt "wäre das Band der Menschheit fester geknüpft, so würden jene traurigen Ausnahmen, jener geistige Selbstmord aufhören." Er meint also in allem Ernste, daß ein Leben in der Einsamkeit nie ein Leben für die Menschen sein könne, und daß Abwendung vom Leben Abwendung von den Menschen sei. Nun ist es thatsächlich umgekehrt; ich möchte wissen, welche Art von höheren Bändern überhaupt Mensch an Mensch knüpfen würde, wenn man die Arbeit der einsamen Asketen jeder Art wegnehmen wollte! Und nun gar geistiger Selbstmord! Man denke an Empedokles und Schopenhauer, Leopardi, die hier als „Verbrecher am Intellekt" erscheinen, an Luther und an wie viele andre. Es scheint nicht, daß gerade der „Geist" bei dieser Art, das Leben zu betrachten, verkümmert!

Die selbstquälerischen Lehren werden nun aus gewaltig erkünstelten Verhältnissen abgeleitet ("die Stimmung muß bedeutend von der normalen Haltung abweichen" – die beliebte Insinuation der Verrücktheit aller Asketen und asketischen Philosophien!). Deshalb soll diese „Carikatur des Menschlichen" kein so gefährlicher Gegner sein. – (Und doch haben die ernstesten Menschen ganzer ungeheurer Religionen darnach gelebt und gelehrt!)

Gefährlicher sei die Moral, die den Abstraktionen opfert.

Ich will hinzufügen, daß zur Entstehung des Asketenthums vielleicht ein intellektueller Irrthum nöthig ist (über Leib und Seele, über den Leib als Sitz der Affekte, wie bei Plato); aber dieser Irrthum bezieht sich doch nur auf die Vorstellung, wie der Mensch loskommt vom Willen zum Leben; der Trieb überhaupt davon loszukommen, hat damit nichts zu thun, ist nicht aus dem Intellekt abzuleiten. Daß ein solcher Trieb gerade bei den edleren Menschen entstehen kann, ist doch ein Werthmesser des Daseins, man kommt mit Schimpfen nicht darüber weg; selbst wenn ein ungeheurer Irrthum darin läge, so gehörte die Möglichkeit eines solchen Irrthums wieder zu den dunklen Zügen des Daseins. Dühring ist besonders über die erwähnte Affektlosigkeit wüthend; wenn nun aber jemand dem Pathos entsagt und ganz ηθος; zu werden versteht, so gilt das uns viel höher und die Möglichkeit eines solchen Verhaltens ist gerade für uns ein Objekt der Sehnsucht. Der Advokat des Pathos nimmt sich als Lebens-Verherrlicher übel aus. Wenn nichts Großes ohne Pathos entsteht (woran zu zweifeln ist –), so fällt ein unheimliches Licht auf das Leben; es genügt in allem Entstehen von etwas Großem etwas Tragisches zu sehen, ja im Leben selbst eine Tragödie. „Unsere Moral ist ein Götzendienst, der die lebendigen Motive den leeren Abstraktionen opfert." Unrecht z. B., das größte Übel, welches die Welt kennt (ich zweifle!); die Enthaltung von demselben die erste Voraussetzung eines befriedigten Gemüthszustandes. Es hat diese Eigenschaft nicht, weil eine abstrakte Regel es als verwerflich bezeichnet; ein Trieb hat den Begriff des Unrechts geschaffen, der Vergeltungstrieb, die Rache; auf diesen Affekt weisen die verbleichenden Begriffe von Gerechtigkeit und Pflicht zurück.

Die Moral will über die verschiedenen Arten des Verhaltens den Werth bestimmen: dazu braucht sie ein Maaß. Dies liegt in den unwillkürlichen Bestimmungen, welche die Natur gegeben hat, die Grundlage ist in Trieben und Affekten gelegt. Der rein theoretische Verstand kann kein Sollen hervorbringen. Eine Moral, welche das ganze Reich der unmittelbaren Gefühle verurtheilt, ist eitel Gleißnerei.

„So stehen die falschen Principien der moralischen Werthschätzung einer richtigen Würdigung des Lebens gegenüber." Nun sucht er das Gleichgewicht der Seele zu diskreditiren, das sei nichts Erhebliches, es komme auf die Kräfte an, die hier im Gleichgewicht befunden werden. Art und Maaß der mit einander verbundenen Empfindungen und Gemüthsbewegungen sind es, denen es verdankt wird, wenn ein Gleichgewicht entsteht; die abstrakte Kraft bezieht sich nur auf die Bestimmung der einzelnen Faktoren, nicht auf das Ganze. – Dies Alles ist unklar gedacht oder ausgedrückt.

Die Ausartung der Systeme der Moral hängt an der Vernachlässigung des Unterschieds zwischen Gemüthsbewegungen, die sich auf den Menschen als Einzelnen und die sich auf das Verhalten der Menschen zu einander beziehn. Jemand als Einziger auf der Welt gedacht würde einer Hauptquelle der Lust und des Schmerzes ermangeln: nichts von den sympathischen Affektionen, nichts von Liebe und Haß, Neid und Rache wissen. Unrecht und Treulosigkeit würden ihm unbegreiflich sein. Der Mensch bedarf nicht nur der Natur, er bedarf seines, Gleichen. Der Tiefe des Wehes (bei Verletzung von Mensch zu Mensch) entspricht die Höhe der Wonne (bei Befriedigung von Liebe Ehre Ruhm). Der Spielraum dazwischen ist außerordentlich groß: das liegt daran, daß der ganze Mensch für einen anderen Gegenstand werden kann; nicht das Einzelne, was wir in Gutem und Schlimmem von einander erfahren, sondern die Gesinnung, als deren Ausdruck wir alles Einzelne verstehen, bewegt uns so bis in die Tiefe des Wesens. Die rein egoistischen Lebensnöthe und die im Verkehr mit Menschen entstehenden, der egoistische Genuß und die Freuden des Mitgefühls stehen gar nicht gleich. Infam, die Aufopferung zur Selbstsucht zu stempeln und die uneigennützigen Gefühle zu leugnen! Mitleid und Liebe haben ihren Schwerpunkt in der Vorstellung des fremden Wesens, Rache und Neid sucht Wahrung des eignen Selbst. Gewisse anmaaßende Lehren suchen freilich den isolirten Subjektivismus und noch dazu eine abstrakte Einheit aller Affektionen: diese stellen ein Reich des Egoismus auf. Spinoza davon nicht frei zu sprechen. Dagegen zeigt Kant eine erste Ahnung, worum es sich handelt: Scheidung der Moral, die sich mit bloßen Zweckmäßigkeiten nach dem Gesichtspunkt der menschlichen Bedürfnisse beschäftigt und der Moral, welche die Rücksichten von Mensch zu Mensch in's Auge faßt. Die erstere Gattung verachtete er als bloße Technik des Lebens; das ist seine Einseitigkeit. Dagegen Dühring: „die höhere Einsicht in das Wesen des Lebens hängt davon ab, ob wir das Übel, das die Folge der ungerechten Verletzung ist, zu unterscheiden wissen von dem Ungemach, welches Zufall und Bedürftigkeit über uns verhängen." „Alles was der Gesichtspunkt des eignen Vortheils zu Laster und Tugend gestempelt hat, verschwindet gegen die Bedeutung des Verhaltens, in welchem der Mensch seinesgleichen fördert oder verletzt." „Die Gemüthsempfindungen der einen oder der andren Klasse sind ganz verschieden." „Darauf beruht es, daß wir die ärgsten Vergehungen gegen unser eigenes Wohl zwar bedauern, aber doch nicht mit jenem Stachel empfinden, welcher die Empfindung des Unrechts begleitet."

II. Der Unterschied als der eigentliche Gegenstand der Gefühle.

Nach den Veränderungen trachtet die Lust am Leben, nach dem stoßartigen Übergang des einen Zustandes in den andern. Vielleicht ist zwar selbst die Gleichförmigkeit der Stimmung nichts als eine große Menge von Stößen, die einzeln unmerkbar sind. Aber das Ungleichmäßige der Stöße begehren wir, die hohe Energie derselben, bei allen Veränderungen; wir stellen die Veränderung dorthin, wo der Höhepunkt der Empfindung liegt. Es wird wesentlich nur die Veränderung empfunden. Spannung der Gegensätze ist für die Entstehung jeder stärkeren Empfindung nöthig. Das Auge empfindet die Veränderung des Lichtreizes stärker als das Beharren: man sagt da, die Gewohnheit stumpfe ab. Physiologisch beruht die Abstumpfung auf der Wiederholung desselben plötzlichen Eindrucks, durch leere Zwischenzeiten unterbrochen. Ein Gitter, welches Sonnenstrahlen durchläßt; das Auge hält den plötzlichen Wechsel von Hell und Dunkel nicht aus, den starken Reiz und den fast völligen Mangel desselben. Alle Empfindung in der Form eines gleichmäßigen Rhythmus, das fast Leere und Volle wechselt wie am Gitter. Daher Ermüdung. Ein langer Ton auf die Dauer sehr lästig: man kann ein Bild nicht zu lange ansehen. So empfinden wir den Anfang einer Affektion stärker, weil der andauernde Reiz unsre Ermüdung mit sich bringt: also Gewohnheit ist der Ausdruck für eine gewisse Ermüdung; noch länger fortgesetzt, erzeugt sie den Überdruß.

Die Langeweile: zu erklären aus Abwesenheit der Lebensreize, dort wo dieselbe Thätigkeit sich immer wiederholt; sie geht im glücklichen Falle über in den Überdruß und findet da ihr Ende. Aber oft ist der Lebenstrieb zu schwach, um die Intensität der Langeweile zu erzeugen, die zur Negation des Zustandes führt: die schlimmste Art der Unlust! Sonst ist sie eine treibende Macht; sie verurtheilt die gegenwärtige Bethätigung des Geistes und reizt ihn, in einen neuen Zustand überzugehn. Lebenerstarrend ist sie also nur da, wo Trägheit des Lebenstriebes bereits da ist. (Dies sagt er gegen Schopenhauer: aber was ist das für Blödsinn „ Trägheit des Lebenstriebes"). „Wo die Kraft zur Gemüthsbewegung für immer vernichtet ist, da ist Disharmonie zwischen den Vorstellungen des noch regsamen Verstandes und den wenigen Lebensreizen, denen das abgestumpfte Gemüth noch zugänglich ist." Er meint die Asketen und Philosophen des Asketismus: die hätten die Langeweile; also bei „theilweiser Ertödtung der Fähigkeit zum Leben;" er räth da, sich künstlich zu arrangiren und sich vornehmlich auf das abstrakte Vorstellungsvermögen zu beschränken; für den Greis fängt der Reiz der verblaßten Affektionsbilder an, auch dort wo eine „vorzeitige Abnutzung der Lebenskräfte" greisenähnlich macht. Da mag man sich vor nichts mehr hüten als „den frischen Reiz des Lebens wieder zu gewinnen"; „bei der Vergeblichkeit des Strebens würde das Dasein verkümmern." Man muß hier entsagen; dann fällt auch der vermeintlich lebenerstarrende Charakter der Langeweile fort. Es ist dann eine beschränktere Sphäre des Lebens, im Vergleich zum ganzen vollen Leben.

Es wird stets nur der Unterschied empfunden, man muß das Maaß der Bestrebungen kennen, um über Dasein und Größe der Befriedigung zu urtheilen.

Wenn die Menschen nicht die dauernden Verhältnisse mit Gleichgültigkeit betrachteten, so würden sie auch einsehen, daß es ein Glück im Unglück geben kann. Es kommt ganz auf den einmal gezogenen Rahmen des Lebens an: innerhalb desselben giebt es dann Befriedigung oder nicht. – Der Zustand, der uns gewaltig erregte, wird nachher gleichgültig und bildet die neue indifferente Basis des neuen Lebensgenusses.

Der Eintritt in's Leben ist auch ein Übergang: der völlig neue Reiz hebt sich auf das Stärkste gegen die verhältnißmäßige Leerheit und Unbestimmtheit des Lebensdranges ab. Jedes Individuum ist ein neuer Standpunkt, der eine neue Welt ins Bewußtsein treten läßt.

(Nun, das ist doch auch Mythologie, und Mystik und zwar schlecht geglaubte!)

III. Die Grundgestalt in der Abfolge der Lebenserregungen.

Wechsel von Hebung und Senkung, das Wogen ist der einfachste Typus. Die Wellenform fast in allen Vorgängen der Natur: in ihr pflanzen sich Bewegungen fort. Der Rhythmus beherrscht das ganze sogenannte todte Dasein.

