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Was Walther bei seiner zweiten Anwesenheit in Haarlem erreichte, und was für überraschende Aufschlüsse er auf der Rückfahrt bekam. Wunderbare Natürlichkeiten im menschlichen Leben

So fuhren sie nach Haarlem herein, und der Kutscher hielt vor dem bezeichneten Hause, das Walther jetzt zum drittenmal sah.

»Nun wollen wir aussteigen und mit diesem guten Manne ein Wort reden,« sagte Holsma und trat in den Laden.

Der Jude bekam einen Schreck, als er seinen Kunden von gestern mit einem sehr würdevoll aussehenden Herrn eintreten sah.

Der Doktor eröffnete ohne weiteres die Verhandlungen.

»Sie haben gestern diesem jungen Manne eine schöne neue Jacke und einen ebensolchen Hut abgekauft, zu seinem sonstigen Anzuge passend. Ich möchte diese Kleidungsstücke kaufen.«

»Sie wollen kaufen ... die Jacke ... und ...«

»Ja, die Jacke und den Hut, die gestern noch diesem jungen Herrn gehört haben, die will ich kaufen. Er sagt mir, daß er sie an Sie verkauft hat für sieben Gulden und achtzehn Stüber ... ich will die Sachen kaufen ...«

»Diese Sachen...«

»Ja doch... Herr, ich will sie kaufen. Wundert Sie das? Nicht für mich, sondern für den jungen Herrn da. Fällt Ihnen das auf? Denken Sie, er hat heute Geburtstag, oder 's ist Weihnachten, oder was Sie sonst wollen ... aber bitte, etwas schnell, wenn Sie mit uns ein Geschäft machen wollen, wir wollen noch weiter. Entschuldigen Sie gütigst.«

»Diese Sachen ... habe ich nicht mehr ... sind schon verkauft ...« stotterte der Jude, der irgend eine Gefahr witterte, wenn er auch nicht wußte welche.

»So? schon verkauft?« sagte Holsma ganz ruhig, während Walther zitterte. »Verkauft? an wen? vielleicht läßt der jetzige Besitzer sie uns ab. Es liegt uns dran ...«

»Soll ich wissen? Kommen viel Leute in meinen Laden. Kann ich jeden nach 'm Namen fragen? Hab' den jungen Herrn da auch nicht gefragt!«

»Sehr schade, sehr schade. Walther, geh doch einmal auf die Straße und sieh dich nach dem Polizei-Bureau um, oder nach dem nächsten Polizisten. Gieb ihm diese Karte und führe ihn hierher. Sie gestatten wohl, daß ich so lange hier warte; sonst kann ich auch vor der Thür warten. Ich setze mich in meinen Wagen.«

»Wie heißt Polizei? Was soll Polizei? Hab' ich die Sachen nicht ehrlich gekauft? Hab' ich ihm die Sachen nicht ehrlich verkauft, die er sich ausgesucht hat?«

»Nein, das haben Sie nicht!« sagte Holsma ganz ruhig. »Sie haben den Knaben betrogen. Übrigens gehörten die Sachen gar nicht ihm. Denken Sie, der Knabe hatte die Sachen vielleicht gar gestohlen ... was denn?«

Walther wurde unruhig, aber Holsma trat ihn auf die Fußspitzen.

»Haussuchung? bei mir! Polizei!« schrie der Jude.

»Ja gewiß. Also marsch, Walther!« sagte Holsma.

»Nein, nein, die Schande! Und der Schaden! Alles werden sie durchsuchen, alles werden sie ruinieren. Nichts werden sie finden, aber die Nachbarsleut' werden sagen ... Warten Sie, vielleicht ist die Jacke und der Hut doch noch da: vielleicht waren's bloß ähnliche Stücke, was ich habe verkauft. Sie wollen Sie kaufen ... kaufen?«

»Kaufen!« sagte Holsma.

Der Jude, der eine Haussuchung gewiß fürchtete, wenn ihm auch die Geschichte von dem Diebstahl nicht einleuchtete, begann zu kramen und zu suchen. Als er sich offenbar Mühe gab, nicht oder nicht bald zu finden, sah Holsma nach der Uhr und räusperte sich ungeduldig.

»Hier sind die Sachen. Ich denk', sie sind's, und 's sind nicht die, was ich verkauft hab' heut in aller Früh'. Sehen Sie nach, junger Herr, ob's ist Ihr Hut und Ihre Jacke?«

»Ja!« rief Walther erfreut.

»Kostet?« fragte der Doktor.

Der Jude stockte.

»Nun, schnell, bitte. Gestern kosteten sie sieben Gulden achtzehn ... heute?« drängte Holsma.

»Der Mensch will leben, der Mensch lebt vom Geschäft ... geben Sie zehn Gulden ...«

Der Doktor legte vier Reichsthaler auf den Tisch.

