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Ich fragte den Leser, ob er wohl schon einmal in seiner Eigenschaft als protestantischer Jüngling Besuche bei einem katholischen Pastor abgestattet hätte? Kann er sich den Eindruck, den das macht, wohl vorstellen? Im Kreise der Familie Pieterse schauderte man bei so einem Gedanken, aber es wird eine Zeit kommen, da es einem Schriftsteller schwer fallen wird, seinen Lesern klar zu machen, woher diese Abneigung kommt.
Auch Walther verstand nicht recht, welche Gefühle ihn beherrschten, aber sicher ist, daß er eine gewisse Beklommenheit fühlte, als Jansen vor dem unansehnlichen Häuschen stillstand, wo seine Kirche war, wie er sagte.
»Und hier ist der Eingang zu meiner Wohnung,« fügte er bei, indem er eine Thür öffnete, die den Zugang zu einem langen schmalen Gang neben dem Hauptgebäude abschloß, »Oder möchtest du nun nicht erst nach dem Kolveniersburgwall gehen?«
Mit einem Blick auf seine Kleidung flehte Walther um Gnade.
»Lieber, wenn wir von Haarlem zurückkommen, M'neer! Wahrhaftig, dann will ich sofort gehen, aber jetzt ...«
»Was meinst du, ob wohl 'ne Jacke von mir ...«
»Nein, nein, o nein,« rief Walther schnell. »Das wird nicht gehen!«
Das fehlte auch gerade noch an dem merkwürdigen Zustande, in dem er sich jetzt befand, daß er die Holsmas in einer Jacke des Pastors besuchen ging!
»Nun, dann warte nur hier, bis ich das Geld eingewechselt habe, und dann zusammen auf die Reise! Ich thu's gern, denn ich bin lange nicht in Haarlem gewesen. Magst du die Haarlemer Halletjes gern?«
Der gute Mann führte Walther in seine Wohnung, die aus ein paar Zimmern bestand, welche durch einen finsteren Hof von der Rückseite der Kirche geschieden waren.
»Sieh einmal!« sagte er, »wie nett ich hier wohne! Glaubst du wohl, daß ich nicht mit einem Bischof tauschte? Und bequem ... nirgends ist's so! Hier empfange ich manchmal ansehnliche Menschen – kürzlich noch 'n Advokaten – und sie sind alle neidisch auf meine Wohnung ... und auf die Bequemlichkeit, siehst du. Denn wenn ich 's Morgens aufstehe vor dem Frühdienst – ja ja, manchmal ist's noch Nacht – sieh, so bin ich wach, und wip – in die Kirche! Neulich – aber sprich nicht drüber – fand unsere Stine ... da ist sie gerade. Na, Stine, ich gehe nach Haarlem mit diesem jungen Herrn? Was sagst du dazu?«
Stine sagte bloß: »Ach, Pater!« und es war genug.
Wenigstens bestand er nicht weiter auf Antwort, und fuhr zu Walther fort:
»Sie bedient mich nun schon über dreißig Jahre, mich und Pastor Kuns, der seine Zimmer hier neben hat ... ein bedeutender Mann! Den müßtest du kennen lernen! Der versteht griechisch, als ob's gar nichts wäre! Du gewiß nicht, wie? Na, 's macht nichts. Aber neulich ... was wollte ich doch sagen?«
»'s war etwas von Stine, M'neer, und daß die Kirche so nahe wäre.«
»'s ist komisch, daß der Mensch manchmal nicht mehr weiß, was er erzählen wollte. Ja, die Kirche ist gleich dabei, und wenn ich 's Morgens aufstehe, ... sieh, jetzt weiß ich, was es war. Ich hatte von Bücht und der Kirmeß geträumt, und wurde ein bißchen spät wach, und sprang aus'm Bett, und beeilte mich mit Anziehen, und was thu ich? – aber ich wußt's nicht, das begreifst du wohl – ich vergaß einen von meinen Strümpfen anzuziehen, einen von meinen schwarzen Überstrümpfen. Aber Stine sah es, denn sie fand ihn, und sie lief mir damit nach, und sie rief: Pater, Pater! und ich wußt' nicht, was sie wollte, aber da hielt sie den Strumpf hoch, und da wußt' ich's. Aber ich hab' nicht gelacht – weil ich in der Kirche war, und du begreifst ... das ist 'n Haus Gottes – und ich bin schnell zurückgelaufen, und dann platzte ich heraus, und die Stine auch. Aber in der Kirche hat's keiner gesehen, denn 's war dunkel, und ... 's war auch kein Mensch da.«
Diese einfache Erzählung stach wieder sehr ab von Walthers hochtrabenden Begriffen von göttlichen Dingen, und nicht minder von den Vorstellungen, die die Kloster- und Mönchs-Romantik in seiner Phantasie hervorgerufen hatte. Er traute seinen Ohren nicht. Aber der gute Pastor merkte nichts von seinem Erstaunen, und er verließ ihn, nachdem er ihm den Rat gegeben hatte, sich die Zeit mit ein paar Büchern zu verkürzen, die er aus einem Wandschränkchen nahm und auf den Tisch legte.
Walther hatte kein Bedürfnis nach Zeitvertreib. Er sah in dem Zimmerchen umher und verwunderte sich über die große Einfachheit, mit der es ausgestattet war.
Eine metallene Christusfigur und ein paar Heiligenbilder machten mit dem ersten Kommunionsbriefchen von Jansens Vater die ganze Verzierung aus. Dies letztere hing in Glas und Rahmen oben am Schornsteinmantel. Der Tisch war von gebeiztem Holze, und vier Stühle mit Mattensitz vervollständigten die Einrichtung, es sei denn, daß man die Hortensie und ein paar Monatsrosen mitrechnete, die draußen vor dem geöffneten Fenster auf der Fensterbank standen.
