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Der für Walther so wichtige Montag-Morgen brach für ihn früher an, als für andere Leute. Nicht als ob er so viel weiter nach Osten gewohnt hätte, als die Mehrzahl der Menschen, sondern es war aus innerer Unruhe.
Er hatte wenig oder gar nicht geschlafen und verließ sein Bett, sobald es hell wurde, drei volle Stunden vor der Zeit, da er sich auf dem Comptoir der Herren Ouwetyd und Kopperlith anzumelden hatte. Was also seinen Eifer in diesem Punkte anlangt, so konnte sein väterlicher Freund Doktor Holsma ganz zufrieden sein: Walther war ganz dabei, zu thun, was er von ihm verlangt hatte, nämlich sich um die Pflichten zu kümmern, die unmittelbar vor ihm lagen, und alle phantastischen Ideen beiseite zu lassen. Indessen er sah selbst ein, daß das Aufstehen allein nicht viel besagen will. Er mußte auch, und das vor allem, sich ausschließlich mit den Aufgaben des Tages beschäftigen! Das fiel ihm nicht leicht. Er führte einen sehr schweren Kampf gegen seine fast unbesiegbare Neigung zum Träumen.
Gewiß, gewiß, dachte er – manchmal sogar laut – ich will gut aufpassen, und mein Bestes thun, und arbeiten, bis ich müde bin, und sorgen, daß jeder mit mir zufrieden ist, aber ... sollte ich deshalb Femke nicht erst nochmals sprechen können? Das kann doch kein Grund sein, meine Pflicht im Handel zu vernachlässigen. Soll ich ihr nicht sagen dürfen, daß ich wohl weiß, wo sie mein Bild aufbewahrt, und ... wer sie eigentlich ist? Und ... und ...
Ich will und werde an meine Arbeit denken, ganz allein an meine Arbeit und an die Herren Ouwetyd und Kopperlith. Nachher gehe ich auf ihr Comptoir, und da werde ich nett schreiben, und gut rechnen, denn ... ich kann ja den ganzen »Strabbe«, und schwerer als im »Strabbe« werden wohl die Zahlen auf so'm Comptoir auch nicht sein. Und wenn's so wäre, dann ... nein, nein, schwerer als im »Strabbe« sind die Rechnungen auf so'm Comptoir gewiß nicht. Ob solche Herren wohl auch den ganzen »Strabbe« durchgearbeitet haben? Wer hat sie wohl dazu angespornt, als sie jung waren? Daß ich der Erste in Meister Pennewips Schule geworden bin, habe ich Femke zu verdanken. Warum erzählte sie ihrer Mutter, daß ich der klügste Junge in der Schule wäre? Das war nicht wahr ... lange nicht! Später, ja ... da bin ich's geworden, ihr zu Gefallen. Und nun sagt Doktor Holsma, daß ich viel zu wenig wüßte, und ich müßte erst beginnen, zu lernen. Und noch zehn Jahre lang – oder gar noch länger – sollte ich an nichts anderes denken als an meine Arbeit! Alle Griechen sind dann schon ermordet, und ich kann ihnen nicht mehr beistehen. Und Femke hat gewiß 'n Matrosen geheiratet, oder 'n Zimmermann, oder ... 'n Schiffer, der 'ne bunte Mütze aufhat, oder 'n Prinzen, wenn sie will!
Jener Mensch hatte mächtigen Respekt vor ihr, und die anderen auch. Wie sie so stolz dastand – wer hätte das gedacht, daß sie so stolz war! Und in dem Theater, wie der Kaiser ihr zunickte! Er wußte wohl warum. Im ganzen Theater war nichts so hübsch wie sie.