Wellen sind abwechselnde Anhäufungen und Minderungen in der übrigens gleichmäßig vertheilten Materie. Ihre Grundgestalt ist: Wechsel in Zusammenziehungen und Ausdehnungen. Hebungen und Senkungen der Gefühlsenergie folgen in stetem Wechsel, die beharrlichen Zustände sind ein gleichmäßig wiederkehrender Rhythmus, dessen einzelne Pulse wir nicht unterscheiden. So empfinden wir Licht- und Toneindrücke als stetige, während sie rhythmisch sind. Nun ist nicht etwa die Empfindung als solche eine Bewegung. Versuchen wir sie uns als solche vorzustellen, dann denken wir uns diese Kraft noch einmal in umgekehrter Richtung. Die ungehemmte Bewegung einer Masse im leeren Raume wird nicht als Kraft vom Standpunkt unsrer Empfindung vorgestellt. Bewegung gehört ganz der formalen Seite unsres Denkens an, hat mit der Empfindung nichts zu schaffen. Die Bewegung muß erst verschwinden d. h. zu einer statischen Wirkung führen, ehe sie unsre Empfindung angeht. Empfindung ist das Zeichen einer statisch wahrnehmbar gemachten d. h. aufgehobnen Bewegung. Die gewöhnliche Vorstellung, daß die Empfindung der direkte Ausdruck einer in uns erregten Bewegung sei, ist falsch. Die Bewegung als solche empfinden wir nicht.

Also: in den stetigen Zuständen der Empfindung ist ein elementarer Rhythmus. Aber in den unterbrochenen Empfindungen? Giebt es da ebenmäßig periodischen Wechsel? Innerhalb jeder Classe von Empfindungen ist Hebung und Senkung ganz offenbar. Aber verschiedene Gemüthszustände scheinen unregelmäßig zu folgen. Die Höhenpunkte des Lebens haben das Aussehen vereinzelter Gipfel.

Eine gewisse Disharmonie d. h. eine Mischung von Einstimmung und Widerstreit scheint die thatsächliche Form des Lebens zu sein. Die Bewegung unterhalb der Grenze des völlig Harmonischen ist es, was dem Spiele seinen Reiz verleiht. Hier entnimmt Dühring viel aus der Analogie von Musik und Leben; seine Lehre ist übrigens symbolisch-mythologisch auch in meiner Auffassung des Dionysischen und Apollinischen enthalten. Das Dionysische ist dann der disharmonische Grund, welcher nach dem Rhythmus, der Schönheit usw. verlangt. Der Rhythmus des organischen Lebens – wie weit paßt er sich der Form der andringenden Reize an? Es kann zunächst der Gegensatz empfunden werden, bis zur völligen Vernichtung der Empfindung, andererseits kann, wenigstens für Zeiten, der Rhythmus des organischen Lebens ganz den andringenden Reizen nachgeben, in sie übergehen – dies alles ist das dionysische Phänomen. Dagegen ist das maßvolle Verhalten gegen die andringenden Reize, das Festhalten des eignen Rhythmus, das Einordnen von zwei Rhythmen-gestaltungen in einander, endlich die Übertragung des eignen Rhythmus auf die andringenden (= Reize Schönheit) das apollinische Phänomen.

Weshalb verehrte Schopenhauer so die Musik? Dühring erklärt dies so. Mit dem Ton verbindet sich die Empfindung unmittelbar (die Musik ist ein "Mittel des Ausdrucks"). Handelt es sich um Verkürzung der Empfindungs- und Gemüthswelt, in der die objektiven Vorstellungen gar nichts zu bedeuten haben, so ist die Musik das verlangte abstrakte Reich. Nun leitet Schopenhauer alle Schuld der Verkümmerung des Daseins von der Objektivation ab. Er schaut mit mystischer Sehnsucht auf ein Reich aus, welches der Ungebundenheit und Freiheit in der Welt der Töne entspricht.

IV. Der Verlauf eines Menschenlebens.

Die Erkenntniß ist es, die die Lebenserfahrungen zu einem einheitlichen Bewußtsein vereinigt und, indem sie über das individuelle Leben hinausträgt, das allgemeine Schicksal ergreift und in ihm die Noth des Augenblicks verklingen macht. So wird sie zur Philosophie und führt zum Glauben an den Werth des Daseins. (Muß sie das wirklich? Die Erkenntniß des allgemeinen Schicksals – könnte sie nicht nur deshalb die gegenwärtige und individuelle Noth „ver klingen machen", weil es so viel gewaltiger lastet und schmerzt, also nur als der intensivere Schmerz gegen den viel kleineren stumpf macht? Ist nicht der Glaube an den Unwerth des Daseins ein Narkotikon gegen das Individuelle, so gut als der Glaube an den Werth?)

Wären wir auf eigne Erinnerung und Erwartung eingeschränkt, so würden wir Geburt und Tod gar nicht kennen: so wie die ganze Gattung der Menschen sie nicht kennt. (Ursprung gänzlich verborgen, in Bezug auf die Zukunft Zweifel, ob die Menschheit ein Ziel hat oder nicht.) Hätten wir die Kenntniß, wie die Bevölkerung eines kosmischen Körpers untergegangen ist, unser Bewußtsein von der Welt wäre gewaltig gesteigert. Erführen wir noch einmal so etwas, also auch vom Ziele, das unsrer Gattung gesteckt sei, der Schwerpunkt unsrer Bestrebungen würde sich verändern; wir würden nicht mehr glauben, in Wissenschaft Kunst und socialen Einrichtungen etwas von ewiger Bedeutung zu verrichten. (Ich denke dabei, wie schon solche Illusionen einzelner Völker als solche erkannt sind; die Griechen meinten bei jedem olympischen Siege, die ganze Welt sehe auf so ein Ereigniß hin, die Götter mitgerechnet.) Die Grenzenlosigkeit der Aussicht würde fehlen, alles müßte praktischer werden. Die Unsterblichkeit der Gattung ist die stillschweigende Voraussetzung aller unsrer höheren Vorstellungen. (Ich wünsche untersucht, was die Menschheit den Einbildungen, dem unreinen Denken verdankt, ja ob ein höheres Leben möglich ist, nachdem nur erst die Skepsis hier zur Herrschaft kommt, z. B. ist Kunst noch möglich?)

Die Grundform des Kindes lebens ist Gegenwart; der ganze Zuwachs von Lust und Schmerz, den die bewahrende Vorstellung bringt, fehlt; das ist ein Glück! Hunger und Durst sind gewiß weit stärkere Gefühle als in den späteren Altern. Das ganze Leben des Kindes hat einen kürzeren Rhythmus; der unruhig arbeitenden Entwicklung entspricht Unruhe der Empfindung. In Betreff der Ernährung hat der Organismus nicht nur das Gleichgewicht des Stoffwechsels zu unterhalten, sondern einen Zuwachs zu vermitteln: das muß die Empfindung zu offenbaren Schmerzen anregen; wie auch die Zeichen andeuten. – Das Weinen geht dem Lachen voran; es überwiegt jedenfalls. – Man denke sich zu der bedürftigen und hülflosen Lage den Gegensatz einer bewußten Vorstellung, welche die Ohnmacht ihrer Bemühungen, den Zustand zu ändern, fühlt, da wird man ermessen, was für ein Glück es ist, daß die Natur nicht alle ihre Zustände mit dem Lichte der Erkenntniß beleuchtet. (Und doch erreicht die Erkenntniß im Philosophen einen Grad, daß der einzelne Mensch in seiner Hülflosigkeit gegen die allgemeine αναγκη sich gerade wie ein bewußtgewordenes Kind vorkömmt!)

Das Spielen ist die eigentliche Arbeit des Kindes und ihm ebenso Bedürfniß, wie dem reifen Alter schaffende Thätigkeit. (Man wird aus der Art, wie ein Kind spielt, seine spätere Thätigkeit völlig erschließen können.) Spiel ist die ernsteste Angelegenheit für ein Kind, nichts Unterhaltendes-Überflüssiges, wie Erwachsene es häufig beurtheilen. Man hat ja unser ganzes so ernstes Dasein für Spiel erklärt; wie hätte aus dem bloßen Nichts eine andre als nur eine willkürliche Anordnung der Lebensbedingungen hervorgehn können? So hätte das Dasein den Charakter einer frei gewählten Unterhaltung, die Hindernisse nur geschaffen, um sie zu überwinden. Dühring hält die Idee für fade: es war übrigens die des Plato, daß wir das Spielzeug der Götter seien. „Das Leben ist kein Spiel, denn es schließt echte Schmerzen ein"; als ob das nicht vom Spiel der Kinder auch gelte!

Jedes Lebensalter hat sein eignes Recht auf Rücksicht, man soll die früheren nicht nur als Mittel für die späteren behandeln. Der Zweck kann nicht nur immer außerhalb der Gegenwart liegen.

Das Kind ist viel mehr als ein bloßes Objekt der Erziehung. Die Pädagogen denken immer nur daran, was sie aus dem Kind zu machen haben: das Kind lebt in der Gegenwart, das ist der Contrast.

Lernen und Spielen streng zu scheiden. Die Schule muß nüchternen Ernst zeigen, der auf das Leben vorbereitet. Die Überwindung von Hindernissen und die Wahrnehmung unsrer Fähigkeit ist mit einer Freude verbunden, welche an Stärke die des Spieles übertrifft. In Bezug auf gewisse erkünstelte Verhältnisse haben die, welche die Schule als den Anfang der Lebensverkümmerung ansehn, Recht: ein Gefängnißdasein war es. Aber die Arbeit des Lernens kann eine Freude und Befriedigung werden, es sind zufällige abänderliche Zustände, welche das Gegentheil aus ihr machen.

Alberner Grundsatz, es handle sich nur um das Arbeiten-lernen und um Übung der Kräfte! Dühring hat Recht zu sagen, er sei eine Ironie auf das Wesen des Lebens. (Es versteckt sich gewöhnlich der Mißerfolg der Pädagogik z. B. am Gymnasium dahinter.) Diese Maxime abstrahirt vom Erfolg, verkümmert das natürliche Verhältniß von Mühe und Lohn und bringt es zu einer Pein, der keine Genugthuung entspricht. Übrigens ist es komisch, aus dem Leben erst noch ein Rennen mit Hindernissen machen zu wollen. Die Natur hat die Befriedigung nicht an die Anstrengung, sondern an den Erfolg der Anstrengung gebunden: dieses Gefühl würde schwinden und dem des Widerwillens an einer wesentlich nutzlosen Beschäftigung Platz machen.

Das Gemüth des Kindes findet an Haus und Familie seine Grenze: was ihm hier Gutes oder Schlimmes widerfährt, ist durch diese Beschränkung des ganzen Sehfeldes sehr gesteigert. Das größte Übel ist das Unrecht in Verletzung von Mensch und Mensch, das größte Glück das aus jeder Art von Zuneigung erwachsende. Wie wichtig, ob das Kind elterliche Liebe erfährt oder nicht! Die elterliche Liebe ist zunächst ein vom Verstande unabhängiger Trieb, wurzelt im Sinnlichen; deshalb kann sie durch entgegengesetzte Triebe gestört werden, sie bedarf eines verstandesmäßigen Supplementes. Gerechtigkeit gegen das Kind kann nicht durch Liebe ersetzt werden. Das Kind hat den schärfsten Instinkt für das Gerechte, denn dies Verlangen nach Recht wurzelt in dem natürlichen Trieb, ist mit Rachebedürfniß verwandt. Das kindliche Gemüth haßt, in solchem Falle, selbst die Eltern.

Die späteren Erfahrungen stumpfen eher gegen gewisse Arten des Unrechts ab. Nun ist das Hausregiment selten das Muster eines gerechten Verhaltens. Überdies ist es bei der Familie auf Unterordnung abgesehn, nicht auf rechtliche Gleichordnung.

Die Unterscheidung von Recht und Unrecht ist denen sehr leicht, welche der leidende Theil sind, aber macht denen, welche das Unrecht ausüben, Schwierigkeiten; der Begriff des Rechtes entspringt eben in dem Leidenden. Dadurch daß die Leidenden sich rächen, werden sie zu Lehrmeistern des Rechts für Alle. Die Widerstandskraft derer, welche Unrecht erleiden, wird vorausgesetzt: gleiches Recht nur bei gleicher Macht, also unter Gleichen. Überall, wo die Natur Ungleichheit geschaffen hat, steht es schlimm dafür, daß das subjektive Recht geltend gemacht werde. Auch in solchen Verhältnissen soll eine gewisse Gerechtigkeit geübt werden, aber diese hat nicht den gewöhnlichen Ursprung, sie ist unfreiwillig. Man entlehnt den Begriff des gerechten Verhaltens dorther, wo er am allgemeinsten ausgebildet ist, dies abstrakt entstandene Gerechtigkeitsgefühl ist aber schwächer und unbestimmter als die andre, aus dem Triebe entsprungene Art. Am schlimmsten steht es wohl in der Schule mit der Gerechtigkeit: da fehlt ja noch die Liebe, wie sie in der Familie regirt. Der Gedanke eines abstrakten Zweckes ist hier der einzige Schutz. Ein Lehrer, der Pedant der Gerechtigkeit ist, ist noch verhältnißmäßig ein Glück für den Zögling, im Vergleich zu einem Lehrer, der nach Stimmung und Laune verfährt. – Man vergißt das dem Schüler widerfahrene Unrecht am schwersten. Es ist sogar das Zeichen einer edlen Gesinnung, wenn die Erregung des unreifen Alters dauernde Spuren hinterläßt.