Sogar Walther, der wahrlich nicht an Luxus gewöhnt war, stand erstaunt über die Spärlichkeit solcher Einrichtung. Kurz vor der unerwarteten Auswanderung seines ersten Chefs, des Herrn Motto, Rauch- und Schnupftabak nebst Leihbibliothek, hatte er an der Hand von »Anna Radcliffe« und dergleichen eine lange Galerie von katholischen Schauergeschichten durchflogen, in denen es von Üppigkeit auf jedem Gebiete wimmelte. Der ärmste Mönch hatte Schlösser zu seiner Verfügung – gewöhnlich waren sie unzugänglich, und man mußte die Wege im Gebirge schon sehr gut kennen, um sie zu sehen zu kriegen – Schlösser, in denen Widerspenstige ihr lebelang begraben waren. Jeder katholische Geistliche besaß Säcke voll Gold, mit denen er den gläubigen Banditen bezahlte, der der Kirche im Wegräumen lästiger Personen behilflich war, wenn zum Beispiel einer Bibeln oder Traktätchen verbreitete oder sich geweigert hatte, einem Bischof seine Braut abzutreten. Was in aller Welt konnte Pater Jansen bewogen haben, sich zum römischen Priester machen zu lassen, wenn die Einkünfte des Berufs so armselig zurückgegangen waren? Oder sollte vielleicht irgendwo ...?
Walther befühlte die Wand, um die geheime Thür zu entdecken, und er freute sich über das anfängliche Mißglücken seiner Untersuchung, weil ja doch das eigentlich Geheimnisvolle einer solchen Thür darin besteht, daß sie sich nicht leicht finden läßt. Nun, diesen Erfordernissen der Heimlichkeit genügten die Zugänge zu Pater Jansens verborgenen Schätzen und Marterkammern aufs beste. Wohl lief hie und da ein Sprung durch das geblümte Papier, mit dem die Wand beklebt war, aber die Richtung gab zu deutlich zu erkennen, daß es sich um einen unbeabsichtigten Riß im Mörtelwerk handelte, als daß dabei an die Kunst gedacht werden könnte, mit der Romanschreiber der bekannten Sorte große Lokalitäten in kleinem Raum zu verbergen wissen. Außerdem:
»Dort sind die Zimmer des Pastors, der im Griechischen so stark ist,« überlegte Walther, »und von der anderen Seite höre ich Stine mit Küchengerätschaften rasseln. An der Vorderseite sind die Fenster, die Hortensie, und die Kirche, und hier ... hier mußte es sein, wenn etwas ist. Aber ...«
Ich kann nicht sagen, durch welchen Gedankengang Walther zu dem Schluß kam, daß auch die vierte Wand des Zimmers nichts Geheimnisvolles verdecken konnte.
Vielleicht bedachte er, daß an dieser Seite gewiß Nachbarn wohnten, die in solche Romantik wohl nicht verwickelt waren.
Aber auf einmal fielen seine Blicke auf den Fußboden. Unter diesem Fußboden war gewiß Platz genug für interessante Schrecken. O ja, bis zu den Gegenfüßlern. Gott weiß, wie viel rasselnde Gebeine dort in schweigender Einsamkeit lagen und sich anguckten! Vielleicht irrten auch noch lebende Opfer der Inquisition und verliebte Bischöfe in den Gewölben umher. Wer weiß, ob nicht gerade in diesem Augenblick die schöne Isabella ihren vorletzten Atemzug ausbläst. Da knirschte etwas ...
Walther hielt den Atem an. Ich weiß wirklich nicht, was da knirschte, und gebe dem Leser anheim, zu denken, daß das Geräusch eine allerunschuldigste Ursache hatte.
Aber es knirschte. Sollte in der That unter dieser Matte ...?
In keinem der Romane, die Walther gelesen hatte, waren die Fallthüren mit Matten bedeckt gewesen. Das konnte vielleicht die neueste Art sein, und in Romantik muß man auf alles gefaßt sein. Walthers Absicht war gewiß nicht, den guten Pater Jansen zu verraten, wenn er seine Geheimnisse würde entdeckt haben, o nein! Im Gegenteil, er wollte nichts lieber, als an all den Schätzen und Schlössern, die ans Licht kommen sollten, teilnehmen, wenn er erst einmal in die Höhle mit der schönen Isabella im Todeskampfe hinabgestiegen sein würde. Erst das arme Geschöpf befreit, und dann mit vollen Segeln hinein in den Ocean der Romantik! Isabella selbst würde dafür sein, wenn sie nur erst ordentlich erlöst war aus jenem Gewölbe. Aber ... war da ein Gewölbe? War da eine Höhle? Um Sicherheit zu haben, stampfte Walther mit dem Fuße...
»Wünschest du etwas, junger Herr?« fragte die Stine, die gerade in das Zimmer trat und Walthers grundlose Untersuchung nicht recht begriff.
»Nein, o nein, Jüffrau, durchaus nicht!« antwortete er verwirrt. »Es ist bloß ... daß ich ...«
»Wenn dir was fehlt ... wir haben Haarlemer Öl im Hause.«
»Danke, danke. 's war bloß, daß ich ... daß mein Fuß eingeschlafen ist. Das war's.«
»Ja, nicht wahr, und das prickelt dann so. Ich hab's auch schon gehabt. Aber das vergeht immer wieder von selber. Ich muß hier sein, ich muß Paters Jesusbild scheuern.«
Und die gute Stine nahm die Christusfigur von der Wand und putzte und rieb sie, daß sie glänzte. Das Kruzifix hatte wahrhaftig keinen Grund, sich über Zurücksetzung zu beklagen, höchstens könnte der oberflächliche Beurteiler glauben, daß sie ein bißchen unzart mit dem Symbol ihres Glaubens umging. Die Ursache dieser scheinbaren Gleichgültigkeit war die Gewohnheit und die Abwesenheit jedes Widerstandes. Wer von dem Bilde schlecht gesprochen hätte, hätte es gewiß mit der Stine böse zu thun bekommen; da aber hieran keiner dachte, behandelte sie das Kruzifix mit nicht mehr Umständen als irgend einen anderen Gegenstand von Metall, den sie scheuerte, reinigte oder putzte.