Wenn ich mal ganz groß bin – ich meine: wenn ich den Handel gelernt habe, denn darauf werde ich mich jetzt wirklich zu allererst verlegen ... ja! – na also, später, dann will ich auch so 'n Trauerspiel machen, sodaß auch ein Kaiser zuhören kommt, und die Prinzessinnen, und das Volk, alle miteinander. Ich will auch was von 'nem geraubten Schild hineinbringen, und Femke wird ihn zurückbringen ... sie, oder ich ... oder wir beide. Ja, so soll's sein, ganz anders wie in dieser »Scylla«. Und dann soll sich's in dem Stück nicht so reimen, das klingt ja, als ob die Menschen sich zum Narren halten. Wenn ich nur lange genug lebe, um so etwas noch zu versuchen, und wenn sie nur nicht vor der Zeit ...
O wende ab das Auge, das mich raubt
Mir selber, meiner Pflicht und meinem Werk.
Du schwebst – du winkst, du zeigst auf höhres Ziel,
Du willst mich locken fort von meiner Pflicht ...
Ich darf nicht, Femke! O, ich bitte dich,
Entflieh mir nicht – ich bin noch nicht ich selbst!
Ich darf nicht lauschen deiner Stimme, und ich muß,
Dich sehend, blind sein – taub, wenn du mich rufst,
Und stumm, wenn's in mir wühlt vor lauter Sehnsucht,
Mit dir zu sprechen ... Liebe Femke, denn
Ich bin ein kleiner Junge noch, muß lernen,
Und immer lernen, lernen, lernen, lernen ...
»Was fehlt dir, Walther?« fragte Laurens, Walthers Bruder, der mit ihm in demselben Kämmerchen schlief. »Sagst du Verse auf?«
»Hm – ja – so! Ich sprach so vor mich hin,« antwortete er verlegen. »Ich bin aufgestanden, weil's im Bette so heiß war ... und da sprach ich davon!«
Laurens schlief schon wieder, und Walther fühlte sich noch beizeiten gewarnt. War er nicht gerade mit dem Verbotenen beschäftigt gewesen ... mit etwas anderem als der nächstliegenden Wirklichkeit? So hatte ja der Doktor gesagt!
Und noch einmal schweiften seine Gedanken ab. Diese gräßliche Jüffrau Laps, mit der er beinahe ein nächtliches Abenteuer gehabt hatte ... diese alte Betschwester mit ihrer widerlichen Freundlichkeit! Nun, diese Abschweifung war leicht zu beseitigen ... er wusch sich. Und dann, um recht sicher zu sein, und um seine Bußfertigkeit recht deutlich zu machen, setzte er sich und blätterte in seinem »Strabbe«.
So vergingen die paar Stunden, die ihn noch vom ersten Frühstück trennten ...
Jüffrau Pieterse, Walthers Mutter, machte viel her von der Wichtigkeit des Tages, und war sehr freigebig im Austeilen guter Lehren. Vor allem mußte er sich sehr manierlich betragen und durch dies Betragen den Herren eine gute Meinung von den Eigenschaften seiner Mutter beibringen. Auch wäre es nicht schlecht, ihnen mitzuteilen, daß er bei den Holsmas auf dem Kolveniersburgwall übernachtet hatte, und daß die Schuhe, die sein Vater verkauft hatte, aus Paris waren ...
»Ja, Mutter,« sagte Stoffel, der Schulmeister. »Und vor allen Dingen muß er pünktlich auf dem Comptoir sein. Darauf halten solche Menschen sehr.«
»Richtig! Immer ganz pünktlich, denn da halten sie sehr drauf. Und wenn sie dich was fragen, dann mußt du resolut antworten, ganz resolut. Und guck nicht immer so schief, das zerknittert deinen Kragen, und das paßt sich nicht für einen Jungen, der schon auf dem Comptoir ist.«
Dieser Kragen hatte in den Vorbereitungen zu den Ereignissen dieses Tages eine große Rolle gespielt. Dieser hochstehende Kragen, der Walther »in den Handel« begleiten sollte, machte einen sehr vornehmen Bestandteil von Jüffrau Pieterses Hoffnung aus. Und Walther dachte auch nicht niedrig von diesem Fortschritt.