Bis zu den Regungen des Geschlechtslebens führen Knaben und Mädchen ein verhältnißmäßig ruhiges Dasein. Nun steigert sich das Lebensgefühl zur höchsten Höhe. Die Wettkämpfe um Ehre, die Leidenschaften des Gemeinlebens kommen bald hinzu. Natur und sociale Welt theilen sich jetzt in den Menschen, die erste ergreift ihn mit der Liebe, die letztere mit der Ehre; darum gravitirt das fernere Dasein.

Was ist Ehre? Zuerst hat man eine Menge Carikaturen zu beseitigen. – Ehre bedeutet einmal so viel wie Recht, sodann auszeichnende Anerkennung. Die Ehr-verletzungen, Beleidigungen sind Rechtsverletzungen, Eingriffe in die fremde Willenssphäre. Zu Gunsten des Zweikampfes sagt Dühring: „die groben Verletzungen, das gesteht man ein, sollen gerächt werden; aber die Verletzungen feinerer und geistigerer Gattung sollen für nichts geachtet werden? Liefe das nicht auf Abstumpfung des Rechtsgefühls hinaus?" –

Die Selbsthülfe ist die ursprüngliche Form alles Rechts; dieses ursprüngliche Fundament kann nie ganz fortfallen. Die öffentliche Gerechtigkeit ist nur organisirte Selbsthülfe zur Rächung des Unrechts. So soll man sich nicht wundern, wenn die Selbsthülfe, als der erzeugende Grund, seine Organisation, wo sie nicht genügt, ergänzt. Die Injurienstrafen genügen dem natürlichen Rechts-Bewußtsein keineswegs. Vielleicht verschwände ein Theil des Widerwillens gegen öffentliche Austragung von Ehrverletzungen, wenn an Stelle der Beamten-Justiz eine Art Geschworenen-Gericht trete. Doch bleiben immer Fälle übrig, wo nur private Abhülfe möglich ist (d. h. bei tödtlichen Kränkungen, die gerade zur öffentlichen Behandlung sich nicht eignen). Die germanische Art unsres Ehrbegriffs war den Alten fern. Aber man soll nicht vergessen, daß die natürliche Vorstellung von der Nothwendigkeit, das Unrecht zu rächen, noch nicht bei ihnen durch ein entgegengesetztes Princip gelähmt wurde. Das Gemeinleben sodann trat in den Vordergrund, und so blieben die privaten Verhältnisse vor einer verkünstelten Zuspitzung des Rechtsbegriffs bewahrt.

Der Mensch bleibt, sobald er das Leben wagen will, der Herr seines Rechtes und seiner Ehre.

Die Ehre, die der Verletzung offensteht, ist ein negativer Begriff. – Völlig davon unterschieden die Anerkennung besonderer Vorzüge und Verdienste – etwas Positives! Sie geht mit ihrem Zauber durch alle Lebensalter hindurch. Die Vorstellung von der Meinung, welche die Andern von uns hegen, übt die größte Macht auf unsre Haltung aus. Diese Ehre ist nichts als der Beifall, den unser Thun und Sein bei Andern findet. Alles trachtet darnach: in höherem Grade bedarf das Ungemeine einer objektiven Anerkennung: selbst in der Form des Nachruhms. (Mir scheint dies das Wichtigste: unsre Werke und Thaten sind die höchsten Äußerungen unsres Selbst und repräsentiren zusammen unser Ideal: diesem wollen wir ein Leben für sich zugestehen, das nicht nur eine Menschen-leben-dauer habe. Wir selber behandeln unsre Werke als eine außer uns stehende Kraft und Größe, von wo aus wir Trost und Muth schöpfen können.) Es ist das Bedürfniß der sympathischen Affektion, nicht der Mangel an eignem Urtheil, eigner Überzeugung; wir fühlen uns gehoben, wenn wir Zustimmung erlangen (vor allem wir fühlen uns fruchtbarer! alle Liebe und Affektion weist auf Fruchtbarkeit hin.)

Unehre (ατιμια) ist Mißbilligung und Verachtung gegen unser Sein und Thun, nicht etwa Ehrverletzung (υβοις). Ein verwerfendes Urtheil. Anerkennung und Verachtung die größten moralischen Mächte im Gemeinleben. Man entwurzelt das menschliche Wesen, wenn man ihm den Begriff der Ehre verdächtig macht. Der wichtigste Einwand ist, daß eine besondere Auszeichnung doch nur auf Kosten Andrer erreicht werden könne: die Ehre ein Motiv, das Menschen zu Feinden macht; sie suchen den eignen Genuß im Schaden Andrer. So soll sie mit einer edlen bescheidnen Gesinnung unverträglich sein. – Aber das ist Sophistik, die bloße Nichtexistenz besonderer Ehre für die Menge zur Beeinträchtigung, zum Unrecht zu stempeln. Unrecht mag sich häufig in den Wettkampf um Ehre eindrängen, aber im Streben selbst, die eigne Tüchtigkeit an der fremden zu messen, liegt es nicht. Das peinliche Gefühl beim Fehlschlagen der Bewerbung muß sich nicht mit Haß gegen den Mitbewerber verbinden, eine solche Feindschaft würde nicht in der Ehre, sondern im Neide wurzeln. War das Mißlingen gerecht, so soll sich nur das Bewußtsein eines früheren Irrthums und eines vergeblichen Versuchs einstellen: daran muß aber jeder Mensch gewöhnt sein. Ist ungerechter Weise das Verdienst nicht anerkannt, so tritt das Gefühl der widerfahrenen Verletzung hinzu. Wer aber Unrecht und Kränkungen nicht zu überwinden versteht, der mag nicht nur auf den Tummelplatz der Ehre, sondern auf das Leben selbst verzichten. Er mag Einsiedler werden und so seine sympathischen Affektionen auf das geringste Maaß einschränken. (Ein schönes Urtheil über das Leben, das Dühring hier so nebenbei fallen läßt!)

Dühring hält, nächst der Liebe, die Ehre für die Ursache, welche das Leben lebenswerth macht.

– Hüten wir uns mit unserer Phantasie die Natur zu übertreffen und den Tod zur versteinernden Gorgo des Lebens machen zu wollen. Leute, die von der Büßung der Lebenslust durch den Todesschmerz reden, treffen nicht die einfache Naivetät der Natur. (Da hat er recht, denn die Natur ist viel zu dumm und blind und grausam dazu, um einen solchen Gedanken fassen zu können.)

Wir haben die außerordentlichen Störungen im Lebenslauf z. B. ungewöhnliche Krankheiten, nicht erwogen. Diese Übel laufen aber auf schnell vorübergehenden Schmerz hinaus und haben eine untergeordnete Bedeutung. (Höchst absurder Dühring!) "Ja man möchte sich versucht fühlen anzunehmen, daß selbst schmerzliche Überwindung von Hindernissen den Reiz des Zieles und die Befriedigung des Gelingens erhöht." (Hier ist er selber nur einen Schritt weit von der „faden" Auffassung, daß das Leben ein Spiel sei und daß die Schmerzen den Sinn von künstlerischen Dissonanzen haben. Und dazu kommt er gerade Angesichts der Krankheiten! Weiß er nicht von dem lähmenden und niederzwingenden Einfluß derselben, wo jemand auf sein höchstes Lebensziel ihrethalben verzichten muß oder zu verzichten fürchten muß? Gar von der Benutzung des Krankseins zur meditativen Reinigung, zum Milde- und Gutwerden weiß er nichts!)

V. Die Liebe.

Keine Art der Liebe ist ohne sinnliche Grundlage; stets etwas Unwillkürliches. Nicht durch bloße Absicht und guten Willen hervorzubringen. Das Gebot der allgemeinen Menschen-Liebe ist nur eine Metapher der Liebe, man ruft die Erinnerung an eine bekannte Empfindung zu Hülfe, um anzugeben, welches Ziel sich der Verstand im allgemeinen Verkehr des Menschen zu setzen habe. Es ist nicht einmal eine Analogie der Liebe. Die allgemeine Menschenliebe ist eine verstandesmäßige, auf dem Boden des Gefühls erwachsene Bestimmung (Erinnerung an vorübergegangene einzelne Erregungen, dazu ein abstraktes Streben auf Allgemeineres). Gegensatz der uranischen und pandemischen Aphrodite für alle Zeiten und Völker richtig. Der Mensch kann von dem vollen Wesen seiner Natur abstrahiren, sich der augenblicklichen Lust hingeben. Viel widerwärtiger ist das berechnende Verfahren. Die Unwillkürlichkeit der Natur kennt die Trennung des Grobsinnlichen vom Edleren nicht. Was ist sinnlich, was ist geistig! Wer nur an das Gröbste der Sinnlichkeit denkt, der mag so wie Plato unterscheiden.

Eine weitverbreitete Meinung denkt sich das Sinnliche und das Geistige in der Liebe als Gegensatz: so daß, wo die Befriedigung des sinnlichen Bedürfnisses gehemmt, verneint wird, erst die edleren Arten hervortreten; ohne eine unbefriedigte Sehnsucht würde es nie zur erhabnen Lyrik des Liebesschmerzes kommen; die schöpferische Kraft kann den einen Effekt nur auf Kosten des anderen erlangen. Wo das Verlangen in seiner ursprünglichen Richtung erfüllt wird, wird es sich nicht an bloßen Ideen genügen lassen. So sei die abnorme Störung die Schöpferin vom Hochgefühl der Liebe.

Aber die Art, wie die Liebe in den Menschen einzieht, entzaubert sogleich eine Welt von zarteren Ideen und Regungen, lange bevor von abnormer Hemmung die Rede sein kann. (Diese Entgegnung erlaubt wieder eine Entgegnung.)

Warum ist in jeglicher Empfindung, die einem Triebe und Bedürfniß entspricht, etwas Schmerzartiges? Peinigend wird das Gefühl erst bei abnormen Hemmungen. Das ist die Verstärkung des ersten Keims. Eine geringe Reizung wird nicht als Schmerz, sondern als Perception, die ihre eigne Steigerung sucht, empfunden. Man denke an den Geschmack, an die verschiedenen Grade der Säure. Wir reden da von Lust: und doch würde nur eine quantitative Steigerung schon den Schmerz hervorbringen.

Schopenhauer hält die Lust für das Negative, den Schmerz für das Positive in der Empfindung: eine geistreiche Theorie auf Grund der alleroberflächlichsten Gesichtspunkte. In jedem Bedürfniß ein Mangel, also werden alle Empfindungen, welche sich an das Bedürfniß knüpfen, zu etwas Negativem gestempelt. Aber die allgemeine Bewegung geht vom Schmerz zur Lust, das ist die positive Richtung. Freilich schwindet auch die Lust in der Richtung auf den Indifferenz-punkt; aber es wäre verkehrt, die Befriedigung nach Bedürfniß, anstatt das Bedürfniß nach Befriedigung, streben zu lassen. (Zwar sagt Faust „und im Genuß verschmachte nach Begierde".) Vielmehr verschwindet das Bedürfniß in der Lust. Das Negative muß in der Entstehung des Bedürfnisses gesucht werden. (Dagegen sage ich: jede Lust ist eine Reizung welche bei einer Steigerung des Reizes in Schmerz übergeht; jeder Schmerz ist nur quantitativ von einer Lust verschieden und es giebt einen Grad des Übergangs von Lust in Schmerz. Nicht immer wird diese einzelne Lust noch als solche empfunden; denn wir leben in einem Zustande zahlloser einzelner lustvoller Reizungen, das Wohlgefühl des ganzen Menschen ist der Ausdruck davon. Ein Minimalgrad von Reizung und Schmerz wird als Lust percipirt: so liegt auch in jeder Lust das Bedürfniß, der Mangel, das Verlangen nach Reizung; Schmerz ist nur das Übermaß von Befriedigung dieses Mangels und Bedürfnisses. So sind beide, Lust und Schmerz, positiv, nämlich einen Mangel aufhebend, der Schmerz aber zugleich ein neues Bedürfniß schaffend, nach Verminderung des Reizes verlangend. Die Lust verlangt nach Vermehrung des Reizes, der Schmerz nach Verminderung: darin sind sie beide negativ. Das Bedürfniß ist ihre gemeinsame Quelle.) Es wäre ein rechtschaffner Unsinn zu sagen, die Lust ist nichts andres als ein nachlassender Schmerz; so daß man sich Glück zu wünschen hätte, wenn sich das Leben schmerzenreich gestaltete; die Fülle des Schmerzes eröffnet ja eine verlockende Aussicht auf eine gleiche Fülle der Lust.