»Sieh, wie er glänzt!« sagte sie. »Wie Kerzenmachers Katze im Mondschein, findst du nicht?«
Walther hatte nie eine Katze von dieser Sorte in diesem besonderen Licht gesehen, aber er gab ohne weiteres zu, daß das Bild gut aussah.
»Ja, der Mensch muß reinlich mit seinen Sachen sein! Ich habe da mein Kreuz mit dem Pater ... da hast du keinen Begriff von. Denn er ... denkst du, daß er an was denkt? Nein, das thut er nicht. Und weißt du, warum? Nun, weil er immer an etwas anderes denkt. Der Mann ist 'n Engel Gottes, und er thät's vergessen, seine Nase zu schnauben, wenn ich ihm nicht sagte: Pater, Sie sind erkältet. Und du gehst also nach Haarlem? Und der Pater auch? Was wollt ihr da? 's ist 'ne ganze Reise!«
Walther erzählte das eine und andere von dem Vorgefallenen, aber er hatte keinen Erfolg damit, der Stine begreiflich zu machen, was eigentlich los war. Für sie war und blieb Paters Reise nach Haarlem die Hauptsache.
»Wenn er sich nur nicht erkältet,« sagte sie halblaut vor sich hin, »oder ...«
»Es ist schön Wetter, Jüffrau,« sagte Walther.
»O ja, das ist's! Aber ... ach, erkälten ist das Schlimmste nicht. Ich fühl' mich immer wie 'n kranker Mensch, wenn er ausgeht, und dann so weit. Kannst du mir sagen, wo er nun hin ist?«
»Geld wechseln,« sagte Walther.
»Geld? Da haben wir's! Nun sitz' ich in tödlicher Angst. Ich wollte, alles ginge gut und wäre erst wieder vorbei.«
Sie packte die Gerätschaften, mit denen sie das Christusbildchen besorgt hatte, zusammen und verließ murrend das Zimmer. Walther wußte wieder nicht, was er von ihr denken sollte.
Ihre Kleidung und ihr Benehmen war das einer alten Dienstmagd, aber die Familiarität, mit der sie über ihren Herrn sprach – auch er schien zu den »Sachen« zu gehören, die sie reinlich zu halten hatte – brachte ihn in Verwirrung. Die Stine machte mit dem Pater nicht mehr Umstände als mit dem Kruzifix, wenn ich auch versichern kann, daß sie für beide mit Freuden dem Tode getrotzt hatte.
In diesem besonderen Falle sollte sich übrigens bald zeigen, welcher Art ihre Bekümmernisse um Paters Reise und Geldwechseln waren.
Ein Bettler zeigte sich vor dem Fenster, wo die Hortensie prangte.
Der Mann sah eben herein, nicht so sehr wie einer, der um etwas bittet, als wie eine erwartete Persönlichkeit, die zu erkennen giebt, daß sie da ist. Bald folgten auch ein zweiter und ein dritter und mehr, die so aussahen, als fühlten sie sich auf dem Hofe, der dem Pater als Vorzimmer zu dienen schien, ganz zu Hause. Manche machten es sich bequem und ließen sich auf irgend einem Vorsprung, der an Haus und Kirche zu finden war, nieder, als wollten sie durch ein lebendes Bild die Wahrheit ausdrücken:
Der Pauperismus ist eine Pestbeule der Religion.
Ja, ja, sie waren witzig, diese Agenten in Himmelsversicherung!
Walther hörte, daß man sich unter dem Gärtchen über die Abwesenheit des Hausherrn unterhielt, und zwar in einem Tone, der auf Unzufriedenheit schließen ließ. Natürlich, der Mann hätte auf seinem Posten sein müssen!
»Aber die Magd ist doch da!« rief ein Junge, der sein Brot mit Lahmsein verdiente, aber doch den Rand eines der unteren Kirchenfenster zu erreichen gewußt hatte.
»Ich warte lieber auf den Alten,« sagte ein Blinder.
»Halt du dein Mund, du hast hier nichts zu suchen, du bist ein Dienstager!« rief ein dritter.
»Was geht das dich an? Du kannst deinen Mund halten, du hast neulich beim Ausgang von der Jakobskirche Nummer drei gestanden, und du bist erst sieben.«
»Nee, sechse jetzt, der alte Jonas ist tot. Aber du bist ein Dienstager. Mach dich fort, sag ich dir!«
»Du hast auf drei gestanden!«
»Du bist 'n Dienstager, pack dich! Vorwärts. Jungs, setzt ihn raus! Er stiehlt uns 's Brot vom Munde!«
»Was? 'n Dienstager!« rief nun der Krüppel von der Kirche. »Das darf nicht sein. Raus mit ihm!«
Und der Lahme wußte recht flott auf den Erdboden zu kommen, um das geschändete Bettlerrecht zu schützen.
Der Mann nämlich, der zu den auf Dienstag Bestellten gehörte, durfte sich nicht unter der Gesellschaft sehen lassen, die sich Montags bei Pater Jansen um Unterstützung einstellte. Und was die andere Beschuldigung angebt – »drei stehen, wo doch sieben dein Platz ist« – so zielte sie auf ein Usurpieren einer Rangnummer. Zu nahe beim Kirchenausgang zu stehen, wurde für unvorteilhaft gehalten, weil das Gedränge das Herausholen des Geldbeutels hindert. Auch scheint jeder in den ersten Augenblicken nach dem Gottesdienst Eile zu haben. Aber ein Standplatz zu weit ab von der Thür ist auch nicht gut, denn die meisten gehen, wenn sie zwei- oder dreimal einem Bettler etwas gegeben haben, gleichgültig weiter. Ohne die geringsten Bedenken, daß sie etwa zu viel thäten – namentlich etwas Verkehrtes – meinen sie doch, genug gethan zu haben. Nach allen urteilsfähigen Schriftstellern, die Krebsschäden zu ihrem Studium gemacht haben, giebt es keinen vorteilhafteren Standplatz als Nummer drei. Wenn also der Mann, der den anderen so lieblos des Einbruchs in Pater Jansens Tagesordnung beschuldigte, sich in der That des Nummerndiebstahls schuldig gemacht hatte, war der andere vollkommen im Recht, ihm Schweigen aufzuerlegen. Aber auch der Dienstager hatte sich zu verantworten, und zwar bei der Stine, die auf den Krawall herauskam.
