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Und noch immer spionierte die häßliche dicke Dame durch das Fenster des seitlichen Zimmers. Es kam Walther vor, als ob sie etwas, was ihn betraf, irgend jemand mitteilte, der in ihrer Gesellschaft war. Ein Herr von weniger als mittleren Jahren beugte sich jetzt über sie weg nach dem Fenster hin und winkte Walther mit nicht sehr freundlicher Miene zu, die Treppe zu verlassen und unten zu klingeln.
Sehr artig nahm Walther seinen Hut ab und schob sich barhäuptig, etwas gebückt, an dem drohenden Fenster vorbei, die Treppe herunter. Wahrhaftig, unten bei der doppelten Glasthür war auch eine Klingel und da las er das Wort »Magazin«. Hier werde ich wohl hingehören, dachte Walther. Magazin und Comptoir wird wohl dasselbe sein. Und er schellte.
Die Person, welche die Obliegenheit hatte, sich um diese Klingel zu kümmern, hätte gleichfalls für einen Kurator oder Superintendenten des Respekts gelten können. Sie gab Walther viel Zeit zum Nachdenken, besonders über das Thema, wie schwer es doch sei, im Hause Kopperlith Eingang zu finden. Es ist zu bezweifeln, ob unser angehender Handelsritter von dieser Gelegenheit, sein Denkvermögen zu entwickeln, gehörigen Gebrauch machte.
Außerdem wurde er gestört. Jemand tickte – und nach dem Klang zu urteilen, etwas ärgerlich – gegen das Fenster jenes Seitenzimmers. Walther trat einen Schritt zurück und sah hinauf. Der Herr von soeben bedeutete ihm mit heftigen Bewegungen, daß er noch einmal klingeln sollte, und etwas kräftiger. Walther bedankte sich durch Abnehmen seines Hutes – hatte nicht seine Mutter ihm vor allem Lebensart anempfohlen? – und wagte nun einen kräftigen Zug, auf den aber immer noch kein Offnen der Thür erfolgte. Der Cerberus des »Magazins« hatte augenscheinlich eine sehr hohe Vorstellung von dem Respekt, den die Herren Ouwetyd und Kopperlith nötig hatten. Der Mann übertrieb seinen Eifer.
Das begann sogar der Herr in jenem Seitenzimmer einzusehen, der wieder ans Fenster klopfte und winkte »noch einmal, Donnerwetter!« mit einer Miene, als ob Walther dafür konnte, daß keiner kam, Walther fühlte sehr deutlich, daß der wahre Anstand jetzt von ihm verlangte, sich zu entschuldigen, daß man ihn so lange warten ließ.
Inzwischen schielte er durch die Glasthür und warf neugierige Blicke in das »Magazin«.
Einigermaßen in Abweichung von den geometrischen Grundregeln, erfreute sich dieser Raum der Eigenschaften: Lange, Breite und ... Tiefe. Die Breite war mit der des Hauses gleich. Die Länge war an der Vorderseite begrenzt durch die schon bekannten Glasthüren, die in ihrem Bestreben, etwas Licht durchzulassen, durch ein schiefes Eckfenster unterstützt wurden, das seine Hypotenuse mit der Treppe gemeinsam hatte, und außerdem durch noch ein Fenster, das an der vorderen Seite der Treppe auf die Straße ging. Das Winkelchen, das durch dies kleine Fenster sein Licht erhielt, hieß das »Comptoirchen« im Gegensatz zum Comptoir, das wir später zu sehen bekommen. Was übrigens die »Tiefe« des Magazins angeht, so gründet sich diese Bezeichnung sowohl auf die geringe Ausdehnung als auf den »Pegel« des Fußbodens. Ein erwachsener Mensch konnte mit seiner Hand an die Decke reichen, und der Fußboden lag so etwa drei Fuß unter dem Bürgersteig. Er erhob sich nicht mehr über die Gräben, die in die Gracht mündeten, als gerade für die Bewohner nötig war, um nicht mit dem Schmutz mitgespült zu werden. Was die Versorgung mit Licht betrifft, so begreift man, daß diese nicht durch das wenige Glaswerk an der Vorderfront allein beschafft werden konnte. Ungefähr auf ein Drittel der Länge hörte das hineinschleichende Licht auf. Wer aber scharf von Gesicht war und guten Willen hatte, konnte bemerken, wenn er sich durch die Finsternis in der Mitte hindurchgebohrt hatte, daß der Baumeister sich bestrebt hatte, auch an der Hinterfront irgend etwas anzubringen, was nach Verminderung der Dunkelheit aussah. Da war nämlich durch freundliche Vermittlung eines über der Decke gelegenen Raumes etwas zu sehen, was man nicht absolut schwarz nennen konnte. Wie diese Fenstersorte hieß, die das Wunder zu Werke brachte, weiß ich nicht. Eine Laterne, oder ein Guckloch, oder so etwas. Es liegt immer etwas Armseliges in solchen Kunststücken der Baumeister; sie zeugen von Beschränktheit.