Dühring unterscheidet zwischen den Gefühlen der Liebe, welche völlig normal entstehen, beim ersten Erblühen jenes Affekts und denen, welche gehemmt und reichlich mit Pein versetzt sind: auf letztere schmäht er; nur von einer naturwidrigen Ansicht würden sie als der Gipfel geistiger Verklärung gefeiert. Zwar scheint die lyrische Erhabenheit durch sehnsüchtige Trauer zu gewinnen. Die Liebe bewahre nur da ihre ächte Natur, wo sie der dramatischen Darstellung fähig ist. Was soll aber thatenloses Sehnen im Zusammenhang des handelnden Lebens? Die Dichter beweisen nichts: es ist leichter und oft auch reizender, der Unnatur als der Natur einen effektmachenden Ausdruck zu geben; die dichterische Empfindung giebt sich vielen Thorheiten hin. Es ist eine schwächliche Rückwirkung, wenn sich das Streben, anstatt die realen Hindernisse zu bekämpfen, einem Gefühls- und Ideen-luxus ergiebt. Denn das Behagen am Schmerze könne man nur so erklären, daß die Empfindung, in Ermangelung einer auf das Ziel gerichteten Energie, in Reproduktionen und übermäßigen Steigerungen einen subjektiven Abschluß und Ruhe vor sich selbst sucht. Wo ein unabänderliches Schicksal entgegentritt, da wendet sich die Empfindung oft gegen ihren Träger, und zerstört dessen Gemüth. Weicht bloße Trägheit vor den Hindernissen zurück, da ist das Spiel der Affekte nicht sonderlich ernst und erschlafft das Subjekt.

Die sinnliche Freundschaft in untadelhafter Gestalt, deren Verzerrung jetzt fast nur bekannt ist. Sie zeigt den Wahnwitz der höchsten Verliebtheit und edle bis zum Tod gehende Aufopferung bei den Griechen z. B. bei Plato. Die Liebe nicht nur als Aphrodite, sondern auch als Eros objektivirt: Eros ist keineswegs das Ideal der Liebe des Weibes zum Manne, sondern das Ideal jener zweiten Gestalt. Es scheint die nahe Verwandtschaft des Weiblichen mit der zarten Blüthe des andern Geschlechts: und überall wo durch Alter- oder Charakterverschiedenheit ein Gegensatz besteht wie zwischen Mann und Weib, möchte er in der Empfindung auch wohl einen Ausdruck erhalten. Dühring erinnert an die Freundschaften der allerersten Jugend mit sinnlicherem Charakter; der Alters-Unterschied gering, die Naturen stark verschieden. Die Beziehungen im vorgerückten Alter sollen nach Dühring entweder Entartungen eines Naturtriebes oder das von der frühesten Jugend an gebliebene Band der Zuneigung sein.

Die Erotische Liebe beweist die Überschwänglichkeit des Gefühls unabhängig vom Naturzweck. Nach Schopenhauer soll die Leidenschaft der Liebe nur der Ausdruck des Strebens der Natur sein, in einem zweiten Individuum fortzuleben. (Dühring nennt dies "Streben nach Benutzung einer günstigen Conjunktur".) Aber auch Eros spornte zu jeglicher That, scheute den Tod nicht – kann man da von einem Irrthum der Natur reden? Sie habe die Leistungen ihrer Leidenschaft nur aus Versehen vollbracht?

Auch die elterliche Liebe eine wesentlich sinnliche Macht. Mutterliebe als Instinkt, als unwillkürlicher Affekt. Die Liebe des Kindes zu den Eltern ist nur eine reaktive Empfindung; keine instinktive Zuneigung. Es ist Dankbarkeit als Antwort auf Gesinnung. Diese Liebe ist sinnlich, zwar nicht ursprünglich, aber der elterlichen Zuneigung gleichartig.

Schopenhauers Ansicht von der Liebe. Wer das Leben verachtet, muß auch die Liebe verachten. Die Wirklichkeit soll nicht leisten, was die Empfindung verspricht, die Liebe soll ein täuschender Wahn sein. Die Empfindung und das Gefühl als solches nie eine Täuschung. Der Mensch kann nur das Gewebe der Ideen der Trüglichkeit bezichtigen, welche mit der Empfindung verknüpft werden. Die Vorstellung ist stets geschäftig, die Zukunft der Empfindung vorwegzunehmen. Hierin ist Täuschung möglich, ja unvermeidlich. Der Verstand läßt die Dimension der Empfindung nach der bisherigen Erfahrung unbegrenzt auch für die Zukunft anwachsen, so lange die Empfindung noch im Anwachsen ist; der Glaube an die Vergänglichkeit der Empfindung ist ihm unmöglich. Die erste Liebe glaubt an die ewige Bedeutung ihrer selbst. Die Dichter haben sie so verherrlicht und den gemeinen Verstand, der die äußere Erfahrung allein kennt, nicht in Rücksicht gezogen. – Die Täuschung liegt also nicht in den Gesetzen der Empfindung, sondern in den Gesetzen des Verstandes. Wollen wir bedauern, daß es ursprünglich unvermeidliche Irrthümer giebt? (Ich denke!) Die Gewalt des Gefühls, welche eine Traumwelt hervorzaubert, ist eine höhere und edlere Kraft als die, welche leidend und empfangend eben nur erkennt. Schaffen steht höher als Erkennen. Schafft jener Zauber auch nur eine Welt der Dichtung, so ist er doch ein Abbild der im Grunde der Dinge wirksamen Potenz. Die Empfindung entspricht jenen überschwänglichen Ideen, weil diese erst von der Empfindung geschaffen sind: hier giebt es keinen Trug. (Schopenhauer's Anklage gegen die Liebe wäre also eine Anklage ihres kunstmäßigen Charakters; es wäre eine Polemik wie die des Plato gegen die Kunst.)

Wo wäre denn die Enttäuschung, wenn das Gefühl in einen ruhigeren Rhythmus übergeht und die Ehe daraus entsteht: die dauernde innige Zuneigung kann wegen der Gewohnheit dem Gefühl nicht gegenwärtig bleiben, aber der hohe Grad der gleichsam latenten Liebe tritt hervor, sobald störende Mächte drohen. Was das Band der Familie z. B. bedeutet, zeigt sich auch nur, wenn ein Riß entsteht. Die Liebe des Gatten möchte vielleicht nicht hinter der leidenschaftlichen Liebe zurückstehen.

Es ist nicht ganz gewöhnlich, die Ehe als ein Naturgebilde und als ein Geschöpf der Liebe zu betrachten. Sie soll eine gesellschaftliche Einrichtung mit allerlei Zwecken (Kinder-Erzeugung und -Erziehung) sein: das sind aber keine bewußten Zwecke, sondern wirkende Ursachen, die zu Bildungen treiben, welche der Verstand nicht sogleich begreift. An der socialen Welt hat der Instinkt mehr gearbeitet als man glaubt; nicht die bewußten Absichten.

In den ältesten Zeiten der Völker ist die Ehe ein Rechts-Institut, verwandt mit dem Eigenthum; das Weib ist in der Herrschaft des Mannes, ohne Willen, als Sache. Es wechselt mit der Heirat den Besitzer, früher war es der Vater oder Großvater. Die Ehefrau gilt im römischen Rechte rücksichtlich der Beerbung der Tochter gleich. Bei andern Völkern zeigt sich in der Vollziehung der Ehe die Nachahmung eines Kaufgeschäftes. Ursprünglich also wurde die Ehe nicht von zwei Personen eingegangen, die Ehe kommt über das Weib wie ein Verhängniß, das Weib hat keinen Antheil an der Gestaltung der Ehe.

Die Ehe geht der vollständigen Familie voran, sie muß auf dem Instinkt beruhen: welches ist nun der Instinkt, der zureichend wäre, die Promiskuität zu hindern?

Die niedere sinnliche Lust wird vom Gesetz des Wechsels beherrscht. Es scheint also daß es die Natur auf nichts weniger als auf Ehe abgesehn habe. Man sucht sie auch wirklich als Bildung der Noth zu erklären, als Bestreben, die Verletzungen und Störungen auszuschließen, welche sich an die Concurrenz in der Promiscuität knüpfen. Wie kam es aber, daß dann das Weib nicht einfach zur Sklavin des Mannes wurde? So daß sie hätte verkauft werden können: während die Ehefrau, bei Verstoßung, wieder in die alte väterliche Gewalt zurückkam. Man könnte versucht sein, die edlere Gestalt der Liebe zum Fundament der Bildung der Ehe zu machen: aber die Polygamie spricht dagegen. Die Ehe ist also wohl die Verwirklichung der Liebe, aber sowohl der Liebe zum Weibe als der Liebe zu den Kindern. (Diese Partie ist schwach.)

Was wollen die, welche den Besitz eines Weibes als das Grab ihrer Hoffnungen betrachten? Sie schmähen auf die Natur, weil sie sich in die Unnatur verliebt haben. "Mit dem Gürtel, mit dem Schleier reißt der schöne Wahn entzwei": die Schuld dieser Idee liegt in der verkünstelten Empfindung; sie stammt aus der düstern Auffassung des Lebens. Schopenhauer und auch die Dichter denken mit Abscheu an die Empfindungen, welche den sinnlichen Genuß begleiten. Man glaubt sich über die Natur zu erheben, indem man sie entadelt. – Die Niedergeschlagenheit soll die unvermeidliche Folge und zugleich das Urtheil über die vorangegangene sündige Lust sein. Hier wird bei Dühring der „natürliche Humor" rege. Das sei nur die Folge der Ausschweifung oder zeige sich in dem niederen animalen Leben (bei Bienen z. B.). Das Kloster heckt seine Theorien im Sinne der Unnatur aus. Ebenso geht es mit der coelibatären Metaphysik, die uns glauben macht, daß schwächliche Überreiztheit und deren Schicksal das Gesetz der gesunden Natur sei.

Eine andre Deutung ist die Übertragung der Darwinschen natürlichen Züchtung auf dies Gebiet. Wenn der Mensch mit Überlegung die Verbesserung des Typus erstrebte, würde er so verfahren müssen wie die Natur; noch besser wäre gesorgt, wenn hier ein Instinkt waltete. Schopenhauer sieht ihn in der individuellen Liebe. Die höchsten Steigerungen der Liebe, mit Verachtung von Schicksal und Tod, sind dem Denker Mittel, eine besonders günstige Conjunktur für die Erzeugung zu erlangen. Die Natur ist gleichgültig gegen das Schicksal der Einzelnen; sie treibt sie in Noth und Tod, um in neuen Gestaltungen Dasein zu gewinnen. Das Schönere und Edlere erweckt die Liebe nun in höherem Grade: wo die Liebe nicht gegenseitig ist, da würden sich zwei entgegengesetzte Urtheile der Natur ergeben; vom einen Standpunkt erscheint die Gelegenheit zur Verbesserung der Gattung sehr günstig, vom andern nicht. Es bedürfte also eines zweiseitigen Urtheils, um den Willen der Natur kund zu thun. (In Wahrheit! so ist es!) Das Schicksal der Liebe ist kein Spiel um Zwecke, die außerhalb der individuellen Befriedigung gelegen sind. Die Natur sollte so thöricht sein, das Individuelle nicht zu achten und zu opfern, um hinterher auch nur Individuelles zu erreichen? (Aber um Fortdauer im Individuellen zu erreichen.) Will man eine Deutung, so ist die Überschwänglichkeit der Empfindung das Vorgefühl des allgemeinen unbegrenzten Lebens, welches sich an die Erfüllung jener Sehnsucht zu knüpfen verspricht. (Alles ist schwach; und die tiefe Einsicht Schopenhauer's in's Wesen des Wahns bei allem Instinktiven hat er ganz bei Seite gelassen.)