Der Mann, der einen Tag zu früh kam, entschuldigte sich mit der Bemerkung, daß er Dienstags »so viel Häuser hätte«, und daß er »sich die Beine aus dem Leibe laufen müsse« ... um alle seine Kunden richtig zu bedienen, denke ich.
Die Stine gab jedem etwas. Aber keiner schien zufrieden. Es ergab sich, daß die Herren an drei Deut für die Person gewohnt waren und nun mit zweien abgespeist wurden. Die alte Magd hielt sich tapfer.
»Wer noch 'n Wort sagt, wird von der Liste gestrichen,« sagte sie. »Ich habe noch sechs ganze Tage von Gottes liebem Werk vor mir, und der Mensch muß doch sorgen, daß er durchkommt, wie? Vorwärts, alle miteinander, vom Hofe und zum Gange hinaus, vorwärts! 's ist gut so, dünkt mich!«
Das gemeine Häuflein ließ sich nicht ohne Mühe bewegen, wegzugehen, und Walther hörte mit Entrüstung, wie einige murrten und schimpften. Wenn's wieder vorkäme, daß der Alte nicht zu Hause wäre, hieß es, wollten sie lieber warten, bis er wiederkäme, denn so'ne Magd ist doch auch bloß so'n ›bezahlter Dienstbot‹, der nicht weiß, was 'm Menschen zukommt.‹
Es scheint seltsam, aber es ist wahr, daß im Munde des Armen Mangel an Reichtum und niedrige Stellung ein Verbrechen ist. Nach Ansicht der Herren Bettler hätte die Stine reich sein müssen, oder Herzogin, oder Bürgermeisters Nichte, ehe sie sich das Recht anmaßte, ein Wort mitzusprechen oder eine Hand auszustrecken – denn das that sie, und Walther hatte tapfer geholfen – zur Verteidigung von Paters Hof.
Nichts ist aristokratischer als das Gemeine.
Nachdem sie nun zusammen das Terrain gesäubert hatten, folgte Walther der Amazone wieder ins Zimmer. Sie jammerte über ihr Pflegekind.
»Ach, ich wollte, der Pater käme! Ich habe keine Ruhe, wenn der Mann in der Stadt ist. Und dann noch mit Geld, sagst du. Ist's viel?«
Walther konnte die Summe nicht bestimmt angeben, aber er sprach von kostbaren Stücken, die eingewechselt werden mußten.
»Gold? Ach, lieber Jesus, das ist für ihn genau dasselbe! Ach, warum den Mann mit Geld in die Stadt schicken? Hast du das für ihn ausgedacht, junger Herr! Warum thatst du's nicht lieber selber? Mit Geld kann man nicht vorsichtig genug sein ... das kann jeder gebrauchen, siehst du? Wenn er nun in Christi Namen nur keinem begegnet, der etwas nötig hat! Gold? Ihm ist alles ganz egal! Die Schnallen von seines Vaters Hose waren von Silber, und doch sind sie weg! Und um Kupfer kümmert er sich auch nicht. Rate mal, wie viel alle Wochen zu uns kommen? Wohl achtzig. Ich hab' 'ne ganze Liste davon. Und sie sollen jeder seinen bestimmten Tag halten, aber denkst du, sie thun's? Nein! Denn 's sind Racker drunter – daß ich so ein sündhaftes Wort sag! – ja, Racker, die zweimal kommen, aber der Pater will's nicht glauben. Und wenn ich auch sag': Pater, 's ist schlecht Volk! er will nichts davon wissen.«
»M'neer Jansen ist zu gütig,« sagte Walther.
»Ein wahrer Engel Gottes ist er! Aber ich muß auf'n aufpassen. Drei Deut der Mann, sechsmal in der Woche, das geht nicht ... rechne mal nach! Heute waren's fünfzehn, und der Mann hat nachher keine Butter aufs Brot. Nun, ich auch nicht, aber das macht nichts. Aber alles wegzugeben an schlecht Volk! Ich hab' ihnen nun bloß zwei Deut gegeben, und darum brummten sie. Sie wollen sich beim Pater beklagen, 's ist 'ne Gesellschaft! Je mehr man giebt, je fauler sie werden, und je frecher auch. Das hab' ich schon immer gesagt. Aber der Pater begreift's nicht, oder er will's nicht wissen. Und wenn ich sage: ›'s sind Racker, Pater! dann sagt er: wir sind ja allemal Sünder vor Gott, und er hätte auch seine Fehler, und er dürfte froh sein, daß Gott ihm Kleider und Essen giebt und 'ne hübsche Wohnung. Sünder vor Gott? Nun ja, die ganze Menschheit, aber er? Ich weiß genau, daß Gott von dem Manne nichts zu fordern hat, nicht so viel!‹
Die Stine strich mit einer leichten Bewegung über die Hand. Mochte Gott einen Augenblick vorher noch in dem Irrtum befangen gewesen sein, daß Pater Jansen bei ihm in der Kreide saß für Erbsünde und eigene Fehler, so waren Gesichtszüge und Barbiergebärde der alten Magd wohl geeignet, ihm den Mut zu benehmen, um auf Begleichung der unbilligen Forderung zu dringen.
