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Als Georg aufwachte, war es Nacht. Er befand sich in einem Zimmer, das ihm bekannt schien. Er nahm die Lampe, welche vor ihm auf dem Tische stand, leuchtete umher, und bemerkte zu seinem Erstaunen, daß er sich immer noch in der Wohnung seiner Aeltern befand; dessen ungeachtet aber prangte dennoch der räthselhafte Ring mit dem leuchtenden Steine an seiner Hand. Schmerzlich drückte er ihn an seine Lippen.
Auf das Geräusch, welches er verursachte, kam der alte Hausknecht, ganz schwarz gekleidet, mit traurigem Gesichte herein. Wo sind meine Aeltern? rief Georg hastig.
Gott sei gedankt, daß ihr, junger Herr, doch wieder aufgewacht seid! versetzte der Diener. Wie ist in so kurzer Zeit so viel Herzeleid hier eingezogen! Ihr habt also während eurer Fieberphantasien nicht bemerkt, wie Vater und Mutter vorgestern begraben worden sind? So ein plötzlicher Tod ist doch ganz was Unerhörtes!
Meine Aeltern todt? rief Georg erschrocken.
Eine ganz besondere Schlafsucht, erzählte der Diener, war vor drei Tagen des Nachts noch vor dem Bettgehen über uns Alle gekommen; so daß wir erst am anderen Mittage vom Blöken des hungernden Viehes im Stalle aufwachten, eure Aeltern aber todt, und euch schlafend fanden. Im ganzen Hause war ein erstickender Dampf, welcher sich nach und nach verzog, zu vermerken. Wir vermochten euch vom Schlafe nicht zu erwecken; und so lagt ihr diese ganze Zeit über, wie in lebhaften Träumen; denn euer Mund verzog sich immer zum Lächeln. Es war rührend anzusehen! Nun seid ihr gerettet! –
Georg war außer sich. Ohne ein Wort zu sprechen, ging er von der jammernden Dienerschaft des Hauses umringt, händeringend durch alle Gemächer.
Eine unnennbare, quälende Empfindung des Verwaistseins marterte seine Seele.
Mehrere Wochen lang irrte er, ohne einen Entschluß gewinnen zu können, umher. Fast jeden Abend ging er hinauf zu dem Kirchhofe, um bei den Gräbern der Lieben seinem Leide und Grame nachzuhängen.
Ob er Wahres überall erlebt, oder nur geträumt? oder ob eine himmlische Gewalt, welche allen Liebreiz in sich begreife, ihm den wunderbaren Goldreif wahrhaftig gegeben, oder ob nur sonst ein Zufall, dessen er sich freilich nicht mehr erinnern konnte, ihn an seine Hand gebracht habe? Dieses waren seine Zweifel, welche zu lösen er sich dennoch immer unwillkürlich bestrebte.
Aber der Name Aquilina klang zu deutlich noch in seiner ganzen Seele wieder, als daß er nicht an die Wirklichkeit ihres Daseins, und der Wahrheit seiner Liebe, welche er für sie fühlte, allzugern hätte glauben sollen.
Zugleich aber wurde er immer mehr sich bewußt, wie ihm die Natur alles Daseienden heller erschlossen war, als sonst; wie allgewaltige Ahnungen urewiger Wahrheit in ihm sich deutlicher, als je, emporgehoben hatten; wie endlich so Vieles, nach dessen Erkenntniß er früher so oft vergebens gerungen hatte, sich ihm verdeutlichte; ja! er fand, daß ihm selbst das Verständniß von allerlei Sprachen zu Gebote stand.
Dieses Alles erwägend, mußte sich Georg überzeugt halten, daß kein Wahn, kein Traum, sondern eine Wahrheit der Inhalt seines letztverwichenen, unerklärlichen Geschickes gewesen sei.
In dieser Stimmung beschloß er, sich der Vollmacht, welche ihm auf die ganze Welt ausgestellt war, zu bedienen; und auf langer Reise die Kraft seiner Seele an den Erfahrungen eines vielbewegten Lebens zu erproben und zu stählen.