VI. Der Tod.

Ist der Tod nichts andres als bloße Abwesenheit des Lebens, so würden wir uns um ihn gar nicht zu kümmern haben; wie wir ja zu dem Nichtsein vor der Geburt stehen. Die Empfindungen des Lebens verbreiten einen Trug über das, was nicht mehr Leben ist. An jedem Traume kann man lernen, wie sich das natürliche Verhältniß zwischen Vorstellung und Empfindung umkehren kann; ein schädlicher Druck auf das Herz und die Träume werden beängstigend. Alle Affekte erdichten Vorstellungen, wo sie dieselben in der Wirklichkeit nicht antreffen. Das jenseits wird mit Bildern dekorirt, die theils die Schöpfungen der unmittelbaren Furcht, theils der reaktiven Affekte sind, welche nach einem besseren Dasein und nach Gerechtigkeit verlangen. Da das Subjekt vernichtet wird, so haben wir vom Tode nichts zu hoffen, nichts zu fürchten. Aber was kommt auch auf dieses Selbst an! Wir wissen sicher, daß gelebt und gelitten werden wird; wer ist es denn eigentlich, der von jenem Leben und Leiden betroffen wird? Ist es ein absolutes Nichts, dem die Überraschung bevorsteht, Träger des Daseins zu werden? Dann dürfen wir für dies Nichts eine Theilnahme haben, wir sind ja jenes Nichts, an welches die Anwartschaft auf zukünftiges Leben verbunden ist. Was uns bereits begegnet ist zu leben wird uns wieder begegnen (dies „uns" im Sinne eines ganz unbestimmten Subjekts). Träume der Metaphysik helfen uns hier nicht weiter, wohl aber alle Instinkte, welche sich auf die folgenden Geschlechter beziehn.

Sodann beruht unser Interesse an der Zukunft auf den Gesetz, daß die Vorstellungen unwillkürlich zu praktischen Affektionen führen. Man will z. B. seinen Cadaver nicht den anatomischen Prozeduren ausgesetzt wissen. Man denke an die umständliche Anordnung der Begräbnisse bei Lebzeiten. Gar nun Sorge für die Familie, für den Nachruhm, um die wahrscheinlichen nächsten Schicksale seines Geschlechts. Was uns von allem Nach-dem-Tode angeht, ist das Schicksal derer, die unser Dasein fortsetzen, nicht aber der leere Raum an der Grenze des individuellen Bewußtseins.

Jetzt ist der Tod als subjektive Erfahrung zu betrachten: hier beginnen die Anklagen. Die Sterblichkeit soll eine Strafe der Ursünde sein; alles was entsteht ist werth, daß es zu Grunde geht; die Lust des Lebens soll mit dem letzten großen Schmerze bezahlt werden. – Aber der völlig naturgemäße Tod ist gar kein Schmerz, das ruhige sanfte Hinscheiden; hier schiene also die Natur auf Todesqual zur Abbüßung der Lebenslust zu verzichten? Wenn man zwischen einem stillen Leben mit Euthanasie am Schluß – und einem stürmischen mit Todeskampf am Schluß zu wählen hätte, der Instinkt ergriffe das zweite. Nehme man an, es wisse jemand nicht um den nahen Tod, so wird er die Schmerzen des Todeskampfes für dasselbe halten, was einer beängstigenden Ohnmacht bevor geht. Die Aussicht auf diese Qual ist es nicht, die das Dasein vergiftet, bedenklich sind nur die "Riesenschatten unsrer eignen Schrecken". Der Tod wird erst furchtbar durch den Hintergrund, den man ihm giebt. Wie die Liebe eine beseligende Traumwelt, so erzeugt die Furcht eine höllische Traumwelt. Der irregeleitete Verstand erzeugt die Schrecken. Man soll den Tod nicht überwinden, aber wohl bestehen lernen.

Die Träume üben eine Macht aus wie das Wirkliche, ihre Schatten liegen über dem Tage; sie überbieten oft noch die Empfindung des Wirklichen. Man mag die Pein der Empfindung zur Verdächtigung des Lebens heranziehn, aber man hat kein Recht, die falschen theoretischen Urtheile in Anschlag zu bringen.

Die Bedeutung des Todes ist nach dem zu beurtheilen, was er vernichtet. Der schwerste Tod ist der des gereiften Alters; mit Schmerz um die unvollendete Aufgabe, mit Sorge um die Hinterbliebenen. Es ist die Unzeitigkeit, was hier den Tod so herbe macht. Das Sterben ist ein Akt des Lebens. Nur der wird mit Würde sterben, der im Leben eine edle und feste Haltung bewahrte.

Will man das Leben des vorzeitigen Todes wegen anklagen, zu dem es fast immer führt, so muß man sich nicht gegen die Thatsache des Todes, sondern die Herrschaft des Zufalls wenden. Der gemeine Begriff des Zufalls hat volle Wahrheit.

Nun beruht gerade der höchste Reiz in der Erprobung der Chancen des Daseins. Der Mensch liebt es unter gewissen Umständen geradezu um Leben und Tod zu spielen; die Erfolge, die mit dem höchsten Wagniß errungen sind, gelten ihm als die höchste Genugthuung. Der Zufall ist kein unglückliches Gesetz der Welt. Das Dasein ist nicht die Abspielung eines Schauspiels, bei dem wir nur das Zusehn hätten.

Man sollte den Tod lieber als eine gewisse Versöhnung aller sonst nicht bezwingbaren Übel des individuellen Daseins betrachten. Der Gedanke der Vergänglichkeit alles Empfindens und Fühlens ist die letzte Zuflucht. Der Tod ist der endliche deus ex machina in allen Fällen. Was der Tod für die überlebenden ist: das schlimmere übel: hier könnte man eher die Ordnung der Dinge anklagen. Das Individuum ist im strengen Sinne unersetzlich. Der Einzelne muß den Blick auf das allgemein Menschliche richten. Der Einzelne hat bei solchen Verlusten stets ein Recht zur Klage, aber das Geschlecht kann die Schmerzen am einzelnen Gliede nicht bedauern, weil eben dadurch die Theilnahme für den höheren und allgemeineren Charakter des Lebens wach erhalten wird. Das individuelle Wollen wird durch den Zufall beeinträchtigt, die allgemeine Empfindung von der Bedeutung des Lebens gesteigert. Man hätte eher die Anklage gegen eine Welt in der nichts wahrhaft verloren, dann aber auch nichts wahrhaft gewonnen werden könnte. Bedeutung der unersetzlichen Verluste.

Der freiwillige Tod scheint einen allgemeinen Vorwurf gegen die Ordnung der Dinge zu enthalten, in der er vorkommt; überdies ist er mit großem Schmerz verbunden. Wer lieber den Tod erleiden will als die Pein der verlornen Liebe oder Ehre, gesteht einem einzelnen Elemente des Lebens eine solche Bedeutung zu, um den Verlust desselben geradezu als den Verlust des Lebens zu betrachten. Der Verlust ist im Wesentlichen schon da. Der freiwillige Tod braucht keine Verurtheilung des Lebens in sich zu schließen. Die Liebe zum Leben ist es selbst, welche den Verlust des Daseins dem Gefühl des Mangels eines wesentlichen Mangels vorzieht.

Schopenhauer hat mit dem Selbstmord zwei sich widersprechende Gedanken verbunden. Einmal ist er eine Selbsthülfe der Natur, mit dem Erwachen zu vergleichen, mit welchem die zu hoch gesteigerte Angst des Traumes endet. Dann aber soll der zum Sterben Entschlossne nach einer wiederholten Erprobung der Chancen des Lebens trachten, aber das Leben unter den bestimmten Umständen verabscheuen. – Ist aber das Leben ein Traum, so ist es stets und überall der Gegensatz des ersehnten wachen Zustandes, es ist ein Widerspruch, den freiwillig Sterbenden aus dem ganzen Traume zu einer höheren Wirklichkeit (dem Wachen) scheiden und zugleich doch auch der alten Gattung des Träumens wieder verfallen zu lassen. Nach Schopenhauer erreicht der, welcher das Dasein wegwirft, gar nicht den höheren Zweck, die Frucht des Daseins; er wird wiedergeboren, um die Befreiung von der Lust des Lebens in einem neuen Dasein und dessen Schmerzen zu lernen. So ist der Selbstmord ein Verstoß gegen die ewige Heilsordnung. „Wer kennt nicht jene triviale Idee, daß das Leben die Vorbereitung für ein Jenseits ist? Wer hätte nicht von Prüfung, Zucht und dergleichen gehört?" sagt Dühring.

Es ist ein großer Mißgriff, den Selbstmord nach Maaßgabe einer allgemeinen Vorstellung, ohne Rücksicht auf den besonderen Inhalt, zu beurtheilen. Der freiwillige Tod kann eine große Handlung sein oder der Ausdruck einer ganz gemeinen Misere oder einer widerwärtigen Verzerrung der Natur sein. Er kann als sittlich indifferent erscheinen, aber auch wieder als arge Pflichtvergessenheit und empörendes Unrecht gegen die Überlebenden.

Der Tod ist eine Vernichtung, (dessen) deren Wesen man aus dem zu erkennen hat, was vernichtet wird. Das Leben ist das Maaß des Todes. Noch wichtiger die Umkehrung: der Tod ist das Maaß des Lebens. Welch einen Gehalt das Streben und Ringen der Menschen in sich einzuschließen vermöge, offenbart sich erst, wenn der Tod naht. Die höchste Energie des Lebens entfaltet sich, wo das Spiel von Gelingen und Mißlingen sich in eine Erprobung von Leben und Tod wandelt. Daher ist die tragische Gestaltung des Lebens die gehaltvollste, sie erhebt sich zu jenen Höhen, wo Leben und Tod an einander grenzen. Der Ernst der großen Leidenschaften bewährt sich an dem Tod. Der dunkle Horizont ist nöthig, damit die Flamme des Lebens in ihrer ganzen Gluth aufleuchte.

Wenn die Tragödie uns von aller Kunst am gewaltigsten erschüttert, so ist auch wahr, daß das Leben selbst seinen höchsten Ausdruck in der tragischen Gestaltung erhält. – Der Reiz liegt übrigens mehr in der Möglichkeit der tragischen Gestaltung als in der Wirklichkeit, in der kühnen Bewegung bis zu jenen Grenzen hin. Der Tod darf im Ganzen des Lebens nicht fehlen, sonst würde ein schaales langweiliges Treiben daraus. Der Tod ist nicht der Feind des Lebens überhaupt, sondern das Mittel, durch welches die Bedeutung des Lebens offenbar gemacht wird.

VII. Das Gemeinleben.

Man weist, wenn die Vorwürfe gegen das individuelle Leben beseitigt sind, auf das gesellschaftliche Elend hin, stellt noch eine furchtbarere Zukunft in Aussicht. Die wachsende Cultur soll die Noth des Lebens nur vermehren; sie soll eine Menge nicht gekannter Übel mitbringen und nicht einmal die gemeine Notdurft des Geschlechts befriedigen; schließlich überall Übervölkerung und peinvolles Dasein. Die vorgeschlagenen Gegenmittel geben den Anklägern des Lebens Anlaß zu neuen Verwünschungen. So scheinen die socialen Übel etwas, was nur durch größere Übel bekämpft und in seinem Wesen gar nicht überwunden werden kann.

Man müßte auf jede Rechtfertigung des Daseins verzichten, wenn zwischen den Forderungen des subjektiven Lebens und den objektiven Möglichkeiten, sie zu befriedigen, Disharmonie bestünde. Wäre es z. B. möglich, daß die Aussicht auf Übervölkerung sicher wäre, so wäre eine solche Disharmonie da. Keine Erfahrung kann uns eine solche Antinomie beweisbar machen. Wir denken uns mit Recht, daß die Fähigkeit zur Vermehrung von Individuen subjektiv zwar an gewisse Grenzen der Geschwindigkeit gebunden, übrigens nur durch objektive Hindernisse beschränkt sei. Nun stelle man sich ein Gesetz vor, nach dem die subjektive Kraft selbst gegen eine bestimmte Grenze hin abnähme, d. h. im allmählichen Gange des Geschlechts geradezu im allmählichen Verschwinden begriffen sei. Die Fortpflanzung müßte sich zuletzt auf den bloßen Wiederersatz beschränken. Es giebt viele Analogien für einen solchen Gedanken. In den kosmischen wie individuellen Bildungen wiederholt sich das Gesetz der Abnahme der schaffenden Kräfte und des Überganges in fast gleichmäßiges Beharren des Wechsels.