»Nix, gar nichts,« fuhr sie fort. »Er ist propre und rein wie ein Brand. Aber dieses Bettelvolk, sieh! Und alle die Armen sind seine Brüder, sagt er.«
»Das hat Jesus gesagt,« katechisierte Walther.
»Jesus? So? Hat der Herr Jesus das gesagt? Nun, dann will ich damit zufrieden sein, daß er's auch sagt. Aber doch ... was Bruder? Ich finde, der Mensch muß auch sein eigener Bruder sein. Und er? Er ist, sozusagen, nicht sein eigener Neffe, sein Schwager nicht, sein eigen Stiefkind nicht, nein, das ist er nicht! Er läuft wieder auf seinem Zahnfleisch. Hast du's nicht gesehen?«
Walther machte offenbar ein Gesicht, als ob er diesen bildlichen Ausdruck nicht verstände. Also erklärte ihm die Stine:
»Na ja, auf'm Oberleder, seine Schuhe sind durch. 's mir schon 'n Kreuz! Und sein Rock ist auch nicht von den neuesten!«
Walther fühlte Beschämung über das Gewicht, das er seiner Kleidung beilegte.
»Vier Jahre spar' ich nun schon für 'ne neue, oder ... ich möchte sparen, aber 's geht nicht! Diese Bettler kosten uns gewiß zwei Gulden die Woche ... da spar' einer für neue Röcke. Sag', junger Herr, kannst du nicht mal zu Pater sagen, daß er sparsamer sein soll und nicht immer alles wegschenken?«
Walther wuchs. Er wurde als Mentor angestellt über einen bejahrten Mann, und zwar durch eine Frauensperson, die noch bejahrter war! Mit großem Vergnügen hätte er die alte Magd umarmt, aber er versagte sich diese Extravaganz und entschädigte sich durch die selbstzufriedene Pedanterie seiner Antwort. Stines Bitte wurde gnädig aufgenommen und gewährt:
»Hören Sie, Jüffrau, Sie können versichert sein, daß ich von meiner Seite alles Mögliche versuchen will ...«
»Gewiß! Denn mir glaubt er nicht, weil ich nicht gelehrt bin. Du mußt ihm sagen, daß der Junge, der soeben mit seinem ... Allerwertesten ...«
Stinchen drückte sich eigentlich holländischer, bündiger, kürzer und besser aus.
»Daß der Junge, der eben mit seinen ... Sitzwerkzeugen ... im Fenster der Kirche saß ... ein Faulpelz ist, ein Taugenichts, ein Strolch! Sag' das dem Pater. Erst war er 'n Blinder ... jawohl, so lange er 'n Schwesterchen hatt', das ihn führen konnte. Aber nun sie von ihm weggelaufen ist – Gott weiß warum? vielleicht bettelt sie auf eigene Rechnung – nun ist er auf einmal 'n Lahmer geworden. Wie findst du das? Sag's 'm Pater.«
»Ja, Jüffrau, ich will's ihm gewiß sagen.«
»Und dann das schmutzige Geschöpf auch, das da im Winkel saß. Hast sie gesehen? Einmal, wie Schnee lag, sagt' ich: feg' mal den Schnee vom Hofe, dann kriegst du sechs Deut! War's gut geboten oder nicht? Aber sie that's nicht und sagte, sie versäumte zu viel Häuser.«
»Häuser, Jüffrau?«
»Ja, Bettelhäuser. Sie hätte siebzehn täglich, sagte sie, und dann schimpfte sie mich aus, wegen meiner sechs Deut. Das sagt' ich dem Pater. Und was sagte er? Ach, sagte er, sie ist zu alt und kann nicht fegen. Was sagst du dazu? Ich sagte: Pater, sie ist jünger als ich. Nun, 's ist die Wahrheit, denn ich bin achtundsechzig. Das ist alt, wie?«
Gewiß fand Walther das alt. Er begann die Frau interessant zu finden, die, wie er meinte, so viel erlebt haben mußte. Daß der Kreis, in dem sie sich bewegt hatte, nur klein war, kam ihm nicht bei.
Er wurde ordentlich verlegen ob seiner Jugend, und um merken zu lassen, daß er durch Studium ersetzt hatte, was ihm an Jahren fehlte, suchte er in seiner Erinnerung nach etwas, was von vorhistorischen Kenntnissen Zeugnis ablegen konnte. Stine mußt doch wissen, daß er der Aufgabe eines Seelenhirten, die sie ihm so vertrauensvoll auftrug, nicht ganz unwürdig war, und daß er mehr wußte, als er in seinem kurzen Leben mit eigenen Augen konnte gesehen haben.
»Sehr alt,« bezeugte er. »Dann haben Sie gewiß der Auslegung und Vergrößerung der Stadt beigewohnt?«
»Da weiß ich nichts von, junger Herr. Aber ... diese alte niederträchtige Grete! Was denkst du, was der Pater that? Er sagte: Ach, Stine, du mußt denken, sie ist ein armes Mensch! Das ist wahr, sagte ich, und das denk' ich auch. Aber Sie sind auch arm, Pater, und ich auch. Na, das sagt' ich bloß so dabei, denn ich hab' genug und klage nicht, Gott bewahre! Aber daß der Pater oftmals trocken Brot ißt, ist 'ne wahre Sünde vor Gott und den Menschen. Manchmal ist kein Deut im Haus, und dann müssen wir uns vom Pastor hier nebenan was borgen, und der hat auch nicht viel. Auch 'n guter Mensch sonst, das muß ich sagen, aber er spricht nicht viel. Der Pater sagt, daß er der gelehrteste Mensch von der Welt ist, und er könnte längst Professor oder Bischof sein, wenn er nur nicht so ... na, das geht mich nichts an und dich auch nicht. Aber diese faule Grete! Sie that's nicht und that's nicht, und der Schnee blieb diesen Tag liegen, und ich sagte: Gut, Pater, dann werde ich's thun. Und den folgenden Morgen wollt' ich früh aufstehen, und das that ich auch, denn der Schnee sammelt sich so an, und dann hat der Mann nasse Füße, und das kann ich vor Gott nicht verantworten. Und wie ich auf den Hof komme – weg war der Schnee! Was denkst du, was passiert war?«
»Tau?« fragte Walther.