Diese beiden brettersteifen Leinenlappen, die seine Wangen einsäumten, machten auf ihn einen doppelten Eindruck. Erstens und hauptsächlich den einer Toga virilis, als das Kleid des Erwachsenen. Zweitens aber auch ein paar rote Streifen, die den Weg von den Mundwinkeln zu den Ohren wiesen.
Er war stolz darauf, und schon darum hätte er gern Femke getroffen. Wer solche »Vatermörder« trägt, ist doch kein Kind mehr, und keiner würde das besser wissen als sie, die als ein Wäschermädchen thätig war, und die deshalb solche feineren Unterschiede von Berufs wegen kennen mußte.
Aber das war auch wahr. Diese ruhmreichen Zeichen der Erwachsenheit hatten auch ihre lästige Kehrseite. Walther mußte immer geradeaus sehen, um diesen Staat nicht zu verderben. Er wußte, daß ihm das ein närrisches Aussehen gab und ihm auch die Neigung einflößte, so zu sprechen wie Stoffel. Aber gerade dies Gemachte, dies Unnatürliche war es, was, nach der nicht ganz unrichtigen Berechnung seiner Mutter, ihm die Gunst seiner neuen Chefs gewinnen mußte. Also:
»Dreh' doch um Gottes willen den Kopf nicht fortwährend nach rechts und nach links. Der Mensch muß vor sich sehen! Da kannst du dich drauf verlassen, solche Herren halten auf Würde und Anstand. Du mußt dich mit deinem neuen Kragen – 's sind alte von Stoffel, aber das macht ja nichts, wie, Trude? – du mußt dich nicht anstellen wie 'n Wilder.«
Von Wildheit war keine Rede, als Walther ein Viertelstündchen nach dieser letzten Ermahnung ganz artig an einem gewissen Hause auf der Kaisersgracht klingelte, welches den Namen »Kopperlith« aufwies. Aber ach, es schien, als sollte schon seine erste Berührung mit dieser Firma ein Mißgriff sein.
Zwei Zugänge, nicht gerade sehr einladend, aber doch benutzbar, boten sich dem Besucher dar. Eine doppelte Glasthür zeigte sich unten, und zur Hälfte sogar unter dem Niveau der Straße, daneben jedoch gab eine kleine Treppe Gelegenheit, zu einer Art von »Bel-Etage« vorzudringen. Walther, in seinem Streben nach Würde und Anstand, fand diesen letzteren Weg passender, und mit etwas steifen Knien kletterte er die acht oder zehn Stufen hinauf.
Oben angelangt, zog er so sanft wie möglich die Glocke: man sollte es gerade noch hören! Unwillkürlich, und beinahe mit einem Schreck, bemerkte er durch das Fenster des Seitengemachs das Gesicht einer bejahrten Dame, welche ohne den geringsten Ausdruck von Wohlwollen sein Gesichtchen zu mustern schien. Es sah aus, als wollte sie ihn von der Treppe hinuntergucken. Walther hatte ein unangenehmes Gefühl davon und machte sich so klein wie möglich. Es ist nicht jedem gegeben, und besonders nicht einem, der seinen ersten hochstehenden Kragen trägt, ohne Angst auf der Treppe zu stehen an einem Hause der Kaisersgracht! Mit Vergnügen wäre unser Held schleunigst davongelaufen ... aber dann?
Diese ... Frauensperson fuhr fort, Walther mit ärgerlichen Blicken anzusehen, als könnte sie es nicht vertragen, daß jemand an ihrem Schlosse anklopfte. Die quälende Betrachtung dauerte so lange, daß Walther ernsthaft daran dachte, entweder wieder abzuziehen oder seine klingelnde Abmeldung zu wiederholen. Aber auch zu diesen beiden äußersten Möglichkeiten war ein Mut von ganz anderer Art nötig, als er ... vielleicht einmal haben würde, aber gewiß jetzt gerade ebensowenig besaß wie den, den er brauchte. Was nutzte ihm nun Holsmas herrliche Lehre, jederzeit seine nächstliegende Pflicht zu thun? Was gab es hier zu lernen? Was war zu arbeiten auf dieser Treppe? In des Himmels Namen: er wartete!