Es giebt nur drei Möglichkeiten: entweder bleibt das Vermögen der zusätzlichen Vermehrung; dann muß sich die Oberfläche des Planeten vergrößern (sonst fehlt einmal der Boden, auf dem die Menschen auch nur stehen können). Oder es entsprechen der zusätzlichen Vermehrung vernichtende objektive Mächte. Oder Abnahme der schöpferischen Kraft. Vom ersten Fall abgesehen, ist eine Hemmung der Vermehrung unumgänglich nöthig. Gegen die Annahme daß die subjektive Kraft abnähme, spricht die Erfahrung: diese beweist bisher weder Zu- noch Abnahme, sondern Gleichmäßigkeit. Die Vermehrung ist Äußerung derselben Kraft combinirt mit der Größe der zeitlichen Perioden, von welcher die Geschwindigkeit der Zunahme zuletzt abhängt. Wie könnte man an eine Änderung der Periodicität denken? So muß man die bisherige Constanz auch für die Zukunft anticipiren. So bleibt die dritte Möglichkeit, durch die Erfahrung überdies schon bewiesen „dem unbegrenzten Triebe objektive Schranken". Das ist es, was Malthus vorschwebte, dem Pessimisten der Socialphilosophie. Er weiß aber nur von den Übeln der Volksvermehrung zu reden und vergißt, daß es für den Menschen kein höheres Gut giebt als wiederum den Menschen. In der übervölkerten Welt werde der Mensch durch mannigfache Entbehrungen verkümmern und zu Grunde gehn. Da soll denn nun das Geschlechtsleben zu einem Privilegium werden, welches nach Maaßgabe des Besitzes ertheilt wird:

Man soll unterscheiden 1) das Malthusische Gesetz 2) seine Gesinnung 3) sein Gespenst. Das Gesetz lautet, daß die Vermehrung der Volkszahl viel schneller als die Vermehrung der Unterhaltsmittel erfolge (er vermehrt die Volkszahl multiplicirend, die Unterhaltsmittel addirend mit einem constanten Summanden). In Betreff der arithmetischen Vermehrung der Unterhaltsmittel behauptet er zuviel, er stellt eine objektive Vermehrung der Mittel ohne Grenzen in Aussicht; aber da müßte ja die Materie sich selbst vermehren, damit dies möglich sei: es muß einen Punkt geben, wo der Zusatz von Menschenkraft gänzlich erfolglos bleibt und dem Boden nicht das geringste Mehr abzugewinnen ist. – Man kann zugeben, daß die Tendenz, Subjekte des Bedürfnisses zu schaffen, dem jeweiligen Stande der Bedürfnißmittel vorauseile; immer muß das Bedürfniß der Befriedigung vorausgehn. Malthus muthet nun deshalb einem großen Theil der Gesellschaft die Askese zu; und zwar tritt er dabei für die Besitzenden und Wohlvermögenden ein. Zu ihren Gunsten sollen die Meisten außerhalb der Familienbande wie Lastthiere ihre Arbeit verrichten. Ich sollte denken, eine edlere Gesinnung müßte alle Übel, die aus Übervölkerung entstehen werden, für Kleinigkeiten ansehen, im Verhältniß zu dem großen Unrecht der Doktrin gegen die Proletarier. Ein dürftiger Zustand ist schlimm, das Leben zu verleiden, ein rechtloser ist schlimmer. Die Politiker haben kein Vertrauen in die individuelle Moral, sie wollen aus jener Lehre Sitten und Rechte zur Beschränkung der Eheschließung ableiten. Der eine Theil der Gesellschaft hindert den andern durch Gesetzgebung und Verwaltung an der Eheschließung – das ist die praktische Consequenz jener Lehre. Das höchste Unrecht der Minorität gegen die Majorität!

Schlimme Alternative zwischen den Nöthen der Übervölkerung und zwischen Heilmitteln aus Mathusianischer Gesinnung! –

Bei einer wirklichen Übervölkerung, wo sie sich zeigt, hat man entweder die Volkskraft nach außen <zu> kehren oder die Hemmungen größerer Kraftentwicklung fort<zu>räumen. Schmerzen der Geburt sind auch hier unvermeidlich, hier bei inneren und äußeren Kriegen. Der Krieg ist in keinem <anderen> Sinne ein Übel als es der Schmerz überhaupt ist. Verwerflich ist er nur, wenn er nicht die Folge einer Nothwendigkeit ist. Bisweilen müssen im Mechanismus des socialen Getriebes gewisse Potenzen als verlorne Kräfte angesehn werden, damit überhaupt eine Aktion möglich sei. Beim Kampf um das Recht des Lebens ist es ein Mittel ohne jede Bedenklichkeit. Es giebt keine andre letzte Garantie des Rechts als die Einsetzung der physischen Gewalt (wenn hier nicht die Rechtfertigung des Lebens in's Scheußliche und Bestialische übergeht, so bin ich blind!). Das Bewußtsein vom Recht wird erst im Kampfe recht begründet (nicht im Anfange des menschlichen Verkehrs). Falls man nicht überhaupt auf Durchsetzung des Rechts verzichtet (-!), wird die Anwendung von Gewalt nicht vermieden werden können. (Und derselbe Dühring moralisirt vorher auf das Erbaulichste gegen Malthus zu Gunsten des ungehinderten Geschlechtstriebes.)

Nun könnte man einen Punkt setzen, wo keine Machtsteigerung mehr im Stande sei, einen gewissen Zustand der Übervölkerung in ein lebensfähigeres Dasein umzubilden. In diesen Fällen, deutet Dühring ah, sei Massenmord mehr zu empfehlen als Askese ("eine theilweise Vernichtung des volleren zur Entwicklung gelangten Lebens besser als die traurige Unterdrückung und Hemmung der Lebensenergie" – beiläufig finde ich, daß Keuschheit eine der mächtigsten Förderungen der Lebensenergie ist).

Dann soll das Leben dadurch gehaltreicher werden, daß sich die Widerstände steigern: denn wenn bei Übervölkerung der Einzelne sich durchsetzen will das Spiel des individuellen Bemühens wird bedeutsamer". (o Blödsinn!) „Die Abwägung des Rechts würde wichtiger als sie es je vormals werden könnte." (Ich denke an halbverhungerte Leute auf einem verschlagenen Schiff im Meere, mit dem Problem, wer zu erst gegessen werden soll: da wird freilich der Begriff des Rechts feiner als je!)

Dühring sieht in der socialen Unzufriedenheit von heute nur einen heilsamen Sporn, die Trägheit zu überwinden; die socialen Übel scheinen ihm hier und da noch nicht einmal groß genug zu sein, um die Trägheit der Volkskraft aufzustacheln. – Auch hätten wir kein Recht, eine unabsehbare Zeit in Anspruch zu nehmen, wie es Malthus thut.

VIII. Die Erkenntniss.

In wie fern kann der höhere oder niedere Grad von Erkenntniß eine Quelle von Freuden und Leiden werden?

Erkennen beruht auf einem Bedürfniß. Die „reine Freude der Erkenntniß" ist nichts als die Befriedigung über weggeräumte Hemmnisse. Ein Streben muß immer vorangehen; wie bei allem Praktischen. Die Arbeit ist auch hier das Mittelglied zwischen Bedürfniß und Genuß.

Das „reine Subjekt der Erkenntniß" ist eine Chimäre. Denn alle Äußerungen des menschlichen Wesens, Thaten oder Gedanken haben Gelingen und Mißlingen gemein. Auf dem Gebiet der Theorie tritt das Übel in der Gestalt des Irrthums auf. Die rein theoretische Enttäuschung ist nicht als Übel zu betrachten.

Ist der Irrthum wirklich an sich ein Übel? Sind es vielleicht nicht nur die praktischen Folgen falscher Vorstellungen? Eine Vorstellung, so lange sie für wahr gehalten wird, ist in ihrer Wirkung auf's Gemüth gar nicht von einer echten Wahrheit zu unterscheiden. Vorurtheile können uns ebenso gut glücklich als unglücklich machen; man denke an die Seligkeit im Gefolge von Superstitionen.

Manchen beseligenden Wahn könnte man für werthvoller als die Wahrheit halten z. B. den eines gütigen und liebenden Gottes. Der Glaube aber hat in unserm Gemüth eine unerschütterliche Grundlage, man muß nur das theoretisch Irrthümliche aus ihm ausscheiden. Nur die verstandesmäßige Dichtung des Glaubens, nicht der Glaube geräth vor der Kritik in Gefahr.

Schließlich ist in der Wahrheit allein Übereinstimmung, der Irrthum führt immer zum Widerstreit. Daher ist er ein Übel. Der Irrthum könnte uns nur gleichgültig lassen, wenn in unsrer Natur das Streben nach Wahrheit fehlte.

Ein subjektives Übel wird der Irrthum erst, wenn er als solcher erkannt ist. Immer wird daher auch ein Element der Befriedigung dabei sein.

Die falsche Idee von der Unbewegtheit der Erde hatte früher gar keine Folgen; jetzt wäre es ein großes Unglück, wenn das wahre astronomische System noch einmal, wie nach den Zeiten Aristarch's verloren ginge. Eine freie Wissenschaft könnte ohne jenen Eckstein gar nicht fortbestehn; die wahren kosmischen Vorstellungen haben heute eine Bedeutung für das Gemüth, sie weisen den Menschen auf Bescheidenheit hin. Die Natur scheint es nicht darauf angelegt zu haben, uns überall sogleich zur Wahrheit zu führen; sie bedarf, scheint es, zeitweilig der Irrthümer. Daß Irren etwas Menschliches ist, genügt noch nicht um das Dasein zu verdächtigen. Erst wo der Irrthum moralisch wird, die Lebensauffassung vergiftet, wird er bedenklich.

Je beschränkter unsre Vorstellungen sind, um so leichter werden sie mit den wirklichen Erfahrungen in Widerspruch gerathen.(!) Der unbefangne Mensch setzt seine Ideen sehr bald mit dem objektiven Lauf der menschlichen Angelegenheiten in's Gleichgewicht. (!) Wir hegen kein Mitgefühl mit den Enttäuschungen, welche aus einer pedantischen Moral entspringen. (Pfui!)

Die absolutistische Moral ist mit der Grammatik zu vergleichen, so wie die Gouvernanten diese sich vorstellen: als eine Macht aus und durch sich selbst. Man kann die Sprache erst aus der Grammatik meistern, wenn man die Grammatik zuvor der Sprache abgelauscht hat. So muß erst die Moral aus den Triebkräften und dem Grundcharakter des Lebens gewonnen sein, ehe man mit ihr dem Leben entgegentreten darf.

Die Moral ist des Lebens wegen da, nicht umgekehrt. – Man hat sich sehr vor unbegründeten Voraussetzungen zu hüten; wir haben uns vielmehr dem Charakter des Lebens hinzugeben. So ernten wir dauernde Befriedigung.

Viel getäuschte Hoffnungen beruhen auf überspannten Voraussetzungen über die Mitmenschen. Beim Unrechtleiden ist es ja das eigne Wesen, dessen Consequenzen wir erdulden. Die fremde Gesinnung, die sich über unsere Schicksale hinwegsetzt, ist übrigens häufig nur Schein; die Menschen sind mit ihrer eignen Noth beschäftigt, sie haben da keine Augen für andre.

Wie kann ein Mensch an dem Heile der Gattung verzweifeln! Wirft er ihnen allen Gemeinheit und Niederträchtigkeit vor, so bleibt er doch selbst noch übrig. Die Menschen mit großem Wollen glauben an die Möglichkeit ihrer Conceptionen und klagen deshalb die Menschen nicht in desperater Weise an.

Die wirklich miserable Verzweiflung ist da, wo man selbst fühlt, das zu vertreten, was man <ver>wünscht. Ein großer Theil der geistigen Schmerzen ist nicht wirklich auf die Bosheiten der Menschen, sondern auf die Macht unglücklicher Zufälle zurückzuführen.

Immerhin bleibt die Pein. Das Unrecht, als das größte Übel, wenn auch nicht gerade als die herrschende Macht. Wir können keine Entwicklung der menschlichen Angelegenheiten denken, ohne die Noth als spornendes Motiv vorauszusetzen. Es giebt keine Weisheit, die den Zusammenhang nach Zwecken eine Erdichtung nennen dürfte. Jede Aktion der Natur ist verstandesmäßig, sie verwirklicht nicht bloß eine Vielheit, sondern eine Unendlichkeit von Verstandesrücksichten. Der ursächliche und auch der finale Zusammenhang reichen so weit, als das Belieben unseres Verstandes ihnen nachzugehn. Was wir im klaren Bewußtsein erkennen, ist nur ein Abglanz jener unendlichen Verkettung: diese und die menschliche Einsicht gehören nicht in dieselbe Gattung. Es ist in den Dingen nicht nur Verstand, sondern etwas, was jenseits allen Verstandes liegt. Die Synthesis dieser unendlichen Verkettung bleibt uns immer ein unerreichbares Jenseits. So kann der Verstand nie das Vermögen haben, den absoluten Gehalt des Daseins zu rechtfertigen. Nicht die Übereinstimmung oder der Widerstreit im System der Dinge, sondern die Gesammtheit des Eindrucks, welchen das Leben auf das Subjekt macht, bleibt der Maßstab. Empfindungen und Gefühle irren nie, weil sie noch nicht zwischen Vorstellung und Gegenstand unterscheiden. Das Gefühl ist für den Verstand etwas Transscendentes, es vermag daher in gewissem Sinne die absolute Natur des Wirklichen zu repräsentiren.