Soweit Walthers Blicke in das Magazin eindringen konnten, bemerkte er, daß der Mittelraum der Länge nach von einem breiten Gestell eingenommen wurde, auf dem Stapel von Leinewand lagen. Auch rechts und links längs der Wände waren solche Handelsgüter aufgestapelt, sodaß gerade ein knapper Durchgang an beiden Seiten der langen Tafel übrig blieb. Bloß am vorderen Ende, zwischen dem Comptoirchen und der Glasthür, war einiger Platz geblieben; dort stand ein Möbel auf Böcken, das er später als die »Packtafel« schätzen lernte.
Wahrhaftig! Es begann Aussicht zu werden, daß die Thür endlich doch geöffnet werden sollte.
Daß Walther in einem der Gänge hätte jemand kommen sehen, wäre wohl zu viel behauptet. Nein, Walther sah nichts in dem Dunkel, aber es kam ihm so vor, als ob die Finsternis selbst anfing sich zu bewegen. Etwas Schwarzes schob über den schwarzen Hintergrund. Und dieses Schwarze wurde – ohne Übereilung – etwas brauner und dann mehr grau und dann heller ... wahrhaftig, es nahte ein menschlich Wesen.
Ganz natürlich. Gerrit Sloos kam, die Thür zu öffnen, und er war schon beinahe an der Packtafel. Noch eine Sekunde, und die Zugbrücke dieses verzauberten Schlosses sollte fallen.
Lag darin etwas Wunderbares? Für dich und mich, Leser nichts, aber Walther war schon so nahe dran, zu versteinern oder in seiner Wartestimmung am Erdboden anzuwachsen – alle Verwunderung über die Schwierigkeit, in das Heiligtum einzudringen, war so vollkommen gewichen, daß er nun, als die Thür wirklich aufgethan ward, sich der Verwunderung über das Unerwartete nicht enthalten konnte. Es fehlte wenig und er hatte Gerrit Sloos gefragt, ob er sich nicht irrte!
Statt dessen nahm er – das wievielste Mal schon? – sein Hütchen ab, und Gerrit sah ihn fragend an.
Walther stotterte etwas vor sich hin.
»Bist du Walther Pieterse, der junge Herr, der hier aufs Comptoir kommen soll?«
»Ja...a..a. M'neer.«
»Sooo! Du brauchst nicht M'neer zu mir zu sagen. Ich bin Gerrit ... Gerrit Sloos, verstehste. Eigentlich heiß ich Schloßmann, aber ...na, was hat Mensch von den deutschen Moffereien, wie? Darum sag' ich einfach Sloos, und so schreib' ich auch, denn ... ich bin der Knecht, verstehste, der Comptoirknecht. Na, komm mal rein.«
Walther stapfte die drei Stufen hinunter, die den Zugang zu dieser Höhle vermittelten. Seine erste Bewegung, als er neben der Packtafel stand, war ein unwillkürlicher Griff nach seiner Nase. Denn ... der Gestank war unerträglich.
»Ach nee,« sagte Gerrit, als antwortete er auf diese sprechende Gebärde. »Der Geruch ist nicht vom Magazin – ich sag' bloß Keller, verstehste, denn so sagten wir früher auch, wie der Alte noch mitthat – die Luft ist nicht vom Keller, die ist von den Kanälen, verstehste.«
So tröstet eine edle Seele ihren Leidensgenossen.
»Ach so!« sagte Walther, als ob diese Erklärung den Pestgeruch in Balsam verwandelte. »Ach so!«
»Ja, von den Kanälen. Darum steht auch die Ware da gegen die Wand auf Planken, verstehste. Wenn's auf den Fußboden käme, thät's faulen. Komm mit nach'm Comptoir. Aber du kommst viel zu früh. Wir sind in der Saurengurkenzeit. Da ist nicht viel zu thun, verstehste wohl! Aber hör', du mußt nicht vorn bimmeln, am Keller – die jungen Herren sagen jetzt Magazin ... französischer Wind allemal, englische Notting, verstehste ... Na, sie haben's von dem verdrehten Wüllekes – du mußt ins Comptoir reingehen in der Vellestraat. Ich werd's dir zeigen. Heute kommt's nicht drauf an, weil's erste Mal ist, und weil du's nicht weißt. Du siehst, ich hab' dir ja auch aufgemacht ...«
Gott sei Dank!
