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Fancy gebraucht ein seltsames Mittel zu einem Zwecke, den wir noch nicht einsehen.

Jetzt brauche ich einen Orgelmann, der unserer Madam zu Hilfe kommen soll. Woher soll der kommen, o Fancy, meine Muse?

Es wird wohl Haarlemer Kirmes gewesen sein, den so und sovielsten Tag. Vielleicht war auch dadurch der Bedarf erklärt, zu dessen Deckung unsere »Wirtin« ihren Raubzug nach Amsterdam genommen hatte. Anders wäre die ganze Geschichte wahrscheinlich schwer zu verstehen, und ich will doch meinen Lesern alles möglichst klar machen.

Vorerst beliebe man nun zu begreifen, daß auf dem ganzen Wege, so weit das Auge der Reisenden reichte, kein Orgelmann zu sehen war. Nichts einfacher. Der Mann war mit den Seinen, worunter ein gewichtig Instrument, eine volle Stunde vor Abfahrt der Schuit von Amsterdam abgezogen; es ist selbstverständlich, daß man ihn noch nicht eingeholt hatte. Ohne Loggen und Sonnenmessen kann der Leser ziemlich genau berechnen, wie viel geographische Süßwasserellen unser Fahrzeug zurückgelegt hatte, als die edle Frau, welche erklärt hatte, daß sie für »Platz« sei, den Schiffer fragte, ob es »nicht wahr« wäre.

Genau genommen hätten Jansen, Walther und der Schiffer das Recht gehabt, darauf zu antworten, daß sie es wohl glauben wollten, aber nicht mit Sicherheit wüßten. In der That, man muß nicht alles für wahr annehmen, was der erste Beste gesagt hat. Wer weiß, was die Frau für Gründe hatte, das Publikum in einen falschen Wahn zu bringen über ihre Ansicht vom Schwitzen und Gedränge.

Aber unsere drei dachten nicht so tief nach.

Jansen war zu betrübt, um zu sprechen, und Walther noch zu sehr erfüllt von ... etwas, was nach einem Abenteuer aussah, um sofort zwischen Zweifel, Zustimmung und Ablehnung zu unterscheiden. Was den Schiffer betrifft, der hat geantwortet. Aber, Leser, so lange ich dir nicht mitteile, was der Mann sagte, ist es so gut, als ob er nicht geantwortet hätte, und du hast also kein Recht anzunehmen, daß die Schuit schon ein Haarbreit weiter war als in dem Augenblicke, da die interessante Frage gestellt wurde. Wie kann also einer nach diesen Betrachtungen auf den Gedanken kommen, daß sie jenen Orgelmann schon eingeholt hätten?

Dieser Orgelmann war von Fancy bestellt, mit dem Auftrage, sich nicht vor dem richtigen Augenblicke sehen zu lassen, und wir würden ihren Bestimmungen zuwiderhandeln, wenn wir nicht geduldig so lange warten wollten, bis die Zeit da ist.

Was in aller Welt bewog wohl die Wirtin, zu fragen, »ob es nicht wahr wäre?« Wißbegierde? Um Gottes willen, wie konnten Walther und dieser Schiffer, ja sogar Jansen, der eine studierte Person war, mehr von der Sache wissen als sie selber?

Warum fragte sie das? Hatte sie vielleicht deutsche Philosophen gelesen, und wollte sie vielleicht das häßliche Ding »an und für sich« – das man, mit Verlaub, das liebe Ich nennt, der subjektiven Reinenvernunft-Kritik des Haarlemer Schiffers unterbreiten, der gerade seine Pfeife stopfte?

»Bitte, Schifferchen!«

So wahr, sie will ihm den kupfernen Feuerbehälter hinreichen, in dem der Torf glimmt, vor dem Verstäuben geschützt durch einen Deckel von Messing, vor dem Ersticken durch fünf runde Löcher, gerade groß genug, um einem Pfeifenkopf den Zutritt zum Feuer zu gestatten.

Zutritt? Es mochte wohl! Der Schiffer, tugendhaft, reformiert und entrüstet, Vater von sechs verheirateten Kindern, antwortete diesmal nicht. Er holte seine Dose mit Feuerstein und Schwamm heraus, nahm die Ruderpinne unter die Schulter und pinkte sich sein Feuer selber.

War nicht Konsequenz in dem tugendhaften Benehmen des Haarlemer Schiffers?

Sie waren einstweilen doch ein Stück weiter auf der »Haarlemer Fahrt« dahingeglitten. Aber der Orgelmann war noch nicht zu sehen.

Meinst du, daß jemals der Satan sich solch einem Schiffer verführerischer gezeigt haben kann als in dem warmen Behälter glühender Kohlen? Und doch tugendsam? doch konsequent?

Lieber Gott, was soll ich nun zuerst erzählen? Der Schiffer saugt und bläst. Die Wirtin schiebt mit mißmutiger Gebärde den Feuerbehälter, so weit sie irgend reichen kann, von sich und verbirgt ihren Schmerz unter dem Ausruf:

»Nun, Mann, wenn's Euch nicht paßt, dann setzt es nur sieben und einhalb Fuß von Euch ab. Gern oder nicht! Des Menschen Lust ist sein Leben!«

Und den Kopf aus der Thüröffnung steckend, wiederholte sie die gewichtige Frage: »Nicht wahr?«

Jansen und Walther hatten nun zwei Fragen auf einmal zu lösen.

Ja, der Schiffer hatte sein Feuerzeug untergebracht, wo solches gebräuchlich ist. Er dampfte würdevoll und tapfer, und schon hatte er Jansen versichert, daß heute schön Wetter wäre. Aber ich bleibe dabei, daß der Kahn noch keine zehn Minuten gefahren war.

So lange war die Wirtin wütend gewesen. Das kommt einem, der es nie erlebt hat, nicht so sehr schlimm vor, aber man muß bedenken, daß die Art, wie sich das tugendsame Publikum in der Kajütte bei ihrem Eintreten benommen hatte, die Stimmung nicht gebessert hatte. Man kann getrost annehmen, daß ihre Minuten doppelt zählten, und daher kommt es am Ende, daß einige annehmen wollten, daß unsere Reisenden jenen Orgelmann bereits sahen. Nichts ist weniger richtig. Der Mann war an jenem Punkte längst vorbei, als die Frau zum erstenmal fragte, ob es »nicht wahr« wäre. Und jetzt? Nach allem, was sich inzwischen ereignet hat?

Der Orgeldreher, den ich dem Leser vor der Zeit zeige, war ein Franzose.

In dem Augenblick, da die »Wirtin« sich vergebens abmühte, das Herz des Schiffers zum Schmelzen zu bringen, stand unser Orgeldreher und schwatzte in seinem Kauderwelsch an der Sloterdijker Zollschranke, Er versuchte freien Durchzug zu erlangen, aber es glückte nicht.

Seine Frau – sähest du je einen Orgelmann ohne Frau? – und ihre Kinder – wer sah je einen Orgelmann ohne Kinder?– nun, die ganze Familie stand herum und erwartete mit Angst den Erfolg.

Der Zollhüter war unerbittlich und bewies mit politischen Gründen, daß diese veralteten Schuriegeleien, wie die, in der er eine so nützliche Existenz fand, mit der größten Accuratesse gehandhabt werden mußten, weil nur so allmählich der allgemeine Unwille entstehen kann, der dann zu ihrer Abschaffung führt. »Aber ich werde es wohl nicht mehr erleben und meine Kinder auch nicht!« Das war wohlgesprochen und er hätte ganz getrost noch ein paar Geschlechter hinzunehmen können, aber er war bescheiden und wollte sich keine größere Stammvaterschaft anmaßen, als ihm vielleicht zugedacht war. Charaktervoll und mit rührendem Vertrauen auf die Zähigkeit von Mißbräuchen blieb er dabei, sein Recht zur Pflicht zu erheben, und verlangte zwei Deut für die Person.

Die Frau des Orgelmanns war aus Dünkirchen und konnte sich besser verständlich machen. Aber ihre Bitte hatte ebensowenig Erfolg wie der unverstandene, aber doch bestens begriffene Vortrag ihres Gemahls. Was war zu thun? Die armen Wichte waren nun einmal nicht so reich, um die zehn, zwölf Stüber zu erschwingen, die nötig waren, um Haarlem zu erreichen, wo sie mit ihrem Segeltuch ein gutes Geschäft zu machen hofften. Denn sie hatten ein Segeltuch, auf dem eine schöne Geschichte abgebildet stand. Auf ein Paar Stangen gerollt, hatten es die zwei ältesten Kinder getragen, aber jetzt hatten sie es mutlos neben den Schlagbaum niedergelegt. Auch die Orgel war auf den Boden gesetzt worden, und der müde Mann hatte sich darauf gesetzt, nicht ohne Sorge, daß man für das bißchen Ruhe, das er wahrlich sehr nötig hatte, auch noch Zoll fordern würde. Die Frau hatte alles gesagt, was zu sagen war, und der Zollhüter hatte alle Versuchung zu einer Pflichtverletzung abgeschnitten, indem er in sein Häuschen kroch, wo er sein thätiges Leben fortsetzte.

Die Not war groß, also Gottes Hilfe am nächsten.

Nun denkt der Leser, Walther kommt an die Reihe. Gewiß, was waren für ihn zehn Deut, und wenn es selbst zwölf waren! Ich habe die Kinder nicht gezählt und weiß auch nicht, ob die vielen Säuglinge, die noch dabei waren, zur Unterhaltung der Straße beitragen mußten. Aber hätte ich sie auch gezählt und wüßte das alles – wie konnte Walther hier helfen, der noch weit ab war und von der ganzen Sache keine Kenntnis hatte?

Glaube mir, wenn Walther in diesem speciellen Falle Gott mit anderthalb Stübern zu Hilfe gekommen wäre, um fünf, sechs Unglückliche zu retten, ich würde es sagen! Wir sind ja zu Sloterdijk. Walther war nicht da, Gott selbst streckte die Hand aus. Er erweckte einen Helfer in Israel, in Gestalt eines kleinen Bauernjungen, der aus dem Dorfe über den Kanal bemerkte, daß bei der Zollschranke etwas los war und seine Entdeckung zwei, drei anderen mitteilte. Diese trieb der Geist, auch kein Geheimnis daraus zu machen, und alles lief hinaus, über die Brücke, nach dem Schlagbaum: Publikum war da! Was kann der Künstler mehr verlangen?

»Gott sei Dank!« sagte der Mann und gab Befehl, die Pfähle in den Grund zu schlagen, an denen das Segeltuch ausgebreitet und festgeheftet wurde – ach, so bunt!

Ganz Sloterdijk stand erstaunt, und mit Recht. Denn man bekam ja die Geschichte der schönen Genoveva von Brabant zu schauen! Das Tuch war in vier Spalten abgeteilt, und überquer in sieben Reihen.

Daß die Sloterdijker von dem Text nicht viel verstanden, machte in der Wirkung nicht viel aus. Die achtundzwanzig farbigen Bilder schrien zu Herzen und sprachen deutlicher als die beiden »Fahrenden«. Und was man auf den Bildern vielleicht nicht gleich begriff, das erklärte die larmoyante Orgel...

Keiner unter den Zuschauern hatte auf das Nahen der Schuit geachtet.

Ein Wunder war es nicht, denn als sie gerade in Sicht kam, hatte man die Exekution Golos vor, die auf dem dreiundzwanzigsten Felde so deutlich dargestellt war, daß nur wenige keine Gänsehaut davon bekamen, und wer so gefühllos war, hütete sich wohl, es zu sagen. Niemand bedauerte den Bösewicht, und wenn die Slotterdijker Sitz und Stimme im Gericht gehabt hätten, wären die Stückchen, in die er geschnitten wurde, noch viel kleiner ausgefallen. Die chères und die grandes tendresses, die großen Zärtlichkeiten, die Genoveva darauf zu teil wurden, waren auf dem Tuche höchst anziehend dargestellt. Und die Hirschkuh! Gerade als das arme Tier mit dem miracle nouveau, dem neuen Wunder, beschäftigt war, auf dem Grabe Hungers zu sterben, quoi qu'on lui porte, was man ihr auch bringen mochte – zog der Junge mit lautem »Hott!« vorbei, der das Pferd trieb, an dessen Leine das Schiff saß.

Die Leine einer Haarlemer Schuit ist wohl achtzig Klafter lang...


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