Verstand könnte auch im unseligsten Mißgebilde von Welt im reichsten Maaße verwirklicht sein. – Es kommt auf das Maaß und nicht auf die Thatsache des Leidens an. – Das unmittelbare Urtheil über den Werth des Daseins muß die Form des Gefühls haben, das heißt: es wird ein Glaube sein.

IX. Der Glaube an den Werth des Lebens.

Wenn die begrenzte Umschau, deren wir fähig sind, uns in dem Glauben verstärkt, die Dinge auch bei weiterer Untersuchung den Anforderungen unseres Wesens gemäß zu finden: so entsteht Glaube an den Werth des Daseins.

Darin kann es Störungen geben. Bei dem Einzelnen kann durch furchtbare Schicksale das Zutrauen zum Leben ganz gestört werden. "Das Kloster und überhaupt die Abwendung vom Treiben der Welt hat bisweilen einen guten Sinn." (Nun, die Furchtbarkeit des allgemeinen Schicksals ist gewiss größer als jedes "individuelle" –)

Die normale Verfassung des Gemüths geht dabei zu Grunde. Wir haben kein Recht, ihm zuzumuthen, aus eigner Kraft nach Versöhnung mit dem Leben zu streben. Das Instrument ist verletzt.

Was aber für den Einzelnen berechtigt ist, das ist es nicht für das Ganze, er darf nicht die Menschheit zur Verwünschung des Daseins auffordern. Wäre die Menschheit ein bewußtes Ganze, sie würde vom Leiden des einzelnen Gliedes nicht viel Aufhebens machen. (Umgekehrt! Man denke nur an Zahnschmerz usw. beim Menschen.) (Gerade jenes Gesammtbewußtsein wäre als ein immerfort leidendes zu imaginiren?) Soweit es möglich ist Affektionen zu haben, deren Schwerpunkt in andre Wesen fällt, läßt sich die individuelle Empfindung zum allgemeinen Mitgefühl steigern: und daraus ist das individuelle Schicksal zu bewältigen und zu versöhnen (wie!? weil man an so vielen andern und größern Leiden theilnehmen lernt! der schwerere Schmerz überwältigt den geringeren!)

Was geht den Träger des individuellen Bewußtseins das Schicksal der Welt an! Die sympathischen Affekte sind die Vermittler. Ohne den Gedanken einer gewissen Solidarität ist keine Befriedigung, keine Versöhnung möglich. (ego: Das ist halb und halb Redensart; kein Mensch kann das Schicksal der Menschheit ganz empfinden, es ist ein sehr vages Übergreifen aus dem Individuellen in's Allgemeine, welches hier Versöhnung bringt. Ein stärkeres würde das Individuum ganz niederwerfen. Die Engigkeit von Kopf und Herz macht das Dasein erträglich!) Selbstsüchtige Isolirung ist Entartung des Menschlichen. Der furchtbarste Peiniger ist der Gedanke der Verlassenheit und des Preisgegebenseins. Die Menschen machen sich im Glauben an die bessere menschliche Natur gegenseitig irre, aus Eitelkeit, aus dem Kitzel, sich besonders verschlagen und unnatürlich zu zeigen. Es ist nur ein Schein, wenn der Egoismus als herrschende Regel des menschlichen Verkehrs gilt. (Hier fällt Dühring in's Kindische. Ich wollte, er machte mir hier nichts vor! Eigentlich hört hier jede Verständigung auf: glaubt er ernsthaft an seinen Satz, so darf er für alle Socialismen von Herzen hoffen.)

Der Glaube an den Werth des Lebens muß auch an den guten Menschen von Natur glauben: (sonst ist es eben nicht auszuhalten, meint Dühring). Er betrifft einmal die subjektive Beschaffenheit unsrer Gattung und sodann die Übereinstimmung der Anlage der großen Natur mit den Bedürfnissen und Zwecken des menschlichen Daseins. In beiden Richtungen sucht er nach Bestätigung seiner noch unvollkommenen Conceptionen.

Wenn irgend etwas das Gemüth zu philosophischer Ruhe zu stimmen vermag, so ist es die Betrachtung einer Welt, deren Bedeutung über das menschliche Schicksal unendlich hinausreicht (was wissen wir denn von einer "Bedeutung"! in solchem Falle, für wen bedeutet sie noch etwas!) – Es giebt keinen ärgeren Feind des philosophischen Glaubens als den Ideologismus (der kennt nämlich den strengen Begriff einer wirklichen Objektivität nicht mehr, er verwischt den Unterschied zwischen Glauben und Wissen).

Insofern wir das Bedürfniß haben unsere allgemeinen über unser Gewußtes übergreifenden Conceptionen durch neue Erfahrungen und Untersuchungen zu belegen, befinden wir uns im Zustande des Glaubens. Er hat aber thatsächliche Grundlagen, schließt ein, wenngleich beschränktes Wissen ein, und unterscheidet sich dadurch von dem Autoritätsglauben. (Übrigens haben sich die Religionen immer ganz gut mit einem "wenngleich beschränkten" Wissen zu behelfen gewußt und es nie ganz verschmäht. Das bliebe sich also gleich; nur daß Dühring das Gewußte zur Grundlage macht, auf der sich dann die Dichtung erhebt: während in den Religionen gewöhnlich die Dichtung die Grundlage ist, an welche dann gelegentlich auch einiges Gewußte angelehnt wird, mehr um zu stützen als gehalten zu werden, aber doch nicht um ganz als Fundament zu dienen.)

Anhang.

Der theoretische Idealismus und die Einheit des Systems der Dinge.

Von dem theoretischen Idealismus kann man niemals auf praktischen Idealismus, auf eine praktisch ideale Haltung derer, die sich zu ihm bekennen, schließen. Im Gegentheil findet sich, wie bis zu einem gewissen Grad das Beispiel Schopenhauer's zeigt, ein derber Lebensrealismus bisweilen mit idealistischen Grundansichten gepaart. Für Schopenhauer ist der praktische Idealismus eine Lächerlichkeit. Die edelsten Seiten der menschlichen Natur wurden von Schopenhauer in den Schmutz der gemeinsten Auffassung gezogen. (Alles höchst falsch und niederträchtig, Herr Dühring! Ich dachte, der praktische Idealismus Schopenhauer's leuchte heller als die Sonne. Und da muß ihn so ein weiser Knabe auch noch recht ausdrücklich verneinen.)

Die transcendente Befriedigung der Rache. Das Rechtsgefühl ist ein Ressentiment, gehört mit der Rache zusammen: auch die Vorstellung einer jenseitigen Gerechtigkeit geht auf das Rachegefühl zurück.

Die Gerechtigkeit besteht in der Wiederver(letzung)geltung, der Verletzung muß eine Gegenverletzung entsprechen: talio. Dies die uralte und noch immer populäre Auffassung. Von einer anderen Seite suchte man einen Grund und verfiel auf einen Zweckgrund für die öffentliche Gerechtigkeit: Verhütung der Verletzung durch Abschreckung.

Die von praktischen Motiven geleitete Intelligenz weiß, ohne das Rachegefühl, von keiner Gerechtigkeit.

Im Criminalrecht zwei Classen: einmal bloße Zweckmäßigkeiten (hat nichts also mit der Gerechtigkeit zu schaffen), sodann die Rücksichten, welche der Mensch dem Menschen schuldig ist; die feindliche Verletzung.

Auch im Civilrecht gilt es. Nur insofern Nichtachtung oder Störung eines Zustandes eine Verletzung sein würde, wird der Begriff der Ungestörtheit zum Rechtsbegriff. Das Recht schreibt nie ein positives Verhalten vor.

Die transscendente Vergeltung: das Gute soll Segen, das Böse Fluch eintragen. Der Dankbarkeits-trieb ist die Grundlage von den Vorstellungen der Belohnung: wie der Rachetrieb von der Gerechtigkeit. So haben Haß und Liebe auch ihre jenseitigen Welten.

Ist denn nun die „ ewige Gerechtigkeit" Schopenhauer's etwas so Ernstes und Emphatisch-zu-Verehrendes! Der ungebändigte Rachetrieb, der sogar transscendente Ideen bildet! Die, welche das Strafgericht der Ewigkeit anrufen, zeigen im Spiegel ihr eignes Bild. – Man hat nicht nur auf die Verwandtschaft und Gegensätzlichkeit der Ideen zu achten, sondern vor allem auf das, was zu dem ganzen Spiele reizt, die Gewalt der Triebe und Gefühle. Träume sind <nicht> nur die Ursachen, sondern die Wirkungen unserer Gemüthszustände: Dichtungen auf dem Grund der Triebe und Gefühle. Und wie die Träume, so die ganze vorstellende Welt der Ideen.

Die Vorstellung eines transscendenten Strafgerichts ist Dichtung und streitet sodann mit der edleren Haltung des Bewußtseins, als Erzeugniß des Rachegefühls. Am meisten nehmen wir den Arm der Götter in Anspruch, wenn wir über erlittenes Unrecht empört sind.

Die letzte Stütze des wankenden Glaubens steht hier: die moralische Welt sollte einer Ergänzung bedürftig sein, sonst geschehe unserem Verlangen nach einer gerechten Ordnung der Dinge kein Genüge. Dazu müsse es eine über den irdischen Dingen stehende ewige Gerechtigkeit geben. Dazu wurde Gott als Forderung des Vergeltungstriebes herangezogen: der Vergelter, der Vertreter der ewigen Gerechtigkeit. Dazu die individuelle Unsterblichkeit. Die Voraussetzung einer eigentlichen metaphysischen Vergeltung ist metaphysische Schuld, und diese ist nicht ohne metaphysische Freiheit denkbar. Die zweite Voraussetzung einer metaphysischen Vergeltung ist metaphysische Fortexistenz des Schuldigen; die dritte – ein metaphysischer Richter und Vollstrecker. Dies ist die Religion der Rache. So hat Kant die Religion verstanden. Die feinste Wendung ist die Schopenhauerische. Die Weltgeschichte das Weltgericht, doch so daß über der physischen Bedeutung der Hergänge noch eine metaphysische steht. Eine mystische Ursächlichkeit des Weltlaufs. Wir sehen nur die Vollstreckung des Urtheils vor uns, und zwar in der Form des Weltlaufs, eines sich deterministisch abspielenden Daseins: Unrecht und Schuld liegt jenseits der Existenz der Welt überhaupt. „Die Menschen sind in der That allzu poetisch, wenn es gilt das Unglück ihrer Feinde mit deren wahrer oder vermeinter Schuld zu verweben." Gerade die Feigheit und die Ohnmacht pflegen in Auffindung sogenannter "Strafgerichte" am glücklichsten zu sein. Es ist eine widerwärtige Consequenz der Rache, die Ereignisse im Sinne einer vermeinten Gerechtigkeit zu deuten.

Wir vermehren die Übel der Welt noch durch transscendente Gespenster; erdichten wir keine metaphysischen Karikaturen der Dinge! Das natürliche Bild der Welt entspricht selbst da, wo es unbefriedigt läßt, dem tieferen Wesen unsrer Natur. –

Ende.

Schluss-Betrachtung, von mir.

Der Glaube an den Werth des Lebens beruht auf unreinem Denken. Er ist nur möglich, wenn das Mitgefühl für das allgemeine Leben und Leiden der Menschheit sehr schwach entwickelt ist. Versteht man es, sein Augenmerk vornehmlich auf die seltensten Menschen, die hohen Begabungen, die reinen Seelen zu richten, nimmt man deren Werden zum Ziel und erfreut sich an deren Wirken, so mag man an den Werth des Lebens glauben. Ebenso wenn man bei allen Menschen nur eine Gattung von Trieben, die weniger egoistischen, ins Auge faßt und sie in Betreff der anderen entschuldigt: dann kann man von der Menschheit hoffen.

Mir scheint aber umgekehrt viel sicherer, daß der Mensch gerade dann das Leben erträgt und an den Werth des Lebens glaubt, wenn er sich allein will und behauptet, nicht aus sich heraus tritt: so daß alles Außerpersönliche nur wie ein schwacher Schatten bemerkbar ist.

Also darin ruht der Werth des Lebens für den gewöhnlichen thätigen Menschen, daß er sich für wichtiger hält als die Welt: und die Ursache davon, daß er so wenig an den anderen Wesen theilnimmt, ist der große Mangel an Phantasie, so daß er sich nicht in andre Wesen hineindenken kann. Wer das kann und ein liebevolles Herz hat, muß am Werth des Lebens verzweifeln; es sei denn, daß er sich eine mystische Bedeutung des ganzen Treibens ausdenkt.