»Aber sonst, verstehste, wer aufs Comptoir gehört, kommt hinein durch die Vellestraat. Ist ganz leicht zu finden ... wenn du's erst mal weißt. Und darum werd' ich dir's zeigen. Komm man mit. Aber setz' dein Hütchen auf. Brauchst zu mir nicht so höflich zu sein, denn ich bin bloß der Knecht, verstehste. Die Herren kommen nachher, so gegen neune. Ist Sauregurkenzeit, mußt du denken. Und darum hast du auch so lange warten müssen, ehe ich dir aufmachte. Denn ich saß in der Küche, und ich sagte zu dem Mädchen, daß sie aufmachen sollte – es wäre sicher der neue Müllkastenmann, der noch nicht wüßte, wo er bimmeln müßte. Aber sie wollte nicht – ist 'n faules Tier – und ich sagte: ›'s geht mich nichts an, denn wir sind in der Saurengurkenzeit, und da bimmelt so früh keiner am Keller, wer die Sache kennt.‹ Wirst's ja wohl selber sehen, wenn du 'n Weilchen hier bist. Weißt du, wie lange ich schon hier bin?«
Walther klagte sich einer Pflichtvergessenheit an. Wie konnte er sich unterstehen, nicht zu wissen, wie lange Gerrit Sloos schon bei Ouwetyd und Kupperlith in Dienst war? Der Übelthäter stammelte voller Schuldbewußtsein, er wüßte es nicht.
»Na, rate mal!«
Jeder andere hätte nun eine Zahl genannt. Walther aber war zu pflichtgetreu, zu gewissenhaft, um irgend einer Zahl den Vorrang vor den anderen zu geben. Warum zwanzig? Warum dreißig? Warum mehr oder weniger? Er blieb dabei, er wüßte es wirklich nicht, und er hätte auch keine Hoffnung, es zu raten.
»So? Na, da will ich dir's sagen. Vorige Pfingsten war's dreiundvierzig Jahre. Was sagste nun?«
»He!«
»Ja, 's ist 'ne lange Zeit, wie? Wenn du davor stehst, denkst du, 's ist was. Und wenn's vorbei ist – weißt du, was es dann ist? Gar nichts ... 'n englisch Notting! Das wirst du erst sehen, wenn du 'n alter Kerl bist, denn nun bist du bloß 'n jung Bürschchen. Soll mich Wundern, wie du's mit Wüllekes finden wirst – mit M'neer Wüllekes. Zu dem mußt du nämlich M'neer sagen, obschon ich 'n gekannt hab' – da war er kahl wie 'ne Laus. Da hatte er nicht so viel, daß er – mit Verlaub – sich die Nase schnauben konnte, und er lief mir nach, wie die Uhr von 'm Treckschiffer, die 'ne alte Jungfer kommen sieht. Aber nun ... Wind, allemal Wind! Und was ist's? Englisch Notting! Und seine Frau – 'n Schaf von der obersten Sorte – schwatzt immer von Prinzessinnen, die sie mal gesehn hat. Nee, der Wüllekes – wer 'n kennt, kauft 'n nicht. Na, wirst ja selbst sehen, wirst 'n ja kennen lernen, wenn du lange genug lebst. Jeder muß sein' eigen' Weg gehn, und das thu ich auch. Aber dieser Wüllekes ... Guck, hier ist's. Zwischen den Öltonnen da mußt du durch – 's ist hier immer was schmierig, das kommt, weil die Fässer lecken, denn sie lecken immer – aber erst mußt du durch die Stockfischschlagerei, und wenn du das thust, dann kommst du ganz von selber aufs Comptoir.«
Wenn Gerrit Sloos mit diesem »von selber« meinte: leicht, bequem, ohne Umstände, oder was man so sagen könnte: auf 'ne nicht unüble Manier – – nun, es sei: über den Geschmack ist ja nicht zu streiten. Er wird es wohl nur so gesagt haben.
Während Walther allen diesen Mitteilungen aufmerksam zuhörte, hatte er den halb unterirdischen Gang zurückgelegt, der von der Kaisersgracht nach der Querstraße führte, in der man den Eingang zum Comptoir von Ouwetyd und Kopperlith zu suchen hatte.
Er prägte die Stockfischschlagerei und den Gang neben dem Öltonnenlager fest in sein Gedächtnis, um sicher zu sein, nie wieder den Spießruten ausgeliefert zu werden, die ihn an der Vorderseite des Hauses heute so gepeinigt hatten.
Daß die erhabene Stockfisch-Industrie und das Öltonnenlager mit dem Geschäft, in dem Walther Lehrling oder wie sie damals in Amsterdam sagten »Jongste-Bedient« wurde, nichts zu thun hatten, wird der Leser sich wohl selbst denken. Auf dem Grundstück lag ein »Servitut,« die Verpflichtung, den Durchgang zu gestatten, und der Stockfischschlager mußte leiden, daß auf dem Thürpfosten seines Lokals ein ovales Schildchen prangte mit der Aufschrift:
Auch der Ölhändler durfte den Durchgang nicht sperren. Aber er faßte seine Verpflichtung so genau auf, daß man gewöhnlich nicht hindurch konnte, ohne ein paar Ölflecke mitzunehmen.
Jüffrau Pieterse hat oftmals darüber gebrummt, und Walther fand es selber sehr unangenehm. Aber – hatte er sich denn vorgestellt, mit der Welt in Berührung kommen zu können ohne Besudelung?
Bester Junge, das geht nicht!