»Ach nee, 's fror, daß es knackte. Ich gucke verdutzt auf die blanken Steine und suche den Schnee ... kein Krümel zu sehen, denke dir! Da hör' ich den Pater lachen in seinem Zimmer ... denn er sah mich da stehen wie einen dummen Menschen und den Schnee suchen, der weg war. Er war noch früher aufgestanden als ich und hatte alles weggefegt. Wie findest du das, junger Herr?«
»Hören Sie, Jüffrau, wenn's wieder vorkommt ... rufen Sie mich, ich will's thun.«
»War's nicht 'ne Schande? Und das für so'n faules Tier wie diese Grete. Na, ich war auch so falsch wie 'ne Spinne, denn ich hab' den Mann von Herzen lieb, aber er lachte mich aus. Und ich blieb böse, und dann sprach er wieder von armen Brüdern, aber ich sagte, die faule Grete wäre sein Bruder nicht und meiner auch nicht! Wahrhaftig nicht; was sagst du? So 'n faules Tier!«
Walther sagte diesmal nichts, aber an Eindrücken fehlte es ihm nicht. Er fühlte, daß auf der Seite des großen Lebensbuches, das hier vor ihm aufgeschlagen war, etwas Liebliches zu lesen stand, aber er konnte es nicht zusammenreimen mit der wenig romantischen Form, in der es ihm vorgetragen wurde.
Gewiß, es mußte noch mancherlei an Stine verändert werden, ehe sie, und wäre es auch bloß ganz aus der Ferne, der schönen Isabella gleichen konnte, die hier in dem tiefen Gewölbe auf Erlösung hätte warten sollen. Die gute, alte Frau schien gar keine Erlösung nötig zu haben, und anstatt Schlachtopferdamen zu befreien aus eisernen Ketten, schmaler Kost und Priesterzwang, bekam Walther so einen Priester selbst zu retten aus den Klauen seiner eigenen Güte. Dieser Tausch konnte befremden, besonders wenn man nicht einsah, wie angenehm Stines Vertraulichkeit und vor allem ihr Vertrauen ihn kitzelte. Zudem hatte das Austreiben des Bettlervolkes etwas von einem Gefecht gehabt, und in Ermangelung eines Besseren muß man sich mit dem Geringeren zufrieden geben. Die Romantik ist elastisch, und was den Umständen in Größe und Gehalt fehlt, wird ausgefüllt und aufgeziert durch den unbewußten guten Willen der Don Quichottes.
Walther war so zufrieden, daß er seine eigene Jacke nicht mehr sah. Großmütig verzieh er dem Pater, daß keine einzige eingesperrte Jungfrau in seiner Wohnung zu finden war und auch darunter nicht. Aber er sagte doch:
»Jüffrau, die Wohnung ist eigentlich nicht sehr groß, finde ich. Haben Sie hier Raum genug?«
»Aber ganz gewiß! Wenn sie größer wäre, könnte ich die ganze Wirtschaft nicht allein instandhalten. Du mußt denken, daß ich die Zimmer des Pastors nebenan auch noch zu besorgen hab'. 'ne ganze Menge für einen Menschen allein.«
»Und ... Keller?«
»Ja, 'n bißchen naß, aber sonst ganz gut. Im Winter haben wir Kartoffeln drin und auch Torf. Die Nässe ist gut für den Torf ... 's brennt sparsamer. Trockener Torf ist kein Feuern. Da müßte der Mann auch noch frieren.«
Der Versuch, doch noch ein wenig Romantik anzubringen, brach also wieder ab wie Glas. Ketten und Knochenpyramiden paßten nicht zu diesen häuslichen Nützlichkeiten. Eine Höhle kann feucht sein, o ja, es gehört sogar dazu. Aber ... Kartoffeln und Torf?
»Und ... sind Gewölbe unter der Kirche, Jüffrau?«
»Das weiß ich nicht. Aber ich verschwatz' meine Zeit. Versprichst du mir fest und sicher, daß du ein Auge auf den Pater und all das Geld haben willst?«
»Seien Sie ganz ruhig, Jüffrau. Ich will ...«
»Und daß du ihn mal ordentlich ermahnen willst, auch 'n bißchen mehr für sich selber zu sorgen?«
»Gewiß, Jüffrau.«
»Denn siehst du, der Mann ist so arm wie Hiob, und das geht so nicht. Ich höre nun, daß 'ne Dame in die Stadt gekommen ist, weit, aus Dänemark oder Hamburg oder so was, und die wird ihm wohl beistehen ...«
»Ah!«
»So, weißt du davon? Na. desto besser! Ich hörte 's von Femke Claus ...«
»Ah!«
»Kennst du die auch? Nun, sie beichtet beim Pater, früher beim Pastor hier nebenan, aber jetzt immer beim Pater. Und meistens geht sie hier über 'n Hof in die Kirche, denn sie bringt Paters Wäsche, und sie hat's mir erzählt ... von jener Dame aus Hamburg, mein' ich.«
»Ah!«
»Was ist dir doch, junger Herr? Und ich ... wenn ich die reiche Dame zu sprechen kriegen kann, will ich ihr sagen, daß sie sehr vorsichtig sein muß und Pater nicht zu viel geben. Denn wenn der 'n Einkommen von Hunderten die Woche hätte, 's wäre doch nicht genug für alle die Bettler. Je mehr er giebt, je mehr kommen. Es ist bloß Unkraut begießen, sag' ich! Na ja, muß der Mensch nicht arbeiten für seine Kost? Das hab' ich auch gethan, von so klein auf. Ich bin 'n Findling, weißt du, und hab' mich selbst durch die Welt schlagen müssen. Kann diese faule Grete 's nicht auch thun?«
Die Findlingschaft gefiel Walther besonders. Die Lust, davon etwas mehr zu vernehmen, verdrängte selbst das Interesse, das Femkes Name, noch dazu in Verbindung mit Prinzeß Erika, bei ihm erwecken mußte. Sollte Stines Vater 'n reicher Baron sein? Und zurückgekehrt auf den Pfad der Tugend? Er wollte mehr davon wissen, und Stine sagte wohl auch noch etwas davon, aber nach Walthers Ansicht wieder nicht das Rechte. Die rechte Romantik fehlte, aber der Fehler war bei Walther; er hatte noch nicht gelernt, seine Erlebnisse aus einem gewissen Abstand anzusehen. Was uns am Altertum interessant, am Mittelalter romantisch vorkommt, ist einmal gewöhnlich und alltäglich gewesen.
