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Walther sinkt immer tiefer und gerät schließlich hinter »Papas Britschka«. Eine schöne Abhandlung über Billeggiaturen.

Donnerstag war es gewesen und Freitag geworden, und Walther wurde, als er aufs Comptoir kam, mit der Einladung überrascht, sich am Sonntag auf Grünenhaus zu erlustieren. Der junge Herr Pompilius ließ sich in höchsteigener Person herab, ihm diese gnädige Bestimmung mitzuteilen, nicht ohne Wilkens einen Wink zu geben, daß die zehn Stüber, die man dem Eingeladenen für die Reisekosten auszahlen sollte, sehr gut auf Haushaltsconto gebucht werden konnten.

»Nicht wahr, Eugen? Sag' du selbst mal, ob solche Ausgaben das Geschäft angehen ... was man nennt: das Geschäft!«

»Hm!«

»Nicht wahr? Und was sagen Sie, Dieper?«

»Gewiß, junger Herr. Ich finde, solche Ausgaben ... denn, wissen Sie, es sind ja Kleinigkeiten, nicht wahr?«

»Ganz richtig. Und deshalb sag' ich immer ... aber, da fällt mir noch was Besseres ein. Sag' mal, Eugen, weißt du nicht, ob Kalbb und Hersilie die Absicht haben, nach Grünenhaus zu kommen? Und ob sie sich Papas Britschka ausgebeten haben ... mit Mietspferden, weißt du? Denn siehst du, da könnte Pieterse ganz gut mitfahren. Weißt du, was du thust, Pieterse? Du mußt die Güte haben und eben mal zu Mynheer Kalbb gehen, und du machst 'ne Empfehlung von mir – von M'neer Pompilius, mußt du sagen – und fragen, ob M'neer Kalbb ...«

»Kalbb ist nicht zu Hause,« brummte Eugen.

»So? Na also, Pieterse, dann mußt du so gut sein, nach M'neer Kalbbs Hause zu gehen ... und ... du klingelst, verstehst du? Und du machst 'ne Empfehlung von mir, von M'neer Pompilius, und du sagst – dem Mädchen, weißt du, das dir aufmacht – daß du Sonntag nach ... draußen kommen könntest ... draußen, auf Grünenhaus, brauchst du bloß zu sagen – und daß ich fragen lasse, ob Mevrouw Kalbb und Mynheer Kalbb und der junge Herr Bonifaz – denn Ludwig Bonifaz, so heißt das Söhnchen von meiner Schwester, Mevrouw Kalbb-Kopperlith, verstehst du? – also, du sagst, daß ich fragen lasse, ob die Familie vielleicht die Absicht hat, mit Papas Britschka – mit der Britschka von M'neer Kopperlith, mußt du sagen – mit Mietspferden ...«

»Hm,« brummte Eugen.

»Ja, ganz recht ... von Mietspferden brauchst du nichts zu sagen. Das wissen sie wohl allein ... was meinst du, Eugen? Nun dann fragst du also, ob M'neer Kalbb und die Mevrouw Kalb und der junge Herr Bonifaz herauskommen? Und wie spät? Und ob du mitfahren dürftest? Aber ... bitte, mußt du sagen ... nicht, Eugen?«

»Hm!«

»Ganz recht, Bitte, sagst du, und du mußt vor allem 'ne Empfehlung von mir machen. Sag' mal, Eugen, findest du's nicht 'n bißchen indiskret von Kalbb, so immer mit der Britschka von Papa ...«

Ehe Walther noch Eugens Ansicht über diese tiefsinnige Frage erfuhr, war er schon unterwegs nach dem Hause Kalbb.

Er machte seine Bestellung mit den vorgeschriebenen Empfehlungen und »Bitte«, und bekam zur Antwort, daß Mevrouw Kalbb und Mynheer Kalbb und der junge Herr Bonifaz so zwischen neun und zwölf Uhr durch das Haarlemer Thor fahren würden. »Wenn dann Pieterse mitwollte,« ließ die edle Hersilia Walther durch das Mädchen auf den Hausflur hinaussagen, »sollte er nur Sonntag zur Zeit da sein, und man würde ihm ein Plätzchen einräumen. Aber ... unbequem wäre es doch, denn der junge Herr Bonifaz hatte sich vorgenommen, sein Schaukelpferd mitzunehmen, und das nahm etwas Platz weg.«

Walther hatte den Mut nicht, Mynheer Pompilius vorzuschlagen, daß er den Weg nach Haarlem ja zu Fuß machen könne, wenn auch die Art und Weise, wie er mitgenommen werden sollte, ihm eine Kränkung bereitete.

Und als er zu Hause bemerkte, wie seine Mutter von der Ehre eingenommen war, die in seiner Person der ganzen Familie angethan wurde, meinte er wieder, daß er sich in dem Eindruck geirrt hatte, den Mevrouw Kalbbs Plumpheit auf ihn gemacht hatte.