»Zieh die Sachen an, Walther, und die alten wickeln Sie mir wohl ein bißchen ein. Oder es geht auch so. Nimm sie, Walther, und lege sie in den Wagen. Der Weg zum Gericht ist ja wohl nicht weit?«

»Zum Gericht? Wie heißt Gericht? Was soll's Gericht?«

»Das Gericht?« sagte Holsma. »Nun, ich will ein Protokoll aufnehmen lassen, und die Sachen da gleich abgeben. als Beweisstücke ... für den öffentlichen Ankläger ... Bewucherung Unmündiger ... Paragraph soundso!«

»Aber Herr ... Sie werden doch nicht ... sehen Sie, Geschäft ist Geschäft!... ich kauf' Ihnen die Sachen gern wieder ab ... was sollen sie kosten, der Hut und die Jacke?«

»Zehn Gulden!«

»Zehn Gulden! Ich bin 'n geschlagener Mann! Wovon soll ich leben mit meiner Familie! Kein Geschäft, kein Verdienst. Zehn Gulden! Er hat gezahlt dafür gestern sieben Gulden zweiundzwanzig ...«

»Gestern ... gestern! Heut ist heute! Aber Sie brauchen die Sachen nicht zu kaufen, ich finde andere Abnehmer...«

Seufzend legte der Kleiderhändler die vier Reichsthaler wieder auf den Tisch.

»So, das Geschäft wäre gemacht. Ich empfehle mich Ihnen!« sagte Holsma und verließ mit dem wieder manierlich aussehenden Walther den Laden.

»Jetzt wollen wir ins Wirtshaus gehen,« sagte Holsma vergnügt, »und den Kauf begießen.«

Als sie aber bei Tische saßen, – und Walther hatte einen respektablen Hunger bekommen – da zeigte sich, daß der Doktor einen anderen Grund hatte, noch etwas in Haarlem zu verweilen. Denn er ließ den Kutscher hereinkommen, und Walther mußte diesem ganz genau die Lage der Kopperlithschen Villa beschreiben, »am Gehölz, gleich bei den Logementen« u. s. w. Dann beauftragte Holsma den Kutscher, hinzugehen und nach einem der Herren Kopperlith zu fragen: es wäre ein Herr »von außerhalb« da, der mit der Firma Ouwetyd und Kopperlith ein Geschäft machen wolle; er habe gehört, daß die Herrschaften auf ihrer Villa feien, er frage deshalb an, ob und wann einer der Herren selbst auf dem Comptoir zu Amsterdam sei, denn er müsse das Geschäft mit einem der Herren Kopperlith selbst besprechen, und er werde sich danach einrichten.

Nach etwa einer halben Stunde kam der Kutscher zurück, mit der Meldung, die Herren blieben heut sämtlich noch auf Grünenhaus, aber morgen würden die jungen Herren beide auf dem Comptoir sein ... die Herrschaften wären unangenehm berührt gewesen, daß man ihnen hier »draußen« mit Geschäften käme, denn sie hätten's nicht so nötig ...

Doktor Holsma lächelte. Walther beinahe auch. Er dachte an die Sorgen, die er um die »sieben Gulden dreizehn« der reichen Hersilia ausgestanden hatte. Ob ihm wohl der Doktor das Geld geben würde, um dieser Dame, wohledelgeboren, den famosen Brief zu schreiben?

Im Notfalle indessen, wenn es nicht sein sollte, wollte er auch verzichten. Mochte die reiche Dame sich für ihr eigenes Geld einen neuen Schirm kaufen! Das wußte er sicher: er verkaufte seine Jacke gewiß nicht wieder für sie!

Auf der Rückfahrt nach Amsterdam wurde endlich Walthers Sehnen gestillt. Holsma begann von Prinzeß Erika zu sprechen.

»Die Prinzessin hat Verwandte hier in Holland, wie ich dir schon damals sagte, am Tage nachdem wir im Theater gewesen waren ... weißt du, wo du sie für Femke hieltest. Sie sehen sich allerdings sehr ähnlich. Siehst du, so etwas kommt vor, und man braucht nichts dabei zu finden. Du weißt, daß wir, unsere Familie und die Frau Claus, Verwandte sind, von mütterlicher Seite her. Es kommt vor, daß adlige Damen in fürstliche Häuser hinein heiraten, andere adlige Damen verarmen und werden Frauen von Bürgerlichen, manche werden es auch, ohne daß sie verarmen. In Liebessachen giebt es allerlei. So ist das Leben, der eine steigt, der andere fällt, wenn das überhaupt Steigen und Fallen ist. Ich bin anderer Ansicht. Es giebt auch Männer von einer Herkunft, die man adlig nennt, und die sich sagen, es ist eine Thorheit, und den Adel ablegen. So kann schließlich sehr gut eine Prinzessin im dritten, vierten Gliede eine Stammmutter oder einen Stammvater haben, der zugleich der Ahne oder die Ahnfrau eines Wäschermädchens ist. Und da es in manchen Geschlechtern vorkommt, daß bestimmte Gesichtszüge jahrhundertelang sich wiederholen oder auch mit Unterbrechungen wiederkehren, so kommen solche Ähnlichkeiten leicht zustande. Es ist nichts Merkwürdiges dabei. Unsere Sietske sieht ja auch beinahe so aus. Wir legen kein Gewicht darauf, aber wir hatten so viel von der Prinzessin gehört und auch ihr Bild gesehen, das einem alten Familienbilde in unserem Besitze – du hast es ja wohl auch gesehen – so sehr glich, so wollten wir sie selbst einmal sehen. Deshalb gingen wir damals in die Theatervorstellung. Wir wollten nichts von ihr, und wir brauchen sie nicht. Es war wohl anzunehmen, daß sie von diesen alten Familienbeziehungen wenig wußte oder sich nichts daraus machte – was meinst du, wenn man alles wüßte, mit wie vielen Leuten man da verwandt wäre? Wenn die Bibel recht hat, sind wir Menschen ja, von Noah her, alle miteinander verwandt. Vielleicht ist es auch wahr, wenn auch ohne Noah. Sie hat wirklich nichts davon gewußt, aber durch ein eigentümliches Abenteuer ist sie darauf gekommen. Sie hat hier in Amsterdam einen Knaben getroffen, der ihr in einer bedrängten Lage beistehen wollte, und sie hielt ihn für ihren Bruder ...«