»Ja, junger Herr, 'n Findling,« fuhr die alte Stine fort. »'s kann's jeder wissen. Gewiß, ich hab' mich ja nicht selber auf die Heide gelegt! Hab' ich? Nun, für meine Mutter ist auch gesorgt, und aufs beste! Denn ... auf der Heide bin ich gefunden, splitternackt, sozusagen, ich hatte bloß 'n Stück Lappen ums Leibchen. Aber du begreifst, das weiß ich nur vom Hörensagen. In 'n Lappen war ich gewickelt, weiter nichts. Und nun? Gott hat mich gesegnet, das siehst du. Ich bin groß und stark geworden ... nein, stark bin ich gewesen. Na, 's geht noch. Und ich hab' jetzt elf Hemden ...«
»He?« sagte Walther.
»Ja, elf. Aber sie sind 'n bißchen alt. Und jedesmal, wenn ich 's zwölfte dazu thue, muß ich eins von den anderen wegwerfen. Darum hab' ich bloß elf. Aber du mußt denken, mit 'm Lappen, auf der Heide, hab' ich angefangen. Und nun wohn' ich beim Pater, schon fünfunddreißig Jahre ... 's ist wahrhaftig keine Kleinigkeit! So lange ich hier bin, halt' ich zwei Herren imstande, und manchmal auch wohl drei, denn wenn viel zu thun ist, haben wir auch noch 'n Kaplan hier. Ja, ja, 's muß gearbeitet werden in der Welt! Aber wenn du das thust, bist du auch fertig. Ich kenne manchen, der in 'm Hause geboren ist und jetzt Gott auf seinen bloßen Knien danken würde, wenn er hier beim Pater sein dürfte.«
»Und ... Sie sehen Femke manchmal hier?« fragte Walther, nicht ohne die Absicht, anzudeuten, daß diese Besonderheit Stines Genüsse noch ganz besonders und merklich erhöhen müßte.
»Gewiß. Und ich muß sagen, daß sie mir getreulich hilft an Paters Sachen ... sonst könnt' ich's auch nicht. Denn ein Mensch allein ... das kannst du dir wohl vorstellen. Auch werden meine Augen schlecht. Aber vom Pastor hier nebenan will sie kein Stück mitnehmen. Ich glaub', den mag sie nicht leiden.«
»Er wird ihr doch nichts gethan haben?« fragte das Ritterchen.
»Ach nein. Warum? Der Mensch mag einen, und den anderen mag er nicht. Pater hat sie gern, das weiß ich. Und er sie auch. Früher beichtete sie beim Pastor hier nebenan, aber seit 'm Jahr oder so nicht mehr. Immer beim Pater! So sind viele, und der Mann kann nichts dagegen thun. Ich hab' schon zu den Menschen gesagt: geht doch lieber zum Pastor nebenan, der Mann ist ja auch gut! sagt' ich, aber 's hilft nicht, alle wollen immer zum Pater. Na, ich auch, und ich stehe mich gut dabei, das muß ich sagen. Er ist sehr gut! Und so wird das Madchen wohl auch denken. Aber dich hab' ich noch nie in der Kirche gesehen. Du wohnst wohl weit. Wo ist deine Parochie? Bei wem beichtest du? Ist dein Pastor strenge?«
»Nein, o nein!« stotterte Walther, der den Mut nicht hatte, in diesem Augenblick zu sagen, daß er nicht »von dem Glauben« war.
»Sonst, ich kann dir den Pater getrost empfehlen ... er ist sehr milde. Was der Mann schon für Seelen zu unserem lieben Herrn geführt hat! Sieh ... wenn ich nicht bei ihm gewesen wär', thät's um meine Mutter schlecht aussehen, aber nun ist sie in Ordnung. Geh' zum Pater, was ich dir sag'. Oder ... nein, lieber nicht, er hat so schon zu viel. Viel mehr als der Pastor hier nebenan. Der ist 'n bißchen ... wie soll ich sagen? isegrimmig, weißt du? Er sieht nicht durch die Finger ... gar nicht! Na, alle Menschen sind nicht einerlei, und mancher muß wohl hart angepackt werden. Neulich hab' ich gehört, 's ist mal 'n Mann gewesen, dem nicht vor der Hölle bange war. Wie findst du das?«
»Sehr schlimm, Jüffrau.«
»So, findst du das schlimm? Ja, 's ist schlimm! Aber ich hab' auch keine Angst davor, denn ich thu' meine Arbeit und ich sorg' für 'n Pater. Ach, ach ... wo bleibt er nur?«
»Sie fürchten sich nicht vor der Hölle, Jüffrau!«
»Nee, ganz und gar nicht, denn ich thu' meine Arbeit. Aber dieser Mann that seine Arbeit nicht. Er fluchte und trank und ging mit schlechten Frauensleuten um, und doch hatte er keine Angst vor der Hölle. Siehst du, der hätte doch Angst davor haben müssen. Das sagte der Pater auch, aber Gott würde 's ihm wohl doch vergeben, sagte er, weil er's nicht besser wüßte, denn ... er glaubte nicht an die Hölle, und da kann 'n Mensch nicht helfen, sagte der Pater. Nun, ich hätt' solchen Menschen wohl mal auf 'm Sterbebett sehen mögen! Aber er wird nun wohl tot sein, denn 's ist sicher lange her. Wenn ich sterb', will ich ganz zufrieden sein, der Pater wird vor meinem Bett sitzen und mir die Hand drücken. Das hat er mir fest versprochen. Dann werde ich Gott danken fürs Leben, das er mir geschenkt hat, und daß ich beim Pater gewohnt hab'.«
Die gute Frau bekreuzigte sich, und Walther hatte das Herz nicht oder lieber zu viel Herz, um darin etwas Lächerliches zu finden.