Leser, die Umgang haben mit Göttern, Kaisern, Prinzen und Herren von Stellung, wissen wahrscheinlich, daß an jemand, der sich respektiert, schwer heranzukommen ist. Die Bewohner der Amsterdamer Kaisersgracht respektieren sich sehr, worin ich auch das einzige Zeichen von Gottähnlichkeit bei ihnen finde – ohne übrigens behaupten zu wollen, daß sie sich nun gerade in Menschlichkeit sehr auszeichneten. Was übrigens den Respekt betrifft, haben sie eigenartige Manieren, um auch andere damit anzustecken. Wer nicht auf seiner Hut ist, wird krank davon. Ansehnliche alte Schriftsteller, die in »Naturgeschichte der Kleinstädterei« gearbeitet haben, versichern, daß die Dienstboten auf das Respekteinflößen eingeübt worden: sie lassen die Unglücklichen, die durch ein trauriges Los gezwungen sind, sich dem preiszugeben, sehr lange an der Thür warten. Es scheint, daß das diesen Dienst versehende Dienstmädchen dadurch den Besucher in den Wahn bringen soll, entweder daß das Haus so furchtbar groß ist, oder daß sie nicht so schnell kommen kann, weil sie so viel zu kochen hat. Genannte Schriftsteller schreiben diese tiefsinnige Anstandsregel auf Rechnung einer gewissen Jagd nach vornehmem Wesen. Gott bewahre mich, daß ich die Jagd leugne, aber das vornehme Wesen trägt in meinem Munde einen ganz anderen Namen.
Walther wartete mit heldenhafter Geduld. Endlich wurde die Thür durch eine unansehnliche Frauensperson geöffnet, aber gerade bloß so weit, und nicht weiter, als absolut nötig war, um Walther anzuschreien:
»Was willste? Willste bei Mefro? Was haste zu bestellen? Du klingelst Haus! Junge! Ich kann nich deintwegen 'n ganzen Tag hinter der Klingel herlaufen! Warum klingelste Haus?«
Zu Mevrouw? Ach nein, gewiß nicht! Walther dachte nicht an Mevrouwen. Aber ›du klingelst Haus!‹ Was heißt das?
»Oder klingelste Küche?‹
Diese zweite Frage gab Licht. Walther bemerkte, daß zwei Klingelgriffe im Thürpfosten steckten, und daß sie durch die Bezeichnungen »Küche« und »Haus« unterschieden waren. Wer Gemüse, Fleisch, Butter, Milch brachte, hatte sich mittels der Küchenklingel anzumelden. Nur Besucher, die Anspruch machen konnten auf Empfang im Salon, – wenn es so ein Ding gab – durften sich anmaßen, die stolze Hausglocke in Bewegung zu setzen. Walther, der weder Lebensmittel brachte noch bei Mevrouw Visite machen wollte – war sie es, die so unliebenswürdig durch das Fenster gesehen hatte? – Walther erkannte, daß er sich geirrt hatte, und er wußte nicht, wo er hin gehörte. Gerade wollte er sagen, daß er der ... junge Herr Pieterse wäre, als die Magd, gar nicht neugierig auf seine Persönlichkeit, ihm die Thür vor der Nase zuwarf.
Durch mein allzu feuriges dichterisches Genie habe ich mich zu einer Übertreibung verführen lassen. Mehrfach sprach ich von einer Thür, und von einer geöffneten Thür ... ein klein bißchen nur, so ungastlich wie möglich, aber doch geöffnet! das war ja wohl die Wahrheit, aber ... eine Thür? Es war bloß eine halbe. Die Hausthür, hinter der ein rechter Amsterdamer seine Frau, seine Effekten und sein schimmeliges Patriciertum verbirgt, ist in halber Höhe in zwei geteilt. Der Besucher muß erst gehörig rekognosciert sein, ehe man ihm durch das Öffnen der unteren Hälfte den Zugang gestattet. Dies und noch mehr scheint dem Fremden zuzurufen: »Mein Haus! du kommst nicht hinein!«