Walther horchte auf. Ja, gewiß ... war da auch eine solche Ähnlichkeit? Hatte auch er vielleicht seine Abkunft von jenem geheimnisvollen gemeinschaftlichen Ursprung abzuleiten, von dem Prinzeß Erika und Prinz Erich und die Familie Holsma und Femkes Mutter abstammten? Gehörte auch er in jene Verwandtschaft? Richtig! und darum hatten sie auch immer von seinem mysteriösen Ritt auf dem Pferde geredet; das war also Prinz Erich gewesen, den er selbst hatte am Schlosse aufsteigen sehen. So, so ... hm, hm ... War er wirklich so eine Art Prinz?

Holsma lächelte, denn er erriet den Gedankengang.

»Sie glaubte, es wäre ihr Bruder, der sich verkleidet hätte, wie sie selbst ja auch Nationaltracht angelegt hatte. Prinz Erich aber wußte von nichts ... und da reizte es sie, einmal nachforschen zu lassen. So eine Prinzessin hat solche Nachforschungen leicht ... sie erfuhr bald, in wessen Gesellschaft jener Knabe im Theater gewesen war, als sie ihm die Rosenknospen zuwarf – und so kam sie auf uns. Sie besuchte uns dann inkognito, wie die vornehmen Leute das nennen, und sie wollte ... nun, da wir nichts von ihr brauchen konnten, machten wir sie auf Frau Claus aufmerksam und die gute Femke. Nun ist sie wieder unerkannt hier, sie hat ihr Gefolge in Wiesbaden oder Homburg, glaube ich, verlassen. Nur ihr Bruder Erich weiß es. Er war heut früh bei ihr, um Abschied zu nehmen. Das Hofleben ist ihm langweilig geworden, er will etwas thun. Das ist recht von ihm. Er tritt in unsere Marine, die politische Lage ist jetzt etwas verworren, zu einem Throne wird er wohl nicht kommen. Vielleicht wird er ein Seeheld. Die Prinzeß Erika möchte gern, daß Frau Claus sich zur Ruhe setzte, und auch für Femke will sie etwas thun. Die sträuben sich jedoch, sie meinen, wer sich sein Brot selbst schaffen kann, der soll keine Wohlthaten annehmen. Sie haben ja recht, aber anderseits sollen doch auch Verwandte einander beistehen ... auf der Liebe der Eltern zu den Kindern und umgekehrt beruht ja das ganze Menschengeschlecht, denn der Mensch wird hilflos geboren ... und ich denke, wir werden schon noch einen Weg finden, daß es sich irgendwie machen läßt. Die Prinzessin hat sich, mir nichts, dir nichts, bei Frau Claus einquartiert, und Femke haben wir inzwischen zu uns genommen. Du wirst sie ja sehen. Und du – aber sage es nicht weiter: es ist immer besser, wenn so etwas nicht erst an die große Glocke kommt ... wirst schon später einsehen, warum – wirst wohl auch auf irgend eine Art mit dazu gehören ... wir wissen es nicht, aber Onkel Sybrand interessiert sich, wie du weißt, für allerlei solche Zusammenhänge und forscht jetzt in den Kirchenbüchern nach. Vielleicht ist die Ähnlichkeit mit Erich aber auch bloß ganz zufällig. Nun, ein Mann muß seinen Weg allein gehen; und schließlich, alle Verwandte bis in die entferntesten Glieder unterstützen, das kann kein Mensch, auch keine Prinzessin – aber sie wird dir den Weg zeigen, auf dem du etwas Ordentliches werden kannst. Und mir scheint, daß du den Wink ganz gut befolgen könntest. Natürlich hängt es nachher von dir ab, ob der Liebe Mühe nicht vergebens ist.«

Diese Aufschlüsse gab der Doktor Holsma unserem Walther unterwegs und begleitete sie mit allerlei Ermahnungen in der einfachen, selbstverständlichen Art, die ihm eigen war. Und Walther that es beim Zuhören doppelt leid, daß er seinem Versprechen, den Doktor etwa vier bis fünf Wochen nach Eintritt in die Lehrzeit zu besuchen, nicht nachgekommen war. Dem Manne hätte er alles sagen dürfen ...


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