Vermöchte jemand gar ein Gesammtbewußtsein der Menschheit in sich zu fassen, er bräche unter einem Fluche gegen das Dasein zusammen. Denn die Menschheit hat keine Ziele. Folglich kann in Betrachtung des Ganzen der Mensch, selbst wenn er dessen fähig wäre, nicht seinen Trost und Halt finden: sondern seine Verzweiflung. Sieht er bei allem was er thut auf die letzte Ziellosigkeit der Menschheit, so bekommt sein Wirken in seinen Augen den Charakter der Vergeudung. Ich glaube, das ist mit nichts zu vergleichen, sich als Menschheit ebenso vergeudet zu fühlen, wie wir die einzelne Knospe von der Natur vergeudet sehen. Es war alles nothwendig und ist es in uns. Nur daß wir das Spectaculum sehen sollen! Da hört eigentlich alles auf.

Das Wehe in der Welt hat die Menschen veranlaßt, sich auf geistreiche Weise daraus noch eine Art Glück zu saugen. Die Lebensbetrachtung dessen, der vom Dasein Erkenntniß allein will, dessen der sich ergiebt und resignirt, dessen der ruht und dessen der ankämpft – überall ist auch ein wenig Glück mit aufgesproßt. Es wäre aber schrecklich zu sagen, daß mit diesem Glück das Leiden selbst compensirt würde. Überhaupt sollte schon gar keine Compensation möglich sein! Oder vielmehr: was heißt es hier compensiren? Man kann das Leiden nicht ungeschehen machen, dadurch daß später ein Glück folgt. Lust und Unlust können sich gar nicht aufheben.

Nun will ich zuletzt mein Evangelium aufstellen. Das lautet so.

Wen man verehrt, den liebt man nicht, das ist bekannt. Und der würde am reinsten lieben, der das geliebte Ding gar nicht verehren, sondern verachten müßte. Verachtung ist Sache des Kopfes.

Der, welcher sich selbst ganz rein lieben könnte, – also in völlig gereinigter Selbstliebe – wäre der, welcher zugleich sich selbst verachtete. Liebe dich selber und niemanden außer dir – weil du dich allein kennen kannst; und liebe die andern, wenn du es vermagst d. h. wenn du im Stande bist, sie völlig zu erkennen und zu verachten, wie dich selbst.

Dies ist die Stellung von Christus zur Welt. Es ist die Selbstliebe aus Erbarmen, der Kern des Christenthums, ohne alle Schale und Mythologie.

Selbsterkenntniß entspringt aus Gerechtigkeit gegen sich; und Gerechtigkeit ist im Grunde Rachegefühl. Hat jemand genug an sich gelitten, sich selbst genug verletzt, in Sündhaftigkeit – so beginnt er gegen sich das Gefühl der Rache zu spüren: seine eindringende Selbstbetrachtung und deren Resultat Selbstverachtung ist das Resultat. Bei manchen Menschen selbst Askese, das heißt Rache an sich in Thätlichkeit des Widerwillens und Hasses. (In viel Hast und Arbeit zeigt sich derselbe Hang –)

Daß bei alledem der Mensch sich noch liebt, erscheint dann wie ein Gnaden-Wunder. Es ist dies nicht die Liebe des gierigen blinden Egoismus. Gewöhnlich legt man eine solche geläuterte und unbegreifliche Liebe einem Gotte zu. Aber wir selbst sind es, die einer solchen Liebe fähig sind. Es ist Selbstbegnadigung. Die Rache wird abgethan. Damit auch die Selbsterkenntniß.

Wir handeln wieder und leben weiter. Aber alle gewöhnlichen Motive, die uns sonst leiten, erscheinen verwandelt. Hier ist der Unterschied zwischen Buddhistischem und Christlichem. Der Christ handelt aus jener Selbstliebe; und vermag er dies nicht immer, dann hat er doch „ Selbst-Mitleid". Alles Mitleid ist, wie Menschen sind, schwach. -Aber Christus verachtete sich selbst und liebte sich selbst, und die Menschen ersah er als sich gleich.

Der Christ handelt und hält das Handeln für unvermeidlich: dafür tröstet er sich im Hinblick auf den Weltuntergang. Er schätzt alles irdische Streben nicht sehr hoch, es ist für nichts. Wenn wir nun wissen, daß es mit der Menschheit einmal vorbei sein wird, so legt sich auch der Ausdruck der Ziellosigkeit auf alles menschliche Streben. Dazu kann man hinter die Grundirrthümer in allen Bestrebungen kommen und sie aufzeigen: ihnen allen liegt unreines Denken zu Grunde. Was thun alle Eltern z. B.? – sie erzeugen ohne Verantwortung und erziehn ohne Kenntniß des zu Erziehenden – sie thun jedenfalls Unrecht und vergreifen sich in einer fremden Sphäre – aber sie müssen es thun – das gehört zur Unseligkeit der Existenz. Und so wird der Mensch bei allem, was er thut, voller Ungenüge sein und Mitleid mit sich haben.

Der Mensch scheint eine Mehrheit von Wesen, eine Vereinigung mehrerer Sphären, von denen die eine auf die andre hinzublicken vermag. –

Ende.

9 [2]

Die Erhaltung der Energie. Von B. Stewart.

Das Universum – eine Maschine, die aus Atomen und einer Art von Medium zwischen ihnen zusammengesetzt ist: die Gesetze der Energie sind die Gesetze, welche die Wirkung dieser Maschine beherrschen.

Capitel I.

Unsere Unkenntniss der Einzelwesen, während wir oft die Gesetze kennen, welche die Gemeinschaften bestimmen. Bei einer sehr niedrigen Temperatur ist die Sterblichkeit in London eine viel größere. Das steht fest, nicht aber, wie ein beliebiger Todesfall durch die niedere Temperatur verursacht sei. Nach einer schlechten Ernte findet stets eine große Einfuhr von Getreide statt; den Weg des einzelnen Theilchens Mehl können wir nicht angeben. Es giebt eine fortwährende Luftströmung nach dem Aequator; aber niemand kann von einem einzelnen Theilchen Luft die Bewegungen angeben. So im Planetensystem, in der Politik der Nationen. Das Naturgesetz aller Einzelwesen ist sehr verwickelt, ob es nun lebende Wesen sind oder leblose Theilchen der Materie; eine große Schlacht wüthet, das Schlachtfeld ist uns oft verborgen; was die Einzelwesen darin thun, sehen wir nicht, aber das Ergebniß des Kampfes können wir beurtheilen, sogar oft vorhersagen. Das der Gemeinschaft erreichbare Gesammtresultat wird durch einfache Gesetze bestimmt.

Man vermuthet, daß eine große Anzahl von Krankheiten durch organische Keime veranlaßt werden; unsere Unkenntniß von denselben ist vollkommen. Die Luft wimmelt von solchen, sie kämpfen miteinander, wir sind die Beute der stärkeren. So sind wir mit einer ganzen Welt von Geschöpfen auf's Innigste verknüpft und kennen sie nicht besser als die Bewohner des Mars.

Aber doch kennen wir einige Eigenthümlichkeiten dieser Raubstaaten z. B. daß die Cholera hauptsächlich eine Krankheit der Tiefebenen ist, daß wir auf das Trinkwasser zu achten haben. – Die Impfung steuert die Verheerung durch die Blattern, aber wir sind wie Gefangne, die sich verstümmeln müssen, um sich für ihren siegreichen Gegner werthlos zu machen; so daß er sie frei läßt.

Noch größer unsre Unkenntniß der Moleküle der unorganischen Materie.

Ein Molekül Sand ist das denkbar kleinste Ding, das noch alle Eigenschaften des Sandes besitzt; eine weitere Theilung, falls sie möglich wäre, würde es in seine chemischen Bestandtheile, Kiesel und Sauerstoff, zerlegen. Jedenfalls geht die Zertheilung nicht in's Unendliche. Vergrößert man einen Wassertropfen bis zum Umfang der ganzen Erde: so würde ein einziges Molekül etwas größer als eine Flintenkugel, etwas kleiner als ein Cricketball sein. Wir kommen nie dahin, die letzten Moleküle sichtbar zu machen; die allergrößten Massen des Weltalls haben mit den allerkleinsten dies gemein, daß sie sich den menschlichen Sinnen entziehn: die erstern zu weit entfernt, die letztern zu klein.

Diese Moleküle in beständiger Bewegung und in Kampf auf einander stoßend: bis etwa ein Schlag mächtig genug ist, die zwei oder mehr einfachen Atome zu trennen, aus denen ein Molekül zusammengesetzt ist. Dann tritt ein neuer Zustand der Dinge ein. Unsterblich ist das Grundatom, aber fortwährend bewegt. Dies ist eine neue Schranke für unsere Erkenntniß, es sitzt nicht still.

Gleichheit von Wirkung und Gegenwirkung.

In jedem System, das sich selbst überlassen bleibt, mögen starke innre Kräfte zwischen den verschiednen Theilen wirksam sein, Wirkungen und Gegenwirkungen gleichen sich aber aus, das System verharrt in Ruhe. Eine hohle Glaskugel mit zahlreichen lebhaft sich bewegenden Goldfischen, ganz leicht auf Räder gesetzt, steht still, selbst wenn die Tischfläche eine glatte Eisfläche wäre: es ist ein System. Ein anderes ist die Flinte mit Pulver und Blei: während die Kugel vorwärts geschleudert wird, wird der Flintenkolben rückwärts geschleudert. Wenn die Flinte 3000 Gramm, die Kugel 30 Gramm wiegt und die Kugel per Secunde 300 Meter vorwärts geschleudert wird: dann die Büchse mit der Geschwindigkeit von 3 Meter rückwärts geschleudert. Also 3000 gr X 3 m = 30 gr X 300 m. –

Werfe ich einen Stein von einem Abhang auf die Erde, so scheint die Bewegung nur eine Richtung zu haben, in Wahrheit ist sie das Resultat einer gegenseitigen Anziehung von Stein und Erde. Die Erde bewegt sich wirklich aufwärts, dem Stein entgegen, ganz unmerklich: aber, da die Masse der Erde sehr groß ist im Vergleich mit der Masse des Steins, so muß die Geschwindigkeit außerordentlich gering sein. st gw X Schnelligk. nach abwärts = Erdgw x Schnell. nach aufwärts. Allgemein: wenn A seine anziehende oder abstoßende Kraft auf B ausübt, so zieht B wiederum A an oder stößt es ab. Trotz unsrer Unkenntniß der Einzelwesen läßt sich dies Gesetz erkennen.

"Bewegungsgröße" ist das Produkt der Masse und der Geschwindigkeit. Bei der Flinte sind also die Bewegungsgrößen in beiden Richtungen gleich. Was unterscheidet doch hier die Flintenkugel und den Büchsenkolben? Die Flintenkugel kann Widerstand überwinden: diese durchdringende Gewalt ist das Merkmal einer mit sehr großer Geschwindigkeit begabten Substanz. Nennen wir dies Vermögen Energie: sie steht im Verhältniß zum Gewicht oder zur Masse des Körpers. Es ist dasselbe, ob eine Kugel von 60 gr Gewicht sich mit Geschwindigkeit von 100 Meter per Sec bewegt oder 2 Kugeln, jede von 30 gr. – Aber die Energie steht nicht im einfachen Verhältniß zur Geschwindigkeit; sie wächst viel schneller mit der Geschwindigkeit. Wird die Geschwindigkeit einer Kugel verdoppelt, so wächst ihre Energie nahe aufs Vierfache. Ist die Geschwindigkeit

2(fach), dann die Energie 4(fach)

3 (fach), dann die Energie 9(fach)

Die Energie ändert sich nach der Quadratzahl ihrer Geschwindigkeitszahl.

Wie sollen wir nun Arbeit messen? Als Einheit des Gewichts das Kilogramm (2 Zollpfund), als Einheit der Länge den Meter (= 3,186 rhein. Fuß).

Heben wir nun ein Kilogramm 1 Meter hoch, so wenden wir Energie auf: diese betrachten wir als Arbeitseinheit: Kilogrammeter.

Multiplizirt man das gehobene Gewicht (in Kilogr) mit der senkrechten Höhe (in Met.), durch welche es gehoben wird, so erhält man als Resultat die geleistete Arbeit (in Kilogrammetern). Die Energie ist dem Quadrate der Geschwindigkeit proportional, ob wir nun die Energie an der Dicke der Bretter, welche er durchdringen kann oder an der Höhe messen, zu welcher er, der Schwerkraft entgegen, aufsteigen kann.


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