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Aber das geisttötende Schildwachestehen war das Schlimmste nicht. Einer viel gefährlicheren Probe wurde Walther gewissenlos ausgesetzt durch den Auftrag, jeden Morgen die Briefe von der Post zu holen, oder lieber, nachzufragen, ob Briefe da waren. Denn drei-, viermal die Woche kam er mit leeren Händen aufs Comptoir. Dann fragte Pompilius, »ob schon wieder nichts wäre?« in einem Tone, als ob Walther dafür könnte. Aber der Auftrag, am Postamt zu warten, war ihm einer der mindest unangenehmen Zweige seiner Pflichten, und das war gerade das Gefährliche.
Die Sorte von Gesellschaft, die er da kennen lernte, habe ich schon angedeutet. Wäre Walther in dieser Lebensperiode nicht so besonders zu allerlei Abweichungen von seinem Wege geneigt gewesen, hätte er gewiß an diesem Umgang keinen Geschmack gefunden. Aber es bestand gerade allerlei Anlaß zu Mißgriffen.
Seit einiger Zeit fühlte er sich seinen ersten Schwärmereien entwachsen. Wäre nun eine Periode angestrengter, ermüdender Thätigkeit seiner Kindheitsperiode gefolgt, dann wäre der Übergang vom Kinde zum Menschen sehr ruhig vor sich gegangen, und wenig oder keine Kraft wäre verloren worden. Darauf waren auch die Ermahnungen Doktor Holsmas, immer seine nächstliegende Pflicht im Auge zu haben, ausgegangen.
Walther mußte genesen von seiner Vorliebe für das Träumerische, das Kontemplative, die Klippe, an der so viele – und nicht die Schlechtesten – zu Grunde gehen, und die sie schließlich da enden läßt, wo sie am allerwenigsten hingehören: bei den Faulenzern. Träume nicht, streck die Hände aus! Er hatte auch das Bedürfnis selbst, was sich aus seiner Freudigkeit beim Packen zeigte. Hätte ich über ihn zu bestimmen gehabt, ich hätte ihn auf ein paar Jahre bei einem Schmied in die Lehre gegeben. Nicht um ihn auf die Grenzen dieses Handwerks zu beschränken – ein Schmied mit Walthers Anlagen konnte sich zu einem Krupp entwickeln – aber um seine Neigung zum Kontemplativen zu bekämpfen und zugleich zu stützen. Mit ermüdeten Gliedern sollte er des Abends auf seinen Strohsack fallen und am nächsten Morgen keine Erinnerung mehr haben, was für Gedanken ihn beschäftigt hätten, nachdem er seine zweite Hose ausgezogen hatte, ja selbst schon nach der ersten! Und gerade um seine Sucht zum Tüfteln zu wecken, wach zu halten und zu nähren, ist nichts geeigneter als eine Handarbeit, die genug Muskelanstrengung verlangt, um in dem Augenblick körperlicher Ermattung der Phantasie ein Halt zuzurufen. Vor diesem Augenblick wirken die geistigen Kräfte regelmäßiger und mit besserem Erfolg, als wenn man sich allein mit Denken zu beschäftigen glaubt.
Glaubt, sage ich, denn es ist wahrscheinlich eine Unmöglichkeit. Wir brauchen, wie die Flamme einer Öllampe, einen Docht, an den unsere Gedanken sich anheften, um den sie sich ranken. Es ist schwer für uns, alle unsere Sinne wegzudenken, durch die wir Eindrücke empfangen. Aber es giebt einen Zustand, in dem das Wahrnehmen der Außenwelt durch die Sinne aufhört: das sind die Augenblicke, die dem Schlaf unmittelbar voraufgehen. Und das Denken beginnt sofort aufs neue, wenn unsere Sinne durch irgend eine äußere Ursache zu erneuter Thätigkeit angeregt werden. Wir geben uns nur nicht Rechenschaft davon.