»Ach, in 'ner Britschka! Das ist ganz gewiß 'ne Kutsche, Trude, 'ne Staatskutsche, denke ich! Und darin soll Walther fahren wie 'n Bannerherr, den ganzen Weg von hier nach Haarlem, und das soll die ganze Welt zu sehen bekommen ...«

»Mit 'm Schaukelpferd. Mutter!«

»Na ja, mit 'm Schaukelpferd ... was macht das! Denkst du, daß jemand davon was erfährt! Was sagst du, Stoffel? Und dann, wer läuft denn auf dem Haarlemer Weg? Kein Mensch! Keine lebende Seele! Kein Mensch wird wissen, daß du mit 'm Schaukelpferd in der ... Kutsche sitzest. Weißt du, was ich in deiner Stelle thäte? Ich nähm's zwischen die Knie ...«

»Ach, Mutter!«

»Nun gewiß! Und du legst 'n Taschentuch auf deinen Schoß, dann kräht kein Hahn danach. Du bist 'n unzufriedener Junge. Sieh mal alle die armen Kinder, die Gott danken würden auf ihren bloßen Füßen ... ja das thäten sie, wenn sie auch mal so nach außerhalb fahren könnten, nach einer wirklichen Villa!«

»Drei Stunden an dem Haarlemer Thor warten!«

»Ja, was soll das? Meinst du, daß so 'n Herr wie M'neer Kalbb sich deinetwegen beeilen soll? Und die Mevrouw von dem M'neer? Und der junge Herr ... wie heißt er?«

»Bonifaz, Mutter.«

»So 'n junger Herr kann doch nicht, um dir 'n Gefallen zu thun ... weißt du, was du bist, Walther? Du bist 'n rechter Isegrimm. Wenn das dein Vater erlebt hätte, der so sauer um sein Brot arbeiten mußte ...«

Am Sonntag-Morgen stand Walther auf seinem Posten. Es war noch nicht ganz Mittag, als die Familie Kalbb in der Britschka von Papa auf der Bildfläche erschien.

In dem Zeltwagen war in der That kein Platz mehr, und Walther wurde aufgefordert, sich mit dem Raum zu behelfen, der durch eine Menge von Paketen und Päckchen im Hinterkasten noch übrig gelassen wurde. Sehr stolz war er nicht, als er merkte, daß seine Einschiffung das Interesse des Accismannes am Thor und eines halben Dutzends Straßenjungen auf sich zog, die aus Armut an Unterhaltung in dem Stillehalten eines Wagens ein Ereignis sahen.

Ach, er hätte so gerne sich selbst zwischen die Knie genommen ... und ein Taschentuch drüber! Er schöpfte Atem, als der Haarlemer Weg erreicht war.

So, ganz verlassen von Menschen und lebenden Seelen, wie es Jüffrau Pieterse gemacht hatte, war dieser Weg nun zwar nicht, aber allzu viel Personen bekamen nicht Gelegenheit zu bemerken, wie gedrückt unser Walther zwischen all dem Gepäck dasaß. Das war ein anderer Zug als der stolze Ritt, von dem Frau Claus ... damals geträumt hatte. Er schloß die Augen und bemühte sich, in den Stößen des Wagens den Rhythmus seines Räuberliedes zu finden, das er als Junge unter dem frischen Eindruck von Gloriosos Heldenthaten verfaßt hatte: »Mit dem Schwert ... hopp hopp hopp ...«

Mevrouw Hersitlia Kalbb-Kopperlith aber ersparte ihm die Fortsetzung seiner vergeblichen Versuche, indem sie ihn ermahnte:

»Sag' mal, Pieterse ... oder wie du heißt, du sitzt doch wohl nicht auf der Tüte mit Honigkuchen? Und halt doch den Korb ein wenig fest! Das Ding scheuert so gegen meine Hutschachtel.«

Walther that, was ihm aufgetragen war. Korb, Honigkuchen und Hutschachtel kamen unversehrt auf Grünenhaus an.

Sollte unter meinen Lesern ein einziger sein, der keine Villa hat, so habe ich ihm eine sehr angenehme Zeitung mitzuteilen: die Villen sterben aus! Diese »Buiten«, wie sie in Holland sagen, die man zum sommerlichen Aufenthalt und noch mehr als Zeichen einer gewissen Wohlhabenheit unterhält, haben ihre Blütezeit überstiegen, Der grundlegende Unterschied zwischen denen, die sich eines solchen Dinges erfreuen, und den armen Schelmen, denen dieser Genuß versagt ist, wird bald der alten Geschichte angehören. Wir danken diese Gleichmacherei dem Dampf.