Mit diesem Entschlusse brachte er sein Hauswesen in Ordnung, und übergab dem alten Diener, dessen Treue und Rechtschaffenheit sich stets bewährt hatte, die Verwaltung des väterlichen Erbguts; nahm die vorgefundene Baarschaft zu sich, packte ein, und nahm von seiner Heimath Abschied, sich der Leitung des Schicksals überlassend. Nach Italien und Griechenland, den Ländern und Zeugen herrlichster Thaten, zog ihn eine langgenährte Sehnsucht.
Längst des Rheinstromes, seines alten Wiegenliedsängers, zog er hinauf über den Bodensee, über Chur, bis zur Spitze des St. Bernhardin.
Wie so herrlich vor allen Strömen mit durchsichtiger Grüne prangte des Rheines klares Gewässer unter den Muschelhorngletschern durch den hochstämmigen Föhrenwald aus dem Schooße des Valrheins vor dem Wandrer heraus, wie ein Mägdlein, das zum Tanze eilt auf die blumige Matte.
Während Georg in wonnigen Schauern entzückt hier stand, sah er einen Wanderer den steilen Bergpfad heraufklimmen. Mit kräftigen Schritten kam er näher einher.
Es war ein starker, hochgewachsener Jüngling im einfachen Rocke. Unter seinem runden Hute, welcher tief auf die Stirne hineingedrückt war, schaute ein leidendes Gesicht, welches in seiner kränklichen Bleiche wenig dem rüstigen Wuchse der Gestalt angemessen schien, mit dunkelbraunen geistreichen Augen hervor.
Mit treuherzigem Gruße gesellte er sich zu Georg. Sein offenes und zugleich schwermüthiges Gesicht, eine anziehende Unterhaltung, welche sich bald zwischen ihnen angesponnen hatte, und worinnen der Fremde einen seltenen und gebildeten Geist verrieth, gewann ihm in kurzer Zeit Georgs besondere Zuneigung.
Er war ein deutscher Kaufmannssohn, welcher theils zur eigenen Erholung, theils auch in Geschäften seines Vaters, eine Reise durch die Schweiz machte.
Indem die beiden Jünglinge hinüber starrten zu den hohen Felszinnen, und bei dem Gebrause ferner Giesbäche und des Rheinstroms vor ihnen, in verschiedene Betrachtungen versunken waren, sagte endlich Heinrich, so hieß der Vorname dieses Reisenden, zu Georg gewendet: in diesen wilden Zerklüftungen der Felsenwände, und bei den von Grund aus bis zum Scheitel gespaltenen Granitsäulen sieht man deutlich, wie der alte Urgeist einst stritt um die Herrschaft mit der Riesengewalt der Materie! Welch ein ungeheurer Kampf muß es gewesen sein, bevor das Geistige dem Stoffe unterlag, so daß es nur noch in fortwechselnden Gestalten hervorträumen, und um die ewig verlorene Freiheit klagen kann! – Steht nicht hier das ganze Alpenland, wie ein Triumphbogen der sinnlichen Welt; und die Matten von allen Seiten mit ihren Blumen, Bäumen, Sträuchern und allerlei Geschöpfen, wie ein langes Klagelied in Hieroglyphenschrift? –
Nicht solche finstere Gedanken, versetzte Georg in dieser frischen, freudigen, freien Gebirgswelt! Diese rauschenden Bäche, welche in Chrysoprasfunken aus den Herzen der Berge lustig springen und sprühen, diese smaragdgrünen Matten, und diese diamantnen Kronen der Gletscher, erfüllen meine Seele mit heimlicher Sehnsucht, und kindlich gerührt suchet mein Auge nach der Ferne hin das unermeßliche Heil, dessen Ahnung wir ja Alle in uns tragen!
Mit solchen Worten, mit solchen Gedanken verbrüderten sich nach und nach die Jünglinge; und bald fühlten sie, wie ein besonderes Geschick sie auf dem St. Bernhardin zusammengeführt habe, um sich auf ewig Freunde zu sein.
Sie beschlossen mit einander hinunter zu steigen zu den paradiesischen Gärten und Seen Italiens.
Rüstig wanderten sie nun zusammen, eines Sinnes, eines Herzens, einer Begeisterung, durch die üppigen Thäler der südlichen Schweiz hinab in das Ulmen- und Rebenland.