»Du weißt nicht, wie viel Gutes ich genossen hab', junger Herr! Du mußt immer denken, ich hab' ja mit nichts angefangen, mit rein gar nichts! Ich war schon zehn Jahre alt, als ich noch hinter der Kuh aufs Feld lief, und wenn ich ins Dorf kam – denn ich bin nur vom Bauernland – dann schrien die Jungens: Findling! Findling! Und nun, sieh, schon fünfunddreißig Jahre beim Pater! Was will der Mensch mehr? Und ich hab' mit verdient für meine Mutter auch, verstehst du?«
Walther machte ein fragendes Gesicht.
»Ja, 's war wohl nötig. Gewiß hatte sie nicht gut an mir gehandelt, aber der Pater sagte: denkst du, daß 'n Mensch zum Vergnügen sein Kind auf die Heide legt? das sind traurige Sachen, da muß man Mitleid mit haben! Und ich hab' Strümpfe für ihn gestrickt, und für jeden Strumpf gab er eine Messe für meine Mutter. Das war ganz zu Anfang, wie ich kaum zu ihm kam. Und dann wurd's kalt, und ich hatte Frosthände und konnt' nicht stricken. Und das that mir sehr leid um meine Mutter, und auch für 'n Pater, denn der Mann hatte Strümpfe nötig wie's Brot. Aber die Seele der Mutter war's schlimmste, das kannst du dir wohl denken. Denkst du nun, daß der Pater danach sah, ob ich stricken konnt' oder nicht? Nicht im geringsten, er gab die Messe, alle Tage ganz korrekt! Das thut er nun schon fünfunddreißig Jahre ... rechnen's mal aus, junger Herr! Er sagt selber, daß schon 'ne ganze Menge drüber ist.«
»Und ... die Seele ... Ihres Vaters?« fragte Walther, den es nach irgend einem reichen Baron verlangte, nach – oder auch noch ein bißchen vor seiner Rückkehr auf den Pfad der Tugend. Gerne hätte er sich ein wenig vornehmer ausgedrückt und sich nach dem Wohlergehen von weiland Stines »Papa« erkundigt, aber diese Albernheit, die in Walthers Zeit noch für etwas Vornehmes galt, wollte nicht heraus. Es blieb also bei der Frage: »Die Seele Ihres Vaters, Jüffrau« – obwohl das eigentlich zu bürgerlich klang für einen, der die ansehnliche Würde eines Mädchenverführers bekleidet hat, eine Funktion, zu der unreife Jungen, Eunuchen und eine gewisse Sorte von Moral-Bönhasen zu allen Zeiten hoch aufgesehen haben ... und voller Neid.
»Davon weiß ich nichts,« sagte die alte Magd, und es schien Walther, als ob sie durch die Frage etwas verstört wäre. »Ein Mensch kann nicht alles zugleich thun. Sollte ich dem Pater auch noch damit lästig fallen? Für meine Mutter ist übrig da, und damit kann Gott thun, was er will. Aber für meinen Vater sprech' ich kein stummes Wort. Gott könnte vielleicht einmal sagen: wenn du so gierig bist, bekommst du gar nichts. Nun, das ist bloß so Redensart, denn was ich verdient hab', muß ich auch bekommen: einmal gesagt bleibt gesagt! Da ist der heilige Joseph vor, der ist wahrhaftig nicht der Mann, daß er seines Sohnes Wort zu Schanden werden läßt. Herre Jesses, wo bleibt bloß der Pater mit dem Gelde!«
»Da ist er!« rief Walther, der Jansens freundliches Gesicht bei der Hortensie Vorbeigehen sah.
Wie um die Gegründetheit von Stines Angst diesmal gründlich Lügen zu strafen, zählte der gute Mann blanke zwanzig Reichsthaler auf. Zur Entschuldigung wegen seines langen Ausbleibens teilte er mit, daß er unterwegs zu einem Kranken gerufen worden war, der durchaus noch Genaueres über den Himmel wissen wollte, bevor er hinging.
»Ich hab' ihm alles deutlich ausgelegt,« versicherte Jansen. »Der Geldwechsler sagte, daß der Kurs niedrig wäre, junger Herr, aber ich hab' 'n Briefchen verlangt, wo's drauf steht. Nun kannst du selbst alles genau ausrechnen, denn man kann niemals vorsichtig genug sein in der Welt, und Geld ist Geld ... was sagst du, Stine?«
Die sagte Ja, und eine Viertelstunde drauf war Walther mit Pater Jansen unterwegs nach der Haarlemer Schuit.
Die alte Frau hatte ihren Abgott gründlich abgestaubt und gebürstet, und auch Walther bekam einen Strich mit dem Borstwisch oder so etwas; aber das war offenbar nur ein Vorwand, um ihm noch einmal nachdrücklich ins Ohr zu flüstern:
»Wirst du auch Sorge tragen, daß der Pater nicht all das Geld verthut?«
»Jüffrau, ich versprech's Ihnen!« hatte Walther gesagt.
Und an dem Schritt, mit dem er die Wanderung antrat, war zu merken, daß er es auch so meinte.
Ach, ach!
Der Weg zum ... Verkehrten ist mit guten Vorsätzen gepflastert und mit wohlgemeinten Versprechungen!