Aber schon vor den Eisenbahnen bestimmte die Einrichtung der Transportmittel die Entfernung, in der man das Glück, oder in Ermangelung dessen, etwas Erholung suchte. Und auch, wo dies Ziel nicht erreicht wurde, konnte doch der Abstand, in dem man es zu suchen vorgab, als Index der Distinktion gelten, die bei vielen für Menschenwürde angesehen wird.

Es spricht von selbst, daß ich vornehmlich an Amsterdamer denke oder doch wenigstens an Bewohner großer Städte, denn was die Einwohner ländlicher Provinzstädte sich einredeten, um nach »draußen« zu gehen, verstehe ich nicht. Vielleicht auch die bekannte Jagd nach Distinktion. Vielleicht verlebten sie auch ihre Sauregurkenzeit in der Hauptstadt. Vielleicht galt das bei ihnen für vornehm.

Beschranken wir uns auf Amsterdam.

Der erste Besitzer eines »Außenplatzes« war ein glücklicher Rentner, oder jemand, der in der Schummerstunde und Sonntags rentnerte, indem er auf der Bank seiner Vortreppe in Hemdsärmeln eine Pfeife rauchte. Diese Art von »Draußensein« ist noch immer bei der sogenannten niederen Klasse in hohen Ehren. Ein weißes Hemd gilt immer noch, im Gegensatz zum Arbeitskleid, als Festgewand. Und auch vor den Häusern der Vornehmeren finden wir immer noch die Bank auf der Vortreppe. Aber sie wird nicht von dem Hausherrn und den Hausgenossen benutzt, sondern dient lediglich als Ruheplatz für Schlächter- und Backerjungen, die nach dem Klingeln ein bißchen lange warten müssen, weil das Dienstmädchen keine Zeit hat.

Der Übergang von der Villeggiatur auf den Treppenbänken zu dem Mieten eines Gärtchens am Buitencingel hat eine Bedeutung, die wohl klar ist, aber Folgen, die manchem entgangen sind. Die Ursache liegt natürlich in zunehmender Wohlfahrt und in der bekannten Sucht nach Unterscheidung der Stände, Selbstverständlich steht der Besitzer oder Mieter eines Stückchens Boden mit einem Dache drüber höher als der Mann, der sein »Ruhe nach Arbeit«, sein »Sorgenfrei«, sein »Nie gedacht« vor dem Giebel seines Hauses sucht. Auch liegt es in den Sitten, daß man auf diesen allmählich mit geringerer Achtung herniedersah, woher noch jetzt der Tadel der Unanständigkeit für den Entarteten übrig geblieben ist, der sich in Hemdsärmeln mit der Pfeife im Munde an die Hausthür stellt. Es ist wie mit den Rudimenten in der Zoologie ... aber Emporkömmlinge hören von so etwas nicht gern sprechen.

Ihr erster Urvater Adam war natürlich von altem Adel, und die Ahnen der Kopperliths hatten niemals auf ihrer Vortreppe gesessen. Das hätten sie stocksteif behauptet, wenn einer unbescheiden genug gewesen wäre, in ihrer Gegenwart eine so zarte Frage anzuschneiden. Und wenn man etwa auf die verräterischen Bänke verwies ... die waren natürlich für die Schlächter- und Bäckerjungen hingebaut.

Ich behauptete, daß die Folgen des Übergangs zu wirklichen Gärten nicht überall richtig eingeschätzt würden. Sie waren wichtig, weil sie dem Verhältnis der »Nachbarschaft« den Todesstreich versetzten, und das war ein sehr wichtiges Element für das Volksleben. Während der Abend- und Sonntagsitzungen machte man Bekanntschaft. Man besprach die Angelegenheiten von Stadt und Land, und hieraus entstand »Volksgeist«, oder wenigstens die Anzahl von Bruchstücken und Richtungen, aus denen dieses Ding sich bildete. Noch heute findet man unter den Bewohnern derselben Gegend, sofern sie in bescheidenen Verhältnissen leben, einen gewissen Anschluß, eine Gleichförmigkeit der Ideen, die den Höhergestellten ganz abgeht. Man hört wohl noch mit einem gewissen Stolz sagen: »ich bin ein Junge vom Fransche Pad,« während der Bewohner der Kaisersgracht seine Vornehmheit damit beweist, daß er nicht weiß, wer neben ihm wohnt. Als seine »Nachbarn« erkennt er – oder so war es wenigstens vor vierzig, fünfzig Jahren – die an, deren Villa, deren »Buiten« neben dem seinen liegt, wenn man sich auch da nicht mit übertriebener Vertraulichkeit abgiebt. Der Anschluß geschieht jetzt auf ganz anderem Boden: man ist Nachbar in Politischer oder socialer Richtung, Nachbar in Gott, im Glauben, auf der Börse.


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