Wenn einer, nachdem er lange genug geträumt, geschwärmt und phantasiert hat, sich über den Gang seiner Gedanken Rechenschaft geben will, so wird er immer einen materiellen Ausgangspunkt finden. Und auch auf den Lauf der Gedanken üben die äußeren Eindrücke ihren Einfluß. Wir achten bloß nicht darauf. Wir können es aber an anderen sehen, wie selten das Denken ohne sichtbare körperliche Bewegung vorkommt. Der eine scharrt mit dem Fuße, der andere spielt in Bart und Haar, der dritte knifft oder zerfasert Papierchen. Einige ziehen Fäden aus ihrer Kleidung, fegen mit den Fingern Staub zusammen, trommeln auf dem Tisch u. dgl. m. Ich habe die nicht zu billigende Gewohnheit, die Bücher, die ich lese, mit den Fingernägeln zu zerkratzen ...
Es scheint also, daß das Denken im ganz abstrakten Sinne uns ganz unmöglich ist. Der Geist braucht wie die Flamme einen Docht, einen Kern, einen Haltepunkt. Ich weiß also nicht, was das Ziehen eines Blasebalgs in der Schmiede Walther geschadet hätte. Das oder etwas Ähnliches wäre vielleicht die Baßpartie geworden, auf die er die Melodien seiner Seele hätte setzen können, die er jetzt weder sich noch anderen wußte verständlich zu machen. Und so lief er Gefahr ...
Ja gewiß, er machte Bekanntschaft mit den jungen Leuten am Postamt! Sie sollten seine hungrige Seele mit ihrer unreifen Weisheit füttern. Und Walthers Aufnahmefähigkeit war groß. Nicht bloß psychisch litt er Hunger. Auch gesellschaftlich und häuslich war das der Fall. Er brauchte Geselligkeit. Wir wissen, daß diesem Bedürfnis zu Hause nichts gegeben wurde. Und die Herren auf dem Comptoir ...!
Aber die jungen Leute vor dem Postamt übten viel Geselligkeit. Diese Laufjungen betitelten sich Comptoirbedienstete.
Die erste Gelegenheit, Bekanntschaft zu machen, bot sich durch ein Wiedersehen. Walther sah dort Gustav Halleman, seinen Spielkameraden, der zusammen mit seinem Bruder Fränzchen unserem Walther immer als Muster von Anstand gelobt worden war. Sie gingen ja in die französische Schule und hatten vor Jüffrau Pieterse ganz artig die Mütze abgenommen. Freilich, Walther hatte von ihrem Anstande andere Begriffe bekommen, seit sie ihn einmal böse beschummelt hatten mit dem großen Pfefferminzgeschäft ...
Da stand also Gustav. Auch er war »jüngster Bediensteter.«
Walther sprach ihn an und sagte: »Gustav!«
»Ach so ... du bist Pieterse, glaub' ich!«
Walther sah ihn auf diesen »Glauben« erstaunt an. Aber Pieterse war er.
»Na gewiß, Gustav. Kennst du mich nicht mehr?«
»Ich kenne dich ganz gut, muß dir aber gerade heraus sagen, daß ich keine Kindereien mag. Es sieht ja aus, als ob wir Schuljungens wären, so sprichst du!«
Walther verstand nichts davon. Die Sache war die, daß er hätte »Halleman« sagen müssen und nicht »Gustav«! Er lernte das, und bald begann er, auch seinen Familiennamen mannhafter und würdevoller zu finden als das bisherige »Walther.« Er sah bald diesen Gustav für einen großen Mann an, der eine große Auffassung vom Leben hatte. Der Lümmel war ja auch in der That zwei Jahre älter als er, und wohl zwanzig, wie wir sehen werden, an Kenntnis.
Ach, Leser, ich hab' ein ärgerlich Werk zu thun. Fluch über die Elenden, die meinen Walther solcher Bekanntschaft preisgaben!
»Und bei wem bist du auf 'm Comptoir?«
»Bei den Herren Ouwetyd und Kopperlith ... Kaisersgracht, weißt du?«
»Hm! Das ist nun gerade so 'n groß Haus nicht! Ganz und gar nicht! Wir machen in Kaffee. Ihr macht, glaub' ich, auf Smyrna, wie?«
»Das weiß ich noch nicht. Ich bin noch nicht lange da.«
»So? Weißt du's nicht? Na, das ist 'n seltener Vogel!«
Neu angekommene »junge Leute« schlossen sich an. Sie hatten ernsthaft wie wirkliche Menschen gegrüßt: »Morgen, Herren!« Albern und komisch, aber es war so. Und Walther fand das ausgezeichnet. Solche Standeserhöhung hatte er sich im Traume nicht vorgestellt. Ach, er, der sich vor kurzem in seinen Träumen noch vorphantasierte, daß er ein Gott wäre und daß er König ... werden würde, er fühlte sich geschmeichelt, ein Stück »Herr« in den Augen von ein paar Bengeln zu sein, die auf solche Weise auch als Herren gelten wollten.
»Sieh mal, das ist einer! Der weiß nicht, worin sie machen. Wie findet ihr das?«
Die »Herren« fanden das sehr komisch. Und Walther, der für Spott sehr empfindlich war, wurde verlegen.
»Aber,« stotterte er, »du fragtest was von Smyrna, und das hab' ich nicht gleich verstanden. Einer von unseren jungen Herren ist in Rom. Meinst du das vielleicht?«
»Wir machen auf Portugal,« sagte ein dritter.
»Und wir sind auf der Ostsee ... Korn, verstehst du?«
»Wie heißt denn dein Haus?« fragte ein fünfter.
Walther nannte die Firma.
»Na, zum Donnerwetter ...«
Das Sprecherchen fluchte ganz nett. Das that die ganze Bande. Aber es ging ihnen nicht glatt ab. Sie hatten sich ihre männliche Würde noch nicht zur Vollkommenheit angewöhnt.
»Was, Donnerwetter, das ist in Manufakturen. Weißt du das nicht? In Manufakturen, sag' ich dir!«
Und der Sprecher selbst gab an, daß er in »Versicherung« war.
»Guck, da hab' ich Polissen. Das sind alles Polissen, verstehst du?«
Und alle sahen mit Ehrerbietung die Formulare an, die der Laufbursche eben im Schreibwarengeschäft geholt hatte.
»Ja, ja, Polissen,« sagte Gustav, mit einem Nachdruck, als wollte er sagen: »Ich weiß ganz genau, was das für Dinger sind, ich hab' auch drin gemacht.«
»Guck, was für 'n hübsches Mädchen!«
»Pst, pst! komm mal her!«
Das Dienstmädchen, das so höflich angerufen wurde, spuckte auf den Erdboden und machte, daß es fort kam. Das Beste, was sie thun konnte! Sie brauchte nicht die mindeste Keuschheit zu Hilfe zu rufen, um sich moralisch zu zeigen.
»Ist Marie aus der Bäckerei,« sagte das Haus auf Portugal. »Nu!«
»Nu!« sagte der zweite.
»Nu!« wiederholte der Chor.
Walther verstand nichts davon, obwohl er die Gesichtszüge sah, die diese Ausrufe begleiteten. Wahrscheinlich sah er sehr unschuldig ans, denn einer seiner Lehrmeister fragte ihn:
»Bist du auf 'm Comptoir, du?«
»Ja ... in Manufakturen ... wirklich!« antwortete Walther.
»Weißt du, was ich glaube? Ich glaube, du bist ein neugeborenes Kalb. Das glaube ich!«
Und diese Überzeugung wurde begleitet durch einen kernigen Herren-Ausdruck.
»Er ist so unerfahren wie ...« wie das eine oder andere, was nicht unschuldiger zu sein braucht als sonst etwas, wenn es nur recht gemein klingt.
»Sag' mal, du weißt wohl noch nicht, wo die Kinderchen herkommen? Nu ... 's fehlt dir wohl noch allerlei!«
Gott sei Dank, das wußte Walther. Und hätte er es nicht gewußt, hier wäre die Gelegenheit gewesen, es zu erfahren, und zwar auf bestimmte Manier. Auch andere Weisheit war hier zu holen, die wohl für den Lehrling ebensowenig neu war, die aber in Ausdrücken mitgeteilt wurde, die ihm neu waren. Aus großem Männlichkeitsgefühl that er sich sehr eingeweiht. Er gab sich Mühe, so klug wie möglich zu lachen, was schlecht gelang und ihm sehr häßlich stand.
Es war eine lüderliche Bande. Ich mag für den Augenblick nicht ausführlicher sein. »Bücher haben ihre Schicksale« ... aber dies Kapitel hat sein besonderes für sich.
Höre einmal zu, Leser.
Du weißt wohl, daß ich um mein Brot schreibe. Meine Industrie bringt es mit sich, daß ich mich aufs Gefallen lege. Je hübscher die Lektüre ist, desto besser kann mein Verleger mich honorieren. Aus wohlberechnetem Interesse hatte ich mir vorgenommen, die Gespräche, die Walther an der Post zu hören bekam, ja ausführlich zu geben, daß dieser Band der Katechismus werden könnte für alles, was »auf der Ostsee ist,« und für alles, was »in Versicherung, Kaffee oder Stiefelwichse macht,« für alles, was Liebe fühlt für das Gemeine.
Mein Glück wäre gemacht gewesen. Denn es ist nun einmal eine traurige Wahrheit, daß Niederland seine Schriftsteller und Künstler nicht genügend nähren kann, wenn sie nur etwas Gutes liefern, aber sicher ist noch mit Gottes Hilfe Geld genug im Lande, um königlich zu bezahlen für einen pikanten Prickel. Hierauf baute ich und träumte mir schon Berge von vierundzwanzig Karat. Ich handelte schon um eine Villa ... die des Van Twist z. B. Der edle Mann wollte seinen Sitz bei Deventer billig abgeben, weil es so häßlich da spukt ... Saidjah und Adinda ...
Ehe aber die Sache noch fertig war, wurde ich überrascht und gestört durch eine Erscheinung – keinen Spuk – meine liebe herrliche Fancy, meine Muse, die mich mit einem Mal unfähig machte zu allem Schlechten, machtlos, das Gemeine zu zeichnen und den Landsitz zu beziehen, den der Van Twist mit seinen »kleinen indischen Ersparnissen« bezahlt hat.
Da flammt und funkelt ein heiliges Gefühl durch mein Herz. Was es ist, Leser, will ich verschweigen. Laß dir genügen mit der Mitteilung, daß es mir unmöglich ist, dies Kapitel so zu schreiben, wie es nötig wäre, um durch dich und deine Lesergenossen reich zu werden. Mein Verleger muß sich also mit kleinerem Umsatz trösten, und ich mit einer Entlohnung, für die ausländische Schriftsteller von meinem Range schwerlich einen Lakaien finden würden. Van Twist mag seinen Ruhesitz behalten und sein Gewissen dazu. Wie arm würde der Mann sich fühlen, könnte er in meinem Herzen lesen!
Aber das bleibt die Wahrheit, daß ihr Niederländer schlecht bezahlt, was ihr schuldig seid. Es entschuldigt eure Schelmerei nicht, daß ich mich durch anderen Lohn schadlos halte. O, ich klage nicht. Aber wohl ist es schade, daß ich mir nicht hin und wieder einen Augenblick Ruhe verschaffen kann. Lieber Himmel, das gestattet sich ja sogar der Rhein. Und ich? Vorwärts, vorwärts!
Meister, ich will!
Was Walther betrifft, – er wurde durch das Postamt verdorben, so weit er verdorben werden konnte. Das bleibt – mit oder ohne ausführliche Beschreibung – traurig genug.