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Bald hatte er nach einigem Herumirren und Fragen eines der Thore Haarlems erreicht. Was er eigentlich da wollte, war ihm selbst nicht klar.
Als er Grünenhaus verließ, flüsterte die Verzweiflung ihm zu, mit der größten Eile seinem Leben ein Ende zu machen, und noch immer kam ihm dieser Vorsatz als der beste Ausweg vor. Erst aber wollte er doch versuchen, ob er sich nicht auf andere Weise von der Last, die ihn drückte, befreien könnte.
Es war Sonntag-Abend, und wenige Menschen zeigten sich auf der Straße. Auch waren die meisten Läden geschlossen. Hie und da nur wagte man den Tag des Herrn zu entheiligen durch das Ausstellen von allerlei Gebäck oder Tabak zum Rauchen und Schnupfen. Die Verkäufer dieser Artikel erfreuen sich eines großen Sonntagsumsatzes, und der Herr muß damit einverstanden sein.
Walther faßte Mut, lief in einen Kuchenbäckerladen und fragte, ob man ihm den Weg nach dem Judenwinkel zeigen wollte.
»Judenwinkel, junger Herr? Das haben wir hier, sozusagen, nicht. Sie sind sicher aus Amsterdam?«
»Kein Judenwinkel? Aber ... bei wem verkauft man denn hier seine alten Kleider? Das will ich wissen.«
Die Frau in dem Laden sah ihn befremdet an. Nachdem er einmal seine angeborene Scheu überwunden hatte, war Walthers Ton so kurz und gebieterisch, daß die Frau Furcht bekam. Sie rief nach hinten, und es erschien eine Mannsperson, die sie fragte, was los wäre, und Walther sehr unfreundlich anfuhr, was er haben wolle.
»Haben? Nichts, M'neer! Ich wollte nur wissen, wo man hier alte Kleider kauft?«
Die Kuchenbäckerfamilie jagte ihn zum Laden hinaus.
Zähneknirschend stand er wieder auf der Straße und wußte nicht, was er thun sollte.
Nach langem Suchen und vergeblichem Fragen traf er endlich ein kleines Mädchen an, das ihn dahin brachte, wo er wollte. Ein alter Jude antwortete ihm bejahend auf die Frage, ob er Händler in Kleidungsstücken wäre. Walther zog seine Jacke aus, warf sie auf den Ladentisch und fragte, was er dafür geben wolle. Das Kleidungsstück wurde befühlt, gerieben, daran gezogen, gegen das Licht gehalten, und das erste Gebot lautete: »Vier Gulden!«
»Sieben Gulden dreizehn!« rief Walther.
»Na, warum nicht lieber dreizehn Gulden sieben? Fünf Gulden und kein Deut mehr! Getragene Sachen sind nichts wert, denn sie werden gegenwärtig zu Schiff eingeführt von Amerika ... zu Schiff! Das wirst du ja wohl auch wissen. Na, fünf Gulden zehn, also!«
»Ich muß sieben Gulden dreizehn haben!«
»Was du haben mußt, wirst du gleich kriegen, wenn du nur einen findest, der dir's geben muß. Aber ich muß dir nichts geben, und ich geb' dir nichts. Nu, sechs Gulden! Zieh das Ding wieder an, sonst, und geh mit Gott!«
Als Walther in der That gehen wollte, stieg das Gebot auf sieben Gulden. Ach, diese schrecklichen dreizehn Stüber! Es war nichts zu machen, der Handelsmann blieb unerbittlich. Konnte man es ihm übelnehmen, bei solcher Einfuhr von alten Sachen aus Amerika? Es war schon sehr edel von ihm, daß er bei diesem Stand der Dinge sieben Gulden geben wollte für Walthers Jacke, die sonst – das ist wahr – ohne diese unglückliche amerikanische Konkurrenz gewiß ihre zwanzig Gulden wert gewesen wäre. Es war das erste Kleidungsstück, das für ihn gemacht war, und das an ihn kam, ohne erst zur Übung eine glänzende Laufbahn um seines Bruders Stoffels Lenden hinter sich zu haben. Es war ein Zeichen, daß man ihn jetzt auch einigermaßen für voll ansah, ein Ehrenkleid, ihm – und auch bloß für Sonntags – um die Schultern gelegt zur Feier seiner Beförderung zum jüngsten Bediensteten bei den Herren Ouwetyd und Kopperlith.
Aber an das alles dachte er nicht. Die gräßliche Hersilia, und dieser spottsüchtige Pompilius, und auch Julie, die ungetreue Dame, er wollte ihnen allen schon zeigen, daß er ... daß er ...
Er warf nun auch noch seinen Hut auf den Tisch und bot den zum Kauf an. Nach einigem Feilschen und Bieten war die Summe vollständig, mit der er der edlen Mevrouw Kalbb-Kopperlith eine feurige Kohle zu schlucken geben wollte. Ja, es war sogar noch etwas darüber, denn für den Hut hatte er drei Schillinge ausbedungen.
Der Jude fragte ihn, ob er nicht auch seine Stiefel verkaufen wollte, aber Walther lief, ohne zu antworten, in Hemdsärmeln und im bloßen Kopf auf die Straße.
Was nun? Selbst nach Grünenhaus zurückzukehren? Das niemals! Das schönste Blatt des Lorbeerkranzes, den er durch seine Beherztheit meinte verdient zu haben, würde ja verdorren, wenn man dort erführe, durch welche Mittel er es erreicht hatte, seine drückende Schuld abzuzahlen.
Lange lief er nachdenklich auf und nieder, wobei er die wenigst belebten Straßen wählte, denn er begann sich wegen seiner mangelhaften Bekleidung zu schämen.
Er wollte, daß die Entschädigung, mit der seine Feindin zerschmettert werden sollte, mit einem Briefe zusammen käme, einem Briefe, der Hand und Fuß haben sollte! Nichts besser als das, aber ... wo das Schriftstück schreiben? Wenn er in so einem Kuchenladen um Tinte, Feder und Papier bäte? Hm, leicht ging das nicht. Wie sollte man ihm so etwas zu Gefallen thun, ihm, der so abgetakelt aussah? Bon der Menschenfreundlichkeit der Haarlemer Bürgersleute hatte er schon eine Probe erlebt, als er noch aussah wie ein anderer Mensch. Sollte er jetzt auf besseres Entgegenkommen rechnen können, wo er sich in einem Kostüm zeigte ... sakkerlot, die Sache war schwierig!
Seine Aufregung war gewichen, und Überlegungen gewöhnlicherer Art nahmen den Platz ein. Seine Wut über die erlebte Mißachtung, selbst der Ärger über Julies Treulosigkeit mußte weichen vor dem Unbehagen, daß er keine Jacke anhatte. Wo er beim Dämmerlicht des Sommerabends einen Menschen nahen sah, dem er nicht ausweichen konnte, suchte er den eigenartigen Schritt jemandes anzunehmen, der gerade einmal über die Straße geht, um einem Nachbarn einen guten Abend zu wünschen. Aber es half nichts. Da kamen ein paar Straßenjungen und neckten ihn mit dem Rufe: »Ist Ihnen so warm, junger Herr?« Es war um rasend zu werden!
Indessen redete er sich ein, daß er noch immer nach einer Gelegenheit suchte, um das Staatsstück zu schreiben, welches das Geld begleiten sollte. Aber es war nur geistige Trägheit und Zwang, um nicht zuzugeben, daß sein Ärger die Richtung geändert hatte. Jede Mannsperson, die ihm begegnete und die gekleidet war wie ein gewöhnlicher Mensch, erfüllte ihn mit Neid.
So wollte er schreiben ... wenn er zum Schreiben kam:
»Wohledelgeborene Mevrouw!«
Gewiß, so adressierte ja auch der junge Leon die Briefe an seine Mama. So würde Wohl ungefähr auch der richtige Titel sein für Mevrouw Kalbb-Kopperlith. Er wollte ihr und der ganzen Familie zeigen, daß er wohl wüßte, was sich gehört, und daß die Manieren der »großen Welt« für ein Bürgerjungchen nicht unerreichbar waren. Also »Wohledelgeborene Mevrouw!« und dann weiter:
»Ich habe die Ehre, Euer Wohledelgeboren nebstbei die Summe von sieben Gulden und achtzehn Stübern zu einem neuen Sonnenschirm zu überreichen. Meine Ehre, Wohledelgeborene Mevrouw, läßt es nicht zu, Eure Wohledelgeboren unglücklich zu machen, und deshalb ...«
»Hast du deine Jack' um die Ecke gebracht?« fragten ihn hier nach der Melodie eines bekannten Gassenhauers ein paar Dienstmädchen, die von ihrem Ausgeh-Sonntagnachmittag so viel Vergnügen haben wollten, als nur einigermaßen davon zu haben war.
Walther wich schleunigst von dannen und vermied möglichst die weniger dunklen Stellen. Seine Gedanken kehrten zu ihrem Ausgangspunkte, diesem famosen Brief, zurück:
»Eure Wohledelgeboren werden bemerken, daß fünf Stüber darüber sind. Diese schenke ich Eurer Wohledelgeboren als ein Zeichen von ... von ...«
Er schwankte zwischen »Milde« und »Guade.« Ein Truppchen Amsterdamer, die kneipen gewesen und daher in der richtigen Stimmung waren, faßten ihn ins Auge. Walther schlug sich tapfer durch, aber er fühlte sich sehr verdrossen. Man sieht, die Heldenthat, die er sich vorgenommen hatte, wurde ihm recht schwer gemacht.
Fortwährend murmelte er vor sich hin: »Ich will 'n Brief schreiben, ich will! Wenn ich nur wüßte, wo!« Und er betrachtete ein Haus nach dem anderen, ob ihm vielleicht eines zum Comptoir würde dienen können? Ja, er ging sogar manchmal in einen Laden, aber er erreichte sein Ziel nicht. Sein sonderbares Aussehen und die Furchtsamkeit, mit der er sein Anliegen vorbrachte, schreckte die Leute ab. »Wenn ich in Gottes Namen 'ne Jacke anhätte!« seufzte er.
Endlich – welcher böse Geist spielte ihm diesen Possen? – endlich stand er auf einmal wieder vor dem Hause, wo der Jude wohnte, der ihn so gütig von seiner Jacke befreit hatte. Walther trat instinktmäßig ein.
»Ins Himmels Namen,« dachte er, »wenn ich nur erst wieder anständig angezogen bin, daß ich mich sehen lassen kann! O Gott, was ist ein Mensch, der keine Jacke auf dem Leibe hat!«
Der Jude blickte erstaunt, als sein Kunde von soeben die verramschten Kleidungsstücke zurückverlangte.
Er hätte sie eben nach New York geschickt, sagte er, da würden alte Kleider gegenwärtig mit Gold aufgewogen.
»Aber eben sagten Sie noch ...«
»Eben ist vorbei, und was gewesen ist, ist nicht! Ich sage dir, alte Kleider sind ihr Geld wert! Viel Ausfuhr nach Amerika gegenwärtig! Da steckt's! Aber ich will dir gern 'ne Jacke verkaufen und 'n Hut auch. Schöne Ware, guck!«
Nach einem ärgerlichen Geschacher verließ Walther den Laden wieder, mit einer Jacke an und einem Hut auf – aber was für eine Jacke und was für ein Hut! Die Kleidungsstücke, die er eine Stunde vorher in seiner Aufregung abgegeben hatte, waren fürstlich dagegen. Und trotzdem mußte er für den neuen Plunder all sein Geld dalassen, das er besaß, sogar auch die vier Stüber, die ihm Mynheer Wilkens im Auftrage des großmütigen Pompilius ausbezahlt hatte, für seine Rückreise nach Amsterdam, und die auf »Haushalt« gebucht werden sollten.
»Wenn du wieder was zu handeln hast,« sagte der Jude, »komm ruhig zu mir!«
Und er gab Walther eine Adreßkarte, die dieser mechanisch in die Tasche steckte. Auf der Straße angekommen – nun war er ja angezogen, o ihr Götter! – ertappte er sich auf einer vollständig überflüssigen Wiederholung von Briefplänen: »Wohledelgeborene Mevrouw! Beifolgend habe ich die Ehre, Euer Wohledelgeboren zu überreichen ...«
Überreichen? was?
Er schlug sich vor den Kopf und erkannte zum hundertstenmal ... wie sagte doch seine Mutter immer? »Herrejesses, dieser Junge! Von dem kommt doch aber auch nie etwas